8C_178/2023 13.12.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_178/2023  
 
 
Urteil vom 13. Dezember 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione, 
Gerichtsschreiberin Berger Götz. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
handelnd durch Rechtsanwalt Dr. Roger Bollag, 
und dieser vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ueli Kieser, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle für Versicherte im Ausland IVSTA, Avenue Edmond-Vaucher 18, 1203 Genf, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Verantwortlichkeit), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Februar 2023 (C-3479/2021). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1972 geborene A.________, niederländische Staatsangehörige mit Wohnsitz in den Niederlanden, bezieht seit 1. September 2003 eine Dreiviertelsrente der schweizerischen Invalidenversicherung. Dieser Anspruch wurde im Rahmen verschiedener Revisionsprüfungen bestätigt (Mitteilungen der Invalidenversicherungs-Stelle für Versicherte im Ausland [IVSTA] vom 14. Dezember 2012, 15. August 2016 und 21. November 2019).  
 
A.b. Mit unangefochten in Rechtskraft erwachsener Verfügung vom 8. März 2021 sprach die IVSTA A.________ für den am 3. Juni 2011 geborenen Sohn B.________ rückwirkend ab 1. Oktober 2015 eine akzessorische Kinderrente in der Höhe von monatlich Fr. 353.- zu. Zur Begründung gab sie unter anderem an, auch wenn ein Versicherungsträger eine hinreichend substanziierte Anmeldung fahrlässig übersehen habe, beschränke sich die Nachzahlung der Kinderrenten auf die letzten fünf Jahre, gerechnet ab der Neuanmeldung vom 16. Oktober 2020. Überdies wurden A.________ für die Zeit vom 1. Oktober 2015 bis 30. April 2021 Verzugszinsen in der Höhe von Fr. 3'257.- zugesprochen (unangefochten in Rechtskraft erwachsene Verfügung vom 12. Mai 2021).  
 
A.c. A.________ forderte mit Eingabe vom 21. Mai 2021, es sei ihr gestützt auf Art. 78 Abs. 1 ATSG der Schaden in der Höhe von Fr. 18'356.- nebst Verzugszins gemäss Art. 26 Abs. 2 ATSG ab 1. Juni 2013 bis 30. September 2015 sowie Verzugszins auf der gesamten Nachzahlungssumme von Fr. 18'356.- zu 5 % ab 1. Oktober 2015 zu ersetzen. Denn dieser Schaden sei ihr durch das Übersehen der Leistungsanpassung betreffend Kinderrenten und die in der Folge unterbliebene entsprechende Weiterleitung an die Kasse durch den Funktionär der IVSTA erwachsen. Die IVSTA lehnte die Schadenersatzforderung mittels Verfügung vom 29. Juni 2021 ab.  
 
B.  
Die gegen die Verfügung vom 29. Juni 2021 erhobene Beschwerde, mit welcher beantragt wurde, die Sache sei zur Bemessung der Schadenersatzverpflichtung (verwirkter Anspruch auf IV-Kinderrente zuzüglich Verzugszins von 5 % gemäss Art. 26 ATSG) an die IVSTA zu überweisen, eventualiter sei die IVSTA - nach entsprechender Stellungnahme von A.________ - zu verpflichten, die geltend gemachte Schadenersatzforderung vollumfänglich zu begleichen, wies das Bundesverwaltungsgericht ab (Urteil vom 7. Februar 2023). 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, in Aufhebung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts sei die IVSTA zu verpflichten, Schadenersatz in der Höhe von Fr. 18'356.- (eventuell nebst Verzugszinsen zu 5 % ab 1. Juni 2013) zu bezahlen; eventualiter sei die Sache zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Die IVSTA und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) beantragen, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten; eventualiter sei diese abzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Das Bundesgericht prüft die Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 145 V 380 E. 1 Ingress mit Hinweis). 
 
2.  
Angefochten ist ein Endentscheid des Bundesverwaltungsgerichts (Art. 86 Abs. 1 lit. a, Art. 90 BGG). Dieser verneint einen Anspruch der Beschwerdeführerin gegen die IVSTA auf Schadenersatz gestützt auf Art. 78 ATSG und betrifft somit eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit im Sinne von Art. 82 lit. a BGG
 
3.  
 
3.1. In der Regel behandelt die II. öffentlich-rechtliche Abteilung die Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zu Fragen der Staatshaftung (Art. 22 BGG in Verbindung mit Art. 30 Abs. 1 lit. c Ziff. 1 des Reglementes für das Bundesgericht vom 20. November 2006 [BGerR; SR 173.110.131]). Da im vorliegenden Fall das der Verwaltung vorgeworfene Fehlverhalten in einer Nichtausrichtung von IV-Kinderrenten trotz eines entsprechenden Anspruchs besteht, ist aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Haftungsbegehren und invalidenversicherungsrechtlichen Leistungsansprüchen die IV. öffentlich-rechtliche Abteilung zuständig (Art. 34 lit. a BGerR; vgl. Urteil 8C_77/2022 vom 29. September 2022 E. 1.1 mit Hinweisen).  
 
3.2. Vorliegend geht es um einen Staatshaftungsfall im Sinne von Art. 85 Abs. 1 lit. a BGG. Der demgemäss erforderliche Streitwert von Fr. 30'000.- wird unbestrittenermassen nicht erreicht. Zinsen fallen bei der Bestimmung des Streitwertes nicht in Betracht (Art. 51 Abs. 3 BGG).  
 
4.  
 
4.1. Erreicht der Streitwert den massgeblichen Betrag nicht, ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gemäss Art. 85 Abs. 2 BGG dennoch zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ist nur zurückhaltend anzunehmen. Sie liegt vor, wenn ein allgemeines und dringendes Interesse besteht, dass eine umstrittene Frage höchstrichterlich geklärt wird, um eine einheitliche Anwendung und Auslegung des Bundesrechts herbeizuführen und damit eine erhebliche Rechtsunsicherheit auszuräumen (BGE 146 III 237 E. 1 mit Hinweisen). Der blosse Umstand, dass das Bundesgericht über die aufgeworfene Frage noch nie entscheiden musste, genügt nicht (BGE 146 II 276 E. 1.2.1; Urteil 5A_825/2021 vom 31. März 2022 E. 1.1.1, nicht publ. in: BGE 148 III 225, aber in: Pra 2023 Nr. 4 S. 57). Soweit es lediglich um die Anwendung von Grundsätzen der Rechtsprechung auf einen konkreten Fall geht, handelt es sich nicht um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (BGE 140 III 501 E. 1.3 mit Hinweisen).  
 
4.2. Nach den Erwägungen der Vorinstanz fällt hier eine Verantwortlichkeit im Sinne von Art. 78 Abs. 1 ATSG und damit auch ein entsprechender Schadenersatzanspruch gestützt auf diese Norm ausser Betracht, weil es zufolge groben Selbstverschuldens der Beschwerdeführerin an einem rechtserheblichen Kausalzusammenhang zwischen der Unterlassung der IVSTA und dem Schaden fehle.  
 
4.3. Die Beschwerdeführerin macht letztinstanzlich geltend, es stelle sich folgende Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung: "Kann der prinzipiell feststehenden Verantwortlichkeit des Sozialversicherungsträgers nach Art. 78 ATSG ein Selbstverschulden der anspruchsberechtigten Person in Form einer unterlassenen Mahnung bzw. einer unterlassenen Rechtsverweigerungsbeschwerde entgegen gehalten werden, obschon Art. 26 Abs. 2 ATSG für die Verletzung der Mitwirkungspflichten der Partei eine spezifische Sanktion vorsieht?"  
 
4.3.1. Nach Art. 78 Abs. 1 ATSG haften für Schäden, die von Durchführungsorganen oder einzelnen Funktionären von Versicherungsträgern einer versicherten Person oder Dritten widerrechtlich zugefügt wurden, die öffentlichen Körperschaften, privaten Trägerorganisationen oder Versicherungsträger, die für diese Organe verantwortlich sind. Der von der Beschwerdeführerin ausserdem angerufene Art. 26 ATSG steht unter dem Titel "Verzugs- und Vergütungszinsen". Gemäss Art. 26 Abs. 2 ATSG werden die Sozialversicherungen für ihre Leistungen nach Ablauf von 24 Monaten nach der Entstehung des Anspruchs, frühestens aber 12 Monate nach dessen Geltendmachung verzugszinspflichtig, sofern die versicherte Person ihrer Mitwirkungspflicht vollumfänglich nachgekommen ist.  
 
4.3.2. Die Beschwerdeführerin wirft der Vorinstanz vor, diese habe die spezifische Regelung der Verletzung einer Mitwirkungspflicht nach Art. 26 Abs. 2 ATSG nicht erkannt und deshalb auch nicht berücksichtigt. Mit dieser Bestimmung werde nämlich die Verletzung der Mitwirkungspflicht mit einem Wegfall des Anspruchs auf einen Verzugszins sanktioniert. Andere Sanktionen würden damit ausgeschlossen, weshalb der Verantwortlichkeitsanspruch als solcher nicht entfallen könne.  
 
4.4.  
 
4.4.1. In der Beschwerde wird Art. 26 Abs. 2 ATSG für die Verantwortlichkeit nach Art. 78 ATSG die Bedeutung einer das Selbstverschulden der versicherten Person sanktionierenden Spezialnorm beigemessen. Die dazu im Verfahren vor Bundesgericht formulierte Rechtsfrage hat die Rechtsprechung - soweit ersichtlich - bislang nicht beantwortet. In der Beschwerde wird sie, gleichsam darüber hinausgreifend, mit der allgemeinen Frage verknüpft, ob und inwieweit das Selbstverschulden einer geschädigten Person im Rahmen von Art. 78 ATSG haftungsausschliessend wirkt. Dabei geht es um allgemeine Fragen des Verantwortlichkeitsrechts, wozu bereits Rechtsprechung besteht, die auch im Geltungsbereich von Art. 78 ATSG beachtlich ist (vgl. Art. 78 Abs. 4 ATSG und den dortigen Verweis auf das Bundesgesetz vom 14. März 1958 über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördenmitglieder und Beamten [Verantwortlichkeitsgesetz, VG; SR 170.32]). Nach dieser Rechtsprechung ist die Staatshaftung bis zu einem gewissen Grad subsidiär zur Rechtsverzögerungsbeschwerde: Wer keine Rechtsverzögerungsbeschwerde führt und die Behörden auch sonst nicht um eine raschere Abwicklung des Verfahrens ersucht, muss sich Selbstverschulden entgegenhalten lassen. Dieses Selbstverschulden kann so schwer wiegen, dass es den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen der Rechtsverzögerung und dem Schaden unterbricht (vgl. BGE 107 Ib 155 E. 2b/bb; 106 Ib 357 E. 2d; Urteil 2C_852/2019 vom 20. November 2020 E. 5.4.1). Eine Ersatzpflicht kann auch ohne Unterbrechung des Kausalzusammenhangs bei Mitbeteiligung der geschädigten Person entfallen (vgl. dazu Art. 4 VG; Urteil 2C_852/2019 vom 20. November 2020 E. 5.4.1 am Ende). Ob der Untätigkeit der Beschwerdeführerin bzw. ihres Rechtsvertreters die vorinstanzlich angenommene Wirkung beigemessen werden kann, beurteilt sich fallbezogen und ist so gesehen nicht von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne von Art. 85 Abs. 2 BGG (BGE 143 II 425 E. 1.3.2).  
 
4.4.2. Art. 26 Abs. 2 ATSG ist auf Leistungsnachzahlungen zugeschnitten und gelangt im Verfahren um Klärung der Anspruchsvoraussetzungen zur Anwendung. Die sozialversicherungsrechtliche Verzugszinspflicht ist verschuldensunabhängig ausgestaltet. Die Zinsen dienen ausschliesslich dazu, den Schaden (Geldentwertung) auszugleichen, den die verspätete Ausrichtung der Leistungen für die versicherte Person hat (BGE 140 V 558 E. 3.3; 137 V 273 E. 4.5 am Ende mit Hinweisen auf die Lehre). Es erscheint vor diesem Hintergrund zweifelhaft, dass durch Art. 26 Abs. 2 ATSG einem Selbstverschulden bei der Beurteilung der Verantwortlichkeit nach Art. 78 ATSG nicht mehr Rechnung getragen werden könnte. Hinweise auf ein solches Verständnis lassen sich im Übrigen auch in der Kommentierung des Verfassers der vorliegenden Beschwerdeschrift nicht finden (UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 4. Aufl. 2020, N. 1 ff., insb. N. 71 und 73 zu Art. 78 ATSG). Die Frage muss an dieser Stelle allerdings nicht abschliessend beantwortet werden. Denn auch in dieser Hinsicht ist eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu verneinen. Der Begriff ist rechtsprechungsgemäss eng auszulegen (E. 4.1 hiervor). Es besteht hier kein allgemeines und dringendes Interesse an der Klärung oder Beseitigung einer erheblichen Rechtsunsicherheit. Insbesondere stehen in diesem Zusammenhang in der Praxis auch nicht viele gleichartige Fälle zur Beurteilung an (BGE 140 III 501 E. 1.3 mit Hinweisen). Der Umstand, dass die aufgeworfene