150 V 7
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Urteilskopf

150 V 7


2. Auszug aus dem Urteil der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Sozialversicherungsamt Schaffhausen, AHV- Ausgleichskasse (Beschwerde in öffentlich- rechtlichen Angelegenheiten)
9C_482/2022 vom 31. Januar 2024

Regeste

Art. 10 Abs. 3 lit. c ELG; Art. 14a Abs. 2 ELV; Berücksichtigung des AHV/ IV/EO-Mindestbeitrags für Nichterwerbstätige bei Teilinvaliden mit Anrechnung eines hypothetischen Erwerbseinkommens als anerkannte Ausgabe.
Der einer teilinvaliden, nichterwerbstätigen Person im fraglichen Kalenderjahr in Rechnung gestellte AHV/IV/EO-Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige, der von ihr rechtzeitig geleistet wurde und damit nicht mehr zur Bestreitung des Lebensunterhaltes zur Verfügung stand, stellt eine anerkannte Ausgabe im Sinne von Art. 10 Abs. 3 lit. c ELG dar. Ihm ist bei der Ermittlung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen für das betreffende Kalenderjahr Rechnung zu tragen (E. 2 und 3).

Sachverhalt ab Seite 8

BGE 150 V 7 S. 8

A. Die 1963 geborene A. bezieht seit dem 1. November 2013 bei einem Invaliditätsgrad von 63 % eine Dreiviertelsrente der Eidgenössischen Invalidenversicherung (IV). Nach Wohnsitznahme im Kanton Schaffhausen im Sommer 2019 meldete sie sich im Januar 2021 beim Sozialversicherungsamt Schaffhausen, AHV-Ausgleichskasse (nachfolgend: Ausgleichskasse), zum Bezug von Ergänzungsleistungen an. Mit Verfügung vom 4. Juni 2021 sprach die Ausgleichskasse der Versicherten unter Anrechnung eines hypothetischen Einkommens bei Teilinvaliden ab dem 1. Januar 2021 Ergänzungsleistungen in der Höhe von monatlich Fr. 672.- sowie eine Prämienvergütung der Krankenversicherung von Fr. 441.70 zu. Hiergegen erhob die Versicherte Einsprache. Mit Einspracheentscheid vom 22. September 2021 wurde die Verfügung vom 4. Juni 2021 in teilweiser Gutheissung der Einsprache aufgehoben. Für die Zeit ab dem 1. August 2021 wurde auf die Anrechnung eines hypothetischen Einkommens verzichtet. Vom 1. Januar bis 31. Juli 2021 wurde der Versicherten dagegen weiterhin ein hypothetisches Erwerbseinkommen angerechnet. Während ab dem 1. August 2021 der AHV/IV/ EO-Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige als Ausgabe berücksichtigt wurde, wurde dies für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Juli 2021 verneint.

B. Die gegen den Einspracheentscheid vom 22. September 2021 erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen mit Entscheid vom 13. September 2022 ab.

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A. beantragen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der
BGE 150 V 7 S. 9
Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige an die AHV/IV und EO sei auch für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Juli 2021 als Ausgabe anzuerkennen. Weiter wird die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege beantragt.
Der Beschwerdegegner beantragt unter Verzicht auf Weiterungen die Abweisung der Beschwerde. Auch die Vorinstanz und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) ersuchen um Abweisung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Streitig und zu prüfen ist, ob Bundesrecht verletzt wurde, indem das kantonale Gericht es abgelehnt hat, für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Juli 2021 den seitens der Beschwerdeführerin entrichteten AHV/IV/EO-Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige als anerkannte Ausgabe in die Berechnung der Ergänzungsleistungen mit einzubeziehen.

2.2 Am 1. Januar 2021 trat das revidierte ELG in Kraft (EL-Reform; Änderung vom 22. März 2019, AS 2020 585; BBl 2016 7465). Nach den allgemeinen intertemporalrechtlichen Grundsätzen (vgl. BGE 147 V 278 E. 2.1; BGE 144 V 210 E. 4.3.1) sind hier in erster Linie die Bestimmungen des ELG (SR 831.30) in der ab Anfang 2021 geltenden Fassung anwendbar. Soweit nicht anders vermerkt werden sie im Folgenden jeweils in dieser Version wiedergegeben, zitiert und angewendet.

