7B_147/2023 10.07.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_147/2023  
 
 
Urteil vom 10. Juli 2023  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichterin Koch, 
Bundesrichter Hurni, 
Bundesrichter Kölz, 
Bundesrichter Hofmann, 
Gerichtsschreiber Caprara. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Bruno Bauer, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, 
Spisergasse 15, 9001 St. Gallen, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Stationäre Massnahme (Art. 59 StGB); willkürliche Beweiswürdigung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des 
Kantonsgerichts St. Gallen, Strafkammer, 
vom 7. Dezember 2022 (ST.2020.140-SK3). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Das Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland sprach A.________ am 3. August 2020 des Raubes, des mehrfachen geringfügigen Diebstahls, des Vergehens gegen das Waffengesetz, der Übertretung des Waffengesetzes sowie der mehrfachen Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes schuldig. Es verurteilte ihn in teilweisem Zusatz zum Strafbefehl des Untersuchungsamtes Uznach vom 9. Februar 2018 zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 8 Monaten, unter Anrechnung von 14 Tagen ausgestandener Haft, und zu einer Busse von Fr. 500.--, bzw. zu 5 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe bei schuldhafter Nichtbezahlung. Weiter entschied es über die Nebenfolgen. Gegen dieses Urteil führte A.________ Berufung. 
 
B.  
Mit Entscheid vom 7. Dezember 2022 sprach das Kantonsgericht St. Gallen A.________ des Raubes, des mehrfachen geringfügigen Diebstahls, der Widerhandlung gegen das Waffengesetz, der Übertretung des Waffengesetzes und der mehrfachen Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes schuldig. Von weiteren Vorwürfen sprach es ihn frei. Es verurteilte ihn (in Bezug auf beide Strafarten) als teilweise Zusatzstrafe zum Strafbefehl des Untersuchungsamtes Uznach vom 9. Februar 2018 zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten, unter Anrechnung von 14 Tagen ausgestandener Haft, sowie zu einer Busse von Fr. 500.--, bzw. zu 5 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe bei schuldhafter Nichtbezahlung. Weiter ordnete es eine stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB an und regelte die Nebenfolgen. 
 
C.  
A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, Dispositiv-Ziffer 5 des Entscheids des Kantonsgerichts St. Gallen vom 7. Dezember 2022 (Anordnung der stationären Massnahme) sei ersatzlos aufzuheben. Eventualiter sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur Gewährung des Gehörs an die Vorinstanz zurückzuweisen, dies unter Einräumung der Möglichkeit des Rückzugs der Berufung, subeventualiter zur Durchführung einer weiteren mündlichen Berufungsverhandlung mit der Möglichkeit des Rückzugs seiner Berufung. A.________ ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Weiter stellt er den prozessualen Antrag, die vorinstanzlichen Akten sowie die Akten der Staatsanwaltschaft beizuziehen und ihm Einsicht zu gewähren. 
 
D.  
Die vorinstanzlichen Akten wurden eingeholt. Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen hat mit Eingabe vom 7. Juni 2023 auf eine Vernehmlassung verzichtet, während sich das Kantonsgericht nicht vernehmen liess. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Auf die frist- (Art. 100 Abs. 1 BGG) und formgerecht (Art. 42 BGG) eingereichte Beschwerde gegen den kantonal letztinstanzlichen (Art. 80 BGG), verfahrensabschliessenden Entscheid (Art. 90 BGG) eines oberen Gerichts (Art. 86 Abs. 2 BGG) betreffend eine Strafsache (Art. 78 Abs. 1 BGG) ist einzutreten.  
 
