150 I 1
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Urteilskopf

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1. Auszug aus dem Urteil der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Erben des A.A. sel. gegen Kommission für Grundsteuern der Stadt Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_335/2023 vom 26. Oktober 2023

Regeste

Art. 9 und 127 Abs. 1 BV; Vertrauensschutz; besondere Bedeutung des Legalitätsprinzips im Steuerrecht.
Anders als in anderen Rechtsgebieten steht der Schutz des Vertrauens in eine behördliche Auskunft im Steuerrecht nicht unter der Voraussetzung einer zusätzlichen Interessenabwägung (E. 4.1-4.3). Die besondere Bedeutung des Legalitätsprinzips im Steuerrecht ist auf diejenigen Tatbestände und Tatbestandselemente beschränkt, die sich zum Nachteil der Bürgerinnen und Bürger auswirken. Sind die Voraussetzungen des Vertrauensschutzes erfüllt, geht er im Steuerrecht dem Legalitätsprinzip vor (Praxispräzisierung; E. 4.4).

Erwägungen ab Seite 2

BGE 150 I 1 S. 2
Aus den Erwägungen:

4. (...)

4.1 Der Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 und Art. 9 BV) verleiht Rechtsuchenden unter gewissen Umständen Anspruch auf Schutz ihres Vertrauens auf die Richtigkeit behördlichen Handelns. Dieser Anspruch hindert die Behörden, von ihrem früheren Handeln abzuweichen, auch wenn sie dieses zu einem späteren Zeitpunkt als unrichtig erkennen. Potenzielle Vertrauensgrundlage sind dabei alleine jene behördlichen Handlungen, die sich auf eine konkrete, den Rechtsuchenden berührende Angelegenheit beziehen und von einer Behörde ausgehen, die für die betreffende Handlung zuständig ist oder die der Rechtsuchende aus zureichenden Gründen für zuständig hält. Individuelle Auskünfte und Zusicherungen sind demnach typische Beispiele für Verwaltungsakte, die beim Bürger Vertrauen wecken können. Das Vertrauen ist allerdings nur schutzwürdig, wenn der Rechtsuchende die Unrichtigkeit der Auskunft nicht ohne Weiteres erkennen konnte und er im Vertrauen auf die Auskunft Dispositionen getroffen hat, die er nicht ohne Nachteil rückgängig machen kann. Der Anspruch auf Vertrauensschutz entfällt, wenn die gesetzliche Ordnung zwischen dem Zeitpunkt der Auskunft und der Verwirklichung des Sachverhalts geändert hat (BGE 148 II 233 E. 5.5.1; BGE 146 I 105 E. 5.1.1; BGE 143 V 341 E. 5.2.1; BGE 141 I 161 E. 3.1).

4.2 Unter Berufung auf ein nicht publiziertes Urteil des Bundesgerichts (Urteil 2C_199/2017 vom 12. Juni 2018 E. 3.4) hat die Vorinstanz erwogen, dass der Schutz des Vertrauens zusätzlich zu den genannten Voraussetzungen davon abhänge, dass das
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Vertrauensschutzinteresse nicht vom öffentlichen Interesse an der richtigen Durchsetzung des objektiven Rechts überwogen werde. Auch das Steueramt der Stadt Zürich scheint dieser Auffassung zu sein. Nach der jüngeren publizierten steuerrechtlichen Praxis des Bundesgerichts steht der Schutz berechtigten Vertrauens in eine steuerrechtliche Auskunft jedoch nicht unter der Voraussetzung einer zusätzlichen Interessenabwägung (vgl. insbesondere BGE 148 II 233 E. 5.5.1; BGE 146 I 105 E. 5.1.1; BGE 141 I 161 E. 3.1). Dies ist in der Literatur begrüsst worden (BETSCHART/OESTERHELT, Vertrauen im Steuerrecht, Expert Focus 2021 S. 616; IMSTEPF/CLAVADETSCHER, Bindungswirkung von Rulings im Mehrwertsteuerrecht, ASA 89 S. 198).

4.3 An dieser jüngeren publizierten Rechtsprechung ist festzuhalten. Wenn die Voraussetzungen des Vertrauensschutzes erfüllt waren, hat das Bundesgericht bislang nur dann eine zusätzliche Interessenabwägung vorgenommen, wenn gewichtige öffentliche (v.a. polizeiliche) Interessen auf dem Spiel standen (vgl. BGE 114 Ia 209 E. 3c; BGE 101 Ia 328 E. 6c; Urteile 1C_400/2016 vom 24. März 2017 E. 2.2; 1P.373/2006 vom 18. Oktober 2006 E. 2.3.1; je mit Hinweisen). Fiskalische Interessen bzw. das Interesse an staatlicher Mittelbeschaffung sind nur sehr beschränkt hinreichende Motive für die Einschränkung (individueller) Grundrechte (BGE 138 I 378 E. 8.6.1; BGE 118 Ia 410 E. 4a; BGE 106 Ia 94 E. 3a). Das muss auch für Beschränkungen des Vertrauensschutzes gelten, zumal Art. 9 BV ein Grundrecht garantiert (BGE 147 IV 274 E. 1.10.1; BGE 146 IV 297 E. 2.2.6). Hinzu kommt, dass das Bundesgericht in anderen Rechtsgebieten rechtsuchende Personen, deren berechtigtes Vertrauen wegen überwiegender öffentlicher Interessen enttäuscht wird, auf finanzielle Entschädigungsansprüche gegen das Gemeinwesen verweisen kann (vgl. BGE 101 Ia 328 E. 6c; Urteile 1C_400/2016 vom 24. März 2017 E. 2.2; 2C_597/2013 vom 28. Oktober 2013 E. 5.1; 2C_502/2013 vom 30. September 2013 E. 2.1; 1P.373/2006 vom 18. Oktober 2006 E. 2.3.1; je mit Hinweisen). Im Steuerrecht ergäbe es dagegen regelmässig nur wenig Sinn, enttäuschtes Vertrauen finanziell zu entschädigen, würde so doch bloss ein finanzieller Anspruch (auf Reduktion der Steuerschuld) gegen einen anderen finanziellen Anspruch (auf Entschädigung) ausgetauscht.

4.4 Auch die gesteigerte Bedeutung des Legalitätsprinzips im Steuerrecht, auf die das Bundesgericht im Kontext des Vertrauensschutzes regelmässig hinweist (vgl. etwa BGE 142 II 182 E. 2.2.2; BGE 131 II 627 E. 6.1; BGE 118 Ib 312 E. 3b; Urteile 2C_461/2021 vom 19. Januar
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2022 E. 5.1, in: StE 2022 A 21.14 Nr. 29, StR 77/2022 S. 254; 2C_398/2020 vom 5. Februar 2021 E. 6.1), ruft entgegen den Ausführungen des Steueramts nicht nach einer zusätzlichen Interessenabwägung.

4.4.1 Die besondere Bedeutung des Legalitätsprinzips im Steuerrecht rührt daher, dass es "zum Wesen des modernen Rechtsstaats gehört" (BGE 33 I 388 E. 2; vgl. ausserdem BGE 82 I 21 E. 3a; 48 I 65 E. 4), nur auf einer formellgesetzlichen - d.h. demokratisch abgestützten - Grundlage in das Vermögen der Bürger einzugreifen und von ihnen Steuern zu erheben ("no taxation without representation"; vgl. ERNST BLUMENSTEIN, Die Auslegung der Steuergesetze [...], ASA 8 S. 164; PETER HONGLER, in: Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 4. Aufl. 2023, N. 9 zu Art. 127 BV; KATHRIN KLETT, Der Gleichheitssatz im Steuerrecht, ZSR 111/1992 II S. 35; PETER LOCHER, Legalitätsprinzip im Steuerrecht, ASA 60 S. 4). Im Unterschied zu den meisten anderen Rechtsgebieten hat das Legalitätsprinzip im Steuerrecht den Status eines verfassungsmässigen Rechts, das den Einzelnen davor schützt, dass ihn die Verwaltung ohne formellgesetzliche Grundlage steuerlich belastet (vgl. bereits BGE 65 I 290 E. 5 sowie jüngst BGE 148 II 121 E. 5.1; BGE 147 I 16 E. 3.4.2; BGE 143 I 227 E. 4.2).

4.4.2 Das Legalitätsprinzip gilt auch für Erleichterungen von der Steuerpflicht in Form von Befreiungen und Ausnahmen (vgl. BGE 146 II 97 E. 2.2.4; BGE 144 II 454 E. 3.4; BGE 122 I 305 E. 6b/dd; BGE 103 Ia 242 E. 2a; anders noch BGE 65 I 290 E. 5) sowie seit 1977 ganz generell im Bereich der Leistungsverwaltung (Fall Wäffler: BGE 103 Ia 369 E. 5; zur Rechtslage vor 1977 vgl. BGE 103 Ia 369 E. 3b; BGE 100 Ia 189 E. 4a; BGE 82 I 21 E. 3a; 65 I 290 E. 5; vgl. zur Subsumtion der Steuervergünstigungen unter die Leistungsverwaltung LOCHER, a.a.O., S. 13 f. mit Hinweis auf Art. 7 lit. g des Bundesgesetzes vom 5. Oktober 1990 über Finanzhilfen und Abgeltungen [SuG; SR 616.1]). Die Rechtsprechung stellt im Bereich der Leistungsverwaltung jedoch geringere Anforderungen an die gesetzliche Grundlage als in der Eingriffsverwaltung (BGE 141 V 688 E. 4.2.2; BGE 138 I 378 E. 7.2). Dies gilt auch für Steuererleichterungen: Im Unterschied zu steuerlichen Benachteiligungen einzelner Personen oder Gruppen, deren wesentlichen Elemente (Kreis der Steuerpflichtigen, Steuerobjekt, Bemessung; Art. 127 Abs. 1 BV) aufgrund der besonderen Bedeutung des Legalitätsprinzips im Steuerrecht zwingend im formellen Gesetz geregelt sein müssen, kann die Verwaltung
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ausnahmsweise von der geltenden gesetzlichen Regelung abweichen und Steuererleichterungen gewähren (insb. mittels eines verwaltungsrechtlichen Vertrags: vgl. etwa BGE 147 II 454 E. 3.3 zu Art. 23 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden [StHG; SR 642.14]), wenn das Gesetz die Verwaltung dazu ausdrücklich oder konkludent autorisiert (vgl. BGE 147 II 454 E. 3.3 zu Art. 23 Abs. 3 StHG; BGE 103 Ia 31 E. 2b) und zudem ein sachlicher Grund die Privilegierung der betroffenen Person im Vergleich zur Allgemeinheit rechtfertigt (Art. 8 Abs. 1 und Art. 127 Abs. 2 BV; vgl. DANIELLE YERSIN, L'égalité de traitement en droit fiscal, ZSR 111/1992 II S. 229). Wenn die Verwaltung abgesehen hiervon weder auf tieferer Normstufe noch im Einzelfall zugunsten der Steuerpflichtigen (ebenso wenig wie zu ihren Lasten) vom demokratisch verabschiedeten Gesetz abweichen darf, ist dies nicht etwa Ausdruck der besonderen Bedeutung des Legalitätsprinzips im Steuerrecht, sondern - gleich wie im übrigen Verwaltungsrecht - bloss die logische Folge des Vorrangs des Gesetzes und der Gewaltenteilung (vgl. dazu BGE 141 V 688 E. 4.2.1).

4.4.3 Aus den vorstehenden Erwägungen erhellt, dass die besondere Bedeutung des Legalitätsprinzips im Steuerrecht auf diejenigen Tatbestände und Tatbestandselemente beschränkt ist, die sich zum Nachteil der Bürgerinnen und Bürger auswirken. Entgegen den Ausführungen des Steueramts kann aus der besonderen Bedeutung des Legalitätsprinzips im Steuerrecht also kein öffentliches Interesse an der Durchsetzung des objektiven Rechts abgeleitet werden, das ein berechtigtes Vertrauen auf eine günstigere steuerliche Behandlung durchbrechen könnte. Wenn das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung mit variierenden Formulierungen wiederholt einen Vorrang des Legalitätsprinzips vor dem Vertrauensschutzprinzip respektive dem Grundsatz von Treu und Glauben im Steuerrecht ausgemacht hat (vgl. etwa BGE 142 II 182 E. 2.2.2; BGE 131 II 627 E. 6.1; BGE 118 Ib 312 E. 3b; BGE 101 Ia 92 E. 3), war damit nur gemeint, dass aufgrund der für das Steuerrecht typischen Regelungsdichte und seiner Natur als Massenfallrecht tendenziell weniger Raum bleibt für vertrauensbegründendes Verhalten der Behörden als in anderen Gebieten des Verwaltungsrechts (vgl. etwa BGE 148 II 233 E. 5.5.2, wonach es noch kein schützenswertes Vertrauen begründet, wenn eine Steuerbehörde eine Gestaltung im Rahmen einer Kontrolle nicht beanstandet, ohne dabei der steuerpflichtigen Person konkrete Aussagen oder
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Zusicherungen betreffend die künftige steuerliche Behandlung der Gestaltung zu machen). Wenn aber feststeht, dass die Steuerbehörde effektiv eine Auskunft erteilt hat, ist sie daran gebunden, sobald die Voraussetzungen des Vertrauensschutzes erfüllt sind. In einem echten Konflikt, d.h. wenn die praxisgemässen Voraussetzungen des Vertrauensschutzes erfüllt sind und insbesondere die Auskunft der Steuerbehörde nicht offensichtlich unrichtig ist, geht also auch im Steuerrecht das Vertrauensschutzprinzip dem Legalitätsprinzip vor und nicht umgekehrt (vgl. instruktiv BGE 101 Ia 92 E. 3a ff.). Die insoweit teilweise ungenauen Formulierungen in früheren Urteilen (vgl. insbesondere BGE 142 II 182 E. 2.2.2; BGE 131 II 627 E. 6.1; BGE 118 Ib 312 E. 3b) sind in diesem Sinne zu präzisieren.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Erwägungen 4

Referenzen

BGE: 148 II 233, 142 II 182, 131 II 627, 118 IB 312 mehr...

Artikel: Art. 9 und 127 Abs. 1 BV, Art. 5 Abs. 3 und Art. 9 BV, ; 48 I 65, Art. 127 BV mehr...