148 III 409
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Chapeau

148 III 409


48. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. Chocoladefabriken Lindt & Sprüngli AG gegen Lidl Schweiz AG und Lidl Schweiz DL AG (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_587/2021 vom 30. August 2022

Regeste

Art. 2 let. a LPM; art. 168 al. 1 let. b et art. 177 ss CPC; sondage en matière de droit des marques dans le procès civil; moyen de preuve.
Les sondages produits par une partie pour prouver l'usage commercial d'une marque sont des moyens de preuve en tant que titres dans le cadre du procès civil. Les règles de récusation qui s'appliquent aux experts désignés par les tribunaux ne sont pas applicables à l'auteur d'un tel sondage. La proximité de celui-ci avec les parties doit toutefois être prise en compte dans le cadre de l'appréciation des preuves, de même que la conception du contenu du questionnaire, ainsi que le déroulement et la réalisation du sondage (consid. 4.5 et 4.6).

Faits à partir de page 410

BGE 148 III 409 S. 410
Am 19. Dezember 2018 reichte die Chocoladefabriken Lindt & Sprüngli AG (Klägerin, Beschwerdeführerin) beim Handelsgericht des Kantons Aargau eine auf Marken- und Lauterkeitsrecht gestützte Klage gegen die Lidl Schweiz AG und die Lidl Schweiz DL AG (Beklagte 1 und 2, Beschwerdegegnerinnen 1 und 2) ein.
Strittig war unter anderem die markenrechtliche Verkehrsdurchsetzung zweier Zeichen. Zum Beweis der Verkehrsdurchsetzung reichte die Klägerin vor Handelsgericht demoskopische Erhebungen ein, deren Erstellerin (Dr. A) in einer Lebensgemeinschaft mit einem Anwalt lebt, der in der gleichen Anwaltskanzlei wie die Rechtsvertreter der Klägerin als Partner tätig ist.
Das Handelsgericht qualifizierte die von der Klägerin eingegebenen demoskopischen Erhebungen als "Privatgutachten" und wies die Klage mit Urteil vom 16. September 2021 ab, soweit es darauf eintrat.
Das Bundesgericht heisst die von der Klägerin erhobene Beschwerde in Zivilsachen gut.
(Zusammenfassung)

Considérants

Aus den Erwägungen:

4. (...)

4.5 Der Auffassung des Handelsgerichts, die von der Beschwerdeführerin ins Recht gelegten demoskopischen Erhebungen stellten nichts anderes dar als "Privatgutachten, die als blosser Bestandteil der Parteivorbringen anzusehen sind", kann nicht gefolgt werden. Sie widerspricht der bundesgerichtlichen Rechtsprechung und übergeht die Besonderheiten des Markenrechts. Es ist dazu - im Lichte der Eigenheiten des Immaterialgüter- und insbesondere des Markenrechts - was folgt zu bemerken:

4.5.1 In BGE 141 III 433 E. 2 entschied das Bundesgericht, dass Privatgutachten "nicht die Qualität von Beweismitteln, sondern von blossen Parteibehauptungen beizumessen ist". Diese Rechtsprechung ist zumindest in zweifacher Hinsicht relativiert worden: Zum einen hat das Bundesgericht festgehalten, dass Parteibehauptungen, denen ein Privatgutachten zugrunde liegt, meist besonders substanziiert sind und zusammen mit - durch Beweismittel nachgewiesenen - Indizien allenfalls den Beweis zu erbringen vermögen (BGE 141 III 433 E. 2.6). Zum andern hat das Bundesgericht im Urteil 4A_247/ 2020 vom 7. Dezember 2020 E. 4.2 auf die praktischen
BGE 148 III 409 S. 411
Schwierigkeiten dieser Rechtsprechung hingewiesen, insbesondere unter Hinweis darauf, dass die Einholung eines gerichtlichen Gutachtens retrospektiv oftmals in Frage gestellt ist.

4.5.2 Der Bundesrat regt im Rahmen seines Entwurfs vom 26. Februar 2020 betreffend die Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung (Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung) an, die Urkundenqualität von Privatgutachten im Gesetz festzuschreiben (E-Art. 177 ZPO; BBl 2020 2789) und damit in diesem Punkt die als unbefriedigend empfundene Rechtslage anzupassen (Botschaft vom 26. Februar 2020 zur Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung [Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung; nachfolgend: Botschaft rev. ZPO], BBl 2020 2751 f. zu E-Art. 177 ZPO).

4.5.3 Die Rechtsprechung gemäss BGE 141 III 433 E. 2 bezog sich auf ärztliche Beurteilungen des gesundheitlichen Zustands einer Person, insbesondere deren Arbeitsfähigkeit, etwa aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht. Demoskopische Erhebungen in markenrechtlichen Zivilprozessen sind damit nicht vergleichbar und weisen bedeutende Unterschiede auf. Sie stützen sich auf Umfragen, bei denen es auf die (Umfrage-)Methodik, die Fragestellung und die ermittelten Zahlen, mithin um objektive, durch das Gericht nachvollziehbare und nachprüfbare Parameter geht. Der Ersteller einer demoskopischen Erhebung nimmt keine wertende (ärztliche) Beurteilung gestützt auf eigenes Fachwissen vor, sondern gibt die in der Umfrage ermittelten Tatsachen wieder.
Aus diesen Gründen hat das Bundesgericht demoskopischen Erhebungen schon immer die Eignung zum Beweis der Verkehrsdurchsetzung zugesprochen, soweit sie auf wissenschaftlich konzipierten und korrekt durchgeführten Umfragen basierten, ja hat es sie als das sicherste Beweismittel bezeichnet (BGE 131 III 121 E. 8: "le moyen le plus sûr"; sodann BGE 130 III 328 E. 3.5: "das geeignetste Beweismittel" [dieser Entscheid betraf zwar das Eintragungsverfahren, gilt insoweit aber auch für den Zivilprozess, vgl. sogleich Erwägung 4.5.4]; ferner BGE 140 III 109 E. 5.3.2; BGE 131 III 121 E. 7.2; Urteil 4A_370/2008 vom 1. Dezember 2008 E. 6.4.1), und zwar auch dann, wenn eine solche Umfrage von einer der Parteien in das Zivilverfahren eingeführt wurde (siehe nur BGE 131 III 121 E. 6 und 7.4; Urteil 4A_128/2012 vom 7. August 2012 E. 4.1.2 [Berücksichtigung als "indices"]).
BGE 148 III 409 S. 412
Das wird auch in der Lehre durchwegs anerkannt, die demoskopische Erhebungen als das Hauptbeweismittel zum Nachweis der Verkehrsdurchsetzung hervorhebt (eingehend KAISER/RÜETSCHI, in: Markenschutzgesetz [MSchG], Noth/Bühler/Thouvenin [Hrsg.], 2. Aufl. 2017, N. 28 zu Beweisrecht; ferner EUGEN MARBACH, Markenrecht, in: SIWR Bd. III/1, 2. Aufl. 2009, S. 152 f. Rz. 455 [Beweis "nur" mittels demoskopischer Erhebung möglich]; derselbe, in: Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Marbach/Ducrey/Wild [Hrsg.], 4.Aufl. 2020, S. 130 Rz. 622; MEIER/FRAEFEL, in: Commentaire romand, Propriété intellectuelle, 2013, N. 111-115 zu Art. 2 MSchG; STÄDELI/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER, in: Basler Kommentar, Markenschutzgesetz, Wappenschutzgesetz, 3. Aufl. 2017, N. 221 zu Art. 2 MSchG).

4.5.4 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass im Verwaltungsverfahren zur Eintragung einer Marke vor dem Eidgenössischen Institut für Geistiges Eigentum (IGE) eine von den Parteien einzuholende (kostspielige) Umfrage zum Nachweis (Glaubhaftmachen) der Verkehrsdurchsetzung nicht nur zulässig ist, sondern faktisch verlangt wird (vgl. Richtlinien in Markensachen des IGE vom 1. März 2022, S. 217). Es wäre nicht kohärent und weder prozessökonomisch noch kosteneffizient, demselben Beweismittel im markenrechtlichen Zivilprozess von vornherein jeden Beweiswert abzusprechen (vgl. KAISER/RÜETSCHI, a.a.O., N. 28 zu Beweisrecht) und eine identische Umfrage erneut, diesmal aber durch einen gerichtlich beauftragten Sachverständigen durchführen zu lassen. Das Verwaltungsverfahren vor dem IGE und der markenrechtliche Zivilprozess unterscheiden sich insoweit einzig im Beweismass, nicht aber in der Frage der beweisrechtlichen Zulässigkeit privat in Auftrag gegebener demoskopischer Erhebungen (vgl. Art. 12 VwVG [SR 172.021] und Art. 168 Abs. 1 ZPO) und auch nicht im Grundsatz der freien Beweiswürdigung (vgl. Art. 19 VwVG in Verbindung mit Art. 40 BZP [SR 273] und Art. 157 ZPO).

4.5.5 Somit ist an der bisherigen Rechtsprechung festzuhalten: Eine Umfrage (sondage), die bezüglich der befragten Personen und der verwendeten Methoden wissenschaftlich konzipiert und korrekt durchgeführt worden ist, ist zum Beweis der markenrechtlichen Verkehrsdurchsetzung im Zivilprozess tauglich, ja ist das geeignetste Beweismittel. Dies gilt unabhängig davon, dass es von einer Partei ins Verfahren eingeführt wurde. Es handelt sich um ein Dokument
BGE 148 III 409 S. 413
(ein Schriftstück), das geeignet ist, eine rechtserhebliche Tatsache zu beweisen, und damit um eine Urkunde im Sinne von Art. 177 ff. ZPO.

4.5.6 Als Urkunde unterliegt die demoskopische Erhebung der freien Beweiswürdigung (Art. 157 ZPO). Dabei kann die inhaltliche Ausgestaltung der Umfrage (Studiendesign; Methodik der Fragestellung) sowie Ablauf und Durchführung der Erhebung (etwa: Auswahl der befragten Personen) im Rahmen der konkreten Beweiswürdigung in Anschlag gebracht werden (vgl. auch Urteil 4A_265/2020 vom 28. Dezember 2020 E. 8.3.2.2).

4.6

4.6.1 Es stellt sich die Frage, wie sich ein allfälliger Interessenkonflikt der Verfasserin einer demoskopischen Erhebung auf deren Beweismittelqualität oder Beweiskraft auswirkt.
In casu lebt die Erstellerin der eingereichten Umfragen (Dr. A.) in einer Lebensgemeinschaft mit einem Anwalt, der in der gleichen (grossen) Anwaltskanzlei wie die Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin als Partner tätig ist.

4.6.2 Nach Auffassung der Vorinstanz sind - soweit es sich bei privat in Auftrag gegebenen Umfragen überhaupt um zulässige Beweismittel handle - jedenfalls die Ausstandsgründe zu beachten, die für sachverständige Personen gelten (Art. 183 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 47 ZPO).

4.6.3 Um eine sachverständige Person im Sinne der Art. 183 ff. ZPO handelt es sich bei einer Privatgutachterin im Allgemeinen und der Erstellerin einer demoskopischen Erhebung im Besonderen indes gerade nicht, ist sie doch nicht vom Gericht bestellt (vgl. Art. 183 und Art. 185 ZPO) und im Übrigen auch nicht gerichtlich auf ihre (Wahrheits-)Pflichten und die Straffolgen hingewiesen worden (vgl. Art. 184 Abs. 1 und 2 ZPO). Auch im vorliegenden Fall gilt nichts anderes: Wohl hat Dr. A. die Umfragen nach den Feststellungen der Vorinstanz "konzipiert und ausgewertet", was - mit der Beschwerdegegnerin - durchaus so zu verstehen ist, dass sie "für die Ausarbeitung der Fragen verantwortlich war". Dies macht sie indes nicht zur sachverständigen Person gemäss Art. 183 ff. ZPO.

4.6.4 Der Beweiswert eines als Urkunde (Art. 177 ZPO) zu qualifizierenden Privatgutachtens kann im Vergleich zu einer gerichtlich eingeholten Expertise herabgesetzt sein. Dies betrifft aber die freie
BGE 148 III 409 S. 414
Beweiswürdigung (Art. 157 ZPO). Zu beachten bleibt dabei insbesondere, dass die Verfasserin einer Umfrage zur markenrechtlichen Verkehrsdurchsetzung nicht als Fachperson eine Einschätzung vornimmt, sondern lediglich die ermittelten objektiven Daten reproduziert. Die Ergebnisse sind daher für das Gericht nachprüfbar, was die aus allfälligen Interessenkonflikten resultierenden Gefahren relativiert.
Umgekehrt scheint eine enge Beziehung zwischen einer Partei und jener Person, welche die Umfrage durchführt und die demoskopische Erhebung verantwortet, in der Tat nicht unproblematisch. Allfälligen diesbezüglichen Bedenken ist indes - nur, aber immerhin - im Zuge der konkreten Beweiswürdigung Rechnung zu tragen; analog den Grundsätzen zum Zeugnis, bei dem die Nähe eines Zeugen zu einer Prozesspartei oder ein eigenes Interesse des Zeugen am Ausgang des Verfahrens Fragen der Beweiswürdigung und nicht der Beweismittelqualität sind (Urteil 4A_239/2019 vom 27. August 2019 E. 2.2.3). Dies ist auch die Meinung des Bundesrats, wie er sie im Rahmen des Vorschlags zur "Ausdehnung" des Urkundenbegriffs auf Privatgutachten zum Ausdruck gebracht hat (Botschaft rev. ZPO, BBl 2020 2752 zu E-Art. 177 ZPO: "ihr Beweiswert [jener der Privatgutachten] ergibt sich daher im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände [z.B. Beziehungen der Parteien zum Gutachter [...]]").

4.6.5 Die Vorinstanz hat Bundesrecht verletzt, indem sie den eingereichten demoskopischen Erhebungen von vornherein unter Verweis auf BGE 141 III 433 E. 2 und die Ausstandsregeln bei gerichtlich bestellten Sachverständigen die Beweiseignung abgesprochen hat.

contenu

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Etat de fait

Considérants 4

références

ATF: 141 III 433, 131 III 121, 130 III 328, 140 III 109

Article: Art. 177 ZPO, Art. 157 ZPO, Art. 183 ff. ZPO, Art. 2 MSchG suite...