2.3

2.3.1 Die jährliche Ergänzungsleistung entspricht dem Betrag, um den die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen (Art. 9 Abs. 1 Satz 1 ELG). Der Bundesrat bestimmt die Anrechnung von Einkünften aus einer zumutbaren Erwerbstätigkeit bei teilinvaliden Personen und bei Witwen ohne minderjährige Kinder (Art. 9 Abs. 5 lit. c ELG).

2.3.2 Invaliden wird als Erwerbseinkommen grundsätzlich der Betrag angerechnet, den sie im massgebenden Zeitabschnitt tatsächlich verdient haben (Art. 14a Abs. 1 ELV [SR 831.301]). Invaliden unter 60 Jahren ist als Erwerbseinkommen bei einem Invaliditätsgrad von 60 bis unter 70 Prozent gemäss Art. 14a Abs. 2 lit. c ELV jedoch mindestens zwei Drittel des Höchstbetrags für den Lebensbedarf
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von Alleinstehenden nach Art. 10 Abs. 1 lit. a Ziff. 1 ELG anzurechnen. Dieser belief sich im vorliegend massgebenden Jahr 2021 auf Fr. 19'610.-.

2.3.3 Als anerkannte Ausgaben gelten gemäss Art. 10 Abs. 3 lit. c ELG bei allen Personen unter anderem die Beiträge an die Sozialversicherungen des Bundes unter Ausschluss der Prämien für die Krankenversicherung. Dabei handelt es sich um zwingendes Bundesrecht (CARIGIET/KOCH, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, 3. Aufl. 2021, Rz. 467).

3.

3.1 Das kantonale Gericht hat betreffend den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Juli 2021 erwogen, die Beschwerdeführerin sei 2021 58 Jahre alt geworden und beziehe eine Dreiviertelsrente der IV bei einem Invaliditätsgrad von 63 %. Die Anrechnung eines hypothetischen Erwerbseinkommens an sich und dessen Berechnung durch die Ausgleichskasse seien unbestritten geblieben. Ob es sich beim hypothetischen Einkommen gemäss Art. 14a Abs. 2 ELV um ein Brutto- oder Nettoerwerbseinkommen handle, lasse sich der Bestimmung nicht entnehmen. Die Wegleitung des BSV über die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV (WEL) spreche von einem Nettoeinkommen (Rz. 3424.02; gültig ab 1. April 2011; Stand 1. Januar 2021). Diese Auffassung werde in der Literatur geteilt und damit begründet, dass es unsinnig wäre, von den pauschalisierten hypothetischen Erwerbseinkommen unter anderem noch hypothetische Sozialversicherungsbeiträge abzuziehen. Diese Betrachtungsweise überzeuge. Handle es sich somit beim Mindesterwerbseinkommen gemäss Art. 14a ELV um ein (hypothetisches) Nettoeinkommen, bedeute dies, dass die Sozialversicherungsbeiträge bereits in Abzug gebracht worden seien. Eine zusätzliche Anrechnung der effektiv bezahlten Sozialversicherungsbeiträge als Ausgabe würde demnach zu einer unzulässigen Doppelberücksichtigung führen. Die Verwaltung habe daher für die Zeit, in welcher sie der Beschwerdeführerin ein hypothetisches Einkommen angerechnet habe, zu Recht keine Sozialversicherungsbeiträge als Ausgabenposition berücksichtigt.

3.2

3.2.1 Das Bundesgericht beschäftigte sich in der Vergangenheit wiederholt mit der Frage, ob bei der Anrechnung eines hypothetischen Einkommens hypothetisch zu leistende Beiträge in Abzug zu bringen sind. Konkret ging es um Beiträge von nichtinvaliden, nichterwerbstätigen Ehegatten der EL-Ansprecher an die berufliche
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Vorsorge und die obligatorische (Nichtberufs-)Unfallversicherung. Deren Berücksichtigung wurde mit der Begründung verneint, dass Bestand und Höhe nicht eruierbar seien (vgl. Urteile 9C_255/2023 vom 8. Juni 2023 E. 5.5.2 mit Hinweis; 9C_653/2018 vom 26. Juli 2019 E. 6.2 f., in: SVR 2019 EL Nr. 15 S. 37; P 35/06 vom 9. Oktober 2007 E. 5.2.3).