1.2. Der Beschwerdeführer beantragt den Beizug der Akten des Kantonsgerichts und der Staatsanwaltschaft, wobei er um Akteneinsicht ersucht. Der Antrag auf Akteneinsicht im bundesgerichtlichen Verfahren ist an sich zulässig. Der Beschwerdeführer gab die Beschwerde allerdings am 29. März 2023 bei der Schweizerischen Post auf, wobei die dreissigtägige Beschwerdefrist nach Art. 100 Abs. 1 BGG am 31. März 2023 endete. Die Beschwerde traf am 31. März 2023 beim Bundesgericht ein. Die Frist war entsprechend am Folgetag abgelaufen, was die Einholung der vorinstanzlichen Akten sowie die Gewährung der Akteneinsicht innert der Beschwerdefrist unmöglich macht. Eine Verlängerung der gesetzlichen Frist ist nicht zulässig (vgl. Art. 47 Abs. 1 BGG). Die Gewährung der Akteneinsicht vor Bundesgericht nach Ablauf der Beschwerdefrist würde indes keine Ergänzung der Beschwerdeschrift mehr erlauben (vgl. Urteile 6B_1283/2021 vom 7. September 2022 E. 2.2; 2C_717/2018 vom 24. Januar 2020 E. 2; 6B_1076/2010 vom 21. Juni 2011 E. 5.4). Das Begehren ist als gegenstandslos abzuschreiben.  
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe Berufung beschränkt auf die Strafzumessung geführt mit dem Antrag, den Strafvollzug aufzuschieben, eventualiter die Strafe zu reduzieren und ihm die Weisung zu erteilen, sich während der Probezeit ambulant therapeutisch behandeln zu lassen. Er habe beabsichtigt, einen bedingten Strafvollzug unter Erteilung einer Weisung, d.h. einer ambulanten therapeutischen Behandlung, zu erreichen. Hingegen habe er keinen Antrag auf eine ambulante Massnahme unter gleichzeitigem Strafaufschub gestellt. Die Vorinstanz verfalle in Willkür, indem sie ihm einen solchen Antrag unterstelle. Die Vorinstanz habe aufgrund seines Antrags ein psychiatrisches Gutachten zur Klärung der Massnahmenbedürftigkeit eingeholt und schliesslich in Verletzung des Verschlechterungsverbots nach Art. 391 Abs. 2 StPO eine stationäre Massnahme angeordnet (Beschwerde Ziff. 15, 27 ff.).  
 
2.2.  
 
2.2.1. Zum Begriff der Willkür und zu den für die Willkürrüge geltenden qualifizierten Begründungsanforderungen (Art. 106 Abs. 2 BGG) kann auf die bisherige Rechtsprechung verwiesen werden (BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 146 IV 88 E. 1.3.1; 143 IV 500 E. 1.1; je mit Hinweisen).  
 
2.2.2. Die Rüge des Beschwerdeführers betreffend Willkür verfängt nicht. Gemäss dem angefochtenen Entscheid lautete sein formeller Antrag "sinngemäss" - so die Würdigung der Vorinstanz - auf einen bedingten Strafvollzug unter Erlass einer Weisung (Therapie; angefochtener Entscheid S. 2). Aus dem kantonalen Verhandlungsprotokoll ergibt sich aber auch, dass der amtliche Verteidiger im Namen des Beschwerdeführers beantragte, das Verfahren zu sistieren um ein psychiatrisches Gutachten zu erstellen und den Bedarf nach einer ambulanten Massnahme abzuklären (act. B/30 S. 3). Gleichzeitig sprach der Verteidiger im Plädoyer von einer "aufgeschobenen Strafe samt therapeutischer Behandlung". Damit scheint der Antrag des Beschwerdeführers im Lichte der von ihm angegebenen Begründung nicht ganz klar. Indessen ist die Frage nach dem genauen Antrag nicht entscheidend, da sie für den Ausgang des Verfahrens ohne Bedeutung ist, wie sich aus nachfolgenden Erwägungen ergibt.  
 
2.3. Nach Art. 391 Abs. 2 StPO darf die Rechtsmittelinstanz Entscheide nicht zum Nachteil der beschuldigten oder verurteilten Person abändern, wenn das Rechtsmittel nur zu deren Gunsten ergriffen worden ist (Verschlechterungsverbot, "reformatio in peius"). Vorbehalten bleibt eine strengere Bestrafung aufgrund von Tatsachen, die dem erstinstanzlichen Gericht nicht bekannt sein konnten. Der Sinn dieses Verschlechterungsverbots besteht darin, dass die beschuldigte Person nicht durch die Befürchtung, strenger angefasst zu werden, von der Ausübung eines Rechtsmittels abgehalten werden soll. Nach der Rechtsprechung untersagt das Verschlechterungsverbot sowohl eine Verschärfung der Sanktion als auch eine härtere rechtliche Qualifikation der Tat. Für die Frage, ob eine unzulässige "reformatio in peius" vorliegt, ist das Dispositiv massgebend (BGE 148 IV 89 E. 4.3; 147 IV 167 E. 1.5.2; 142 IV 129 E. 4.5; je mit Hinweisen).  
Die Umwandlung einer ambulanten in eine stationäre Massnahme im Rechtsmittelverfahren bzw. nach einer Rückweisung verstösst nicht gegen das Verschlechterungsverbot (BGE 144 IV 113 E. 4.3 mit Hinweisen). Verzichtet jedoch das erstinstanzliche Gericht gänzlich auf die Anordnung einer ambulanten Massnahme und hat die Staatsanwaltschaft in ihrer Anschlussberufung deren Anordnung nicht erneut beantragt, verletzt das Berufungsgericht das Verschlechterungsverbot, wenn es eine ambulante Massnahme anordnet (BGE 148 IV 89 E. 4.1-4.4 mit Hinweisen). Ebenso verstösst das Berufungsgericht gegen das Verschlechterungsverbot, wenn es als erstes Gericht eine ambulante Massnahme ohne Aufschub der Freiheitsstrafe anordnet (die erste Instanz sah von der Anordnung einer Massnahme ab), obwohl die alleine Berufung führende beschuldigte Person eine ambulante Massnahme unter Aufschub der Freiheitsstrafe beantragt hat (vgl. Urteil 6B_1399/2021 vom 7. Dezember 2022 E. 1.3). Denn mit einer solchen Vorgehensweise gehen Freiheitsbeschränkungen einher, mit welchen sich die beschuldigte Person nicht einverstanden erklärt hat und mit welchen sie sich mangels eines entsprechenden Parteiantrags zweitinstanzlich nicht konfrontiert sehen musste.  
Aus der bisherigen Rechtsprechung folgt, dass die im vorliegenden Fall erfolgte erstmalige Anordnung einer stationären Massnahme durch das Berufungsgericht gegen das Verschlechterungsverbot verstösst. Alleine der Beschwerdeführer hat Berufung geführt, ohne eine stationäre Massnahme zu beantragen. Insoweit durfte die Vorinstanz in Nachachtung des Verschlechterungsverbots nach Art. 391 Abs. 2 StPO auch keine solche anordnen. Nichts daran ändert die letztlich offen zu bleibende Frage, ob der Beschwerdeführer vor Vorinstanz einen bedingten Strafvollzug unter Auflage einer Weisung zur Absolvierung einer Therapie (Art. 42 Abs. 1 i.V.m. Art 44 Abs. 2 StGB) oder aber einen Antrag auf eine ambulante Massnahme (Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 StGB) bei gleichzeitigem Strafaufschub gestellt hat. Mit beiden Anträgen geht der Antrag auf den (zumindest vorläufigen) Verzicht auf einen Strafvollzug und damit die Belassung des Beschwerdeführers in Freiheit einher. Insoweit durfte die Vorinstanz nicht über diesen Antrag hinausgehen und auf eine die persönliche Freiheit weit erheblicher beschränkende stationäre Massnahme erkennen (vgl. Urteil 6B_1399/2021 vom 7. Dezember 2022, a.a.O.). Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens erübrigt es sich, auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers (namentlich Beschwerde Ziff. 16 ff.: Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, Voraussetzungen zur Anordnung einer stationären Massnahme, Abwesenheit der Staatsanwaltschaft an der Berufungsverhandlung) einzugehen. 
 
3.  
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und Abs. 4 BGG). Der Kanton St. Gallen ist zu verpflichten, dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers eine angemessene Entschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird damit gegenstandslos. 
 
 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen vom 7. Dezember 2022 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton St. Gallen wird verpflichtet, dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Bruno Bauer, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen. 
 
4.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist gegenstandslos. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 10. Juli 2023 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Der Gerichtsschreiber: Caprara