3.2.2 Davon zu unterscheiden ist jedoch die vorliegende Konstellation, in welcher es um Sozialversicherungsbeiträge geht, welche die Beschwerdeführerin effektiv zu leisten hatte und die ihr daher zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes nicht mehr zur Verfügung standen. Mit Blick auf das unter E. 2.3 hiervor Dargelegte sind Beiträge an die Sozialversicherungen des Bundes bei allen Personen - damit auch bei Teilinvaliden, denen ein hypothetisches Einkommen anzurechnen ist - als Ausgaben anzuerkennen (Art. 10 Abs. 3 lit. c ELG). Eine präzisierende Einschränkung besteht dort, wo obligatorische Sozialversicherungsbeiträge bereits im Rahmen der Ermittlung des jährlichen Erwerbseinkommens berücksichtigt werden, so gemäss Art. 11a ELV bei Erwerbstätigen.
Entgegen der Ansicht des kantonalen Gerichts geht es daher nicht an, den von der Beschwerdeführerin effektiv geleisteten AHV/IV/ EO-Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen gänzlich ausser Acht zu lassen. Hierauf läuft die Beurteilung der Vorinstanz jedoch - wie zu Recht gerügt - hinaus, indem unter Bezugnahme darauf, dass es sich beim hypothetischen Einkommen nach Art. 14a Abs. 2 ELV um ein "Nettoeinkommen" handle, eine Berücksichtigung abgelehnt wird. Ein "Nettobetrag" (vgl. CARIGIET/KOCH, a.a.O., Rz. 538) kann jedoch einzig in der Hinsicht angenommen werden, als dass die obligatorischen Sozialversicherungsbeiträge bei der Ermittlung des Einkommens nach Art. 14a Abs. 2 ELV - im Gegensatz zur Berechnung bei Erwerbstätigen (siehe vorne) - nicht abzuziehen sind. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Art. 10 Abs. 3 lit. c ELG anwendbar bleibt (vgl. Urteile 9C_160/2018 vom 9. August 2018 E. 4.2, in: SVR 2018 EL Nr. 19 S. 49; P 35/06 vom 9. Oktober 2007 E. 3-6; P 61/88 vom 10. Juli 1989 E. 5; siehe auch ZAK 1987 S. 544 ff.). In administrativer Hinsicht hat dies keinen erheblichen Zusatzaufwand zur Folge. Anstatt von einem "Nettobetrag" respektive "Nettoeinkommen" ist es daher - wie das BSV zu Recht vorbringt - angezeigt, bei den Einkommen nach Art. 14a Abs. 2 ELV von "Pauschalbeträgen" zu sprechen. Dies jedoch lediglich im dargelegten Sinne. Die Gesetzeslage lässt keine andere Würdigung zu.
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Soweit die WEL anders als soeben dargelegt interpretiert werden muss, verstösst sie gegen zwingendes Bundesrecht (E. 2.3.3 hiervor) und ist daher nicht anwendbar (vgl. BGE 133 V 450 E. 2.2.4 mit Hinweis).

3.2.3 Die vorinstanzlichen Erwägungen verletzen Recht. In Nachachtung von Art. 107 Abs. 1 BGG ist für den Zeitraum vom 1. Januar und bis zum 31. Juli 2021 dem von der Beschwerdeführerin geleisteten AHV/IV/EO-Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige bei der Berechnung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen als anerkannte Ausgabe im Sinne von Art. 10 Abs. 3 lit. c ELG Rechnung zu tragen, sofern dieser 2021 in Rechnung gestellt und rechtzeitig geleistet worden ist (JÖHL/USINGER-EGGER, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, Rz. 106). Die Sache ist an den Beschwerdegegner zur diesbezüglichen Prüfung und allfälligen Neuberechnung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen für die Zeit zwischen dem 1. Januar und dem 31. Juli 2021 zurückzuweisen. Die Beschwerde ist begründet.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 2 3

Referenzen

BGE: 147 V 278, 144 V 210, 133 V 450

Artikel: Art. 10 Abs. 3 lit. c ELG, Art. 14a Abs. 2 ELV, Art. 9 Abs. 1 Satz 1 ELG, Art. 9 Abs. 5 lit. c ELG mehr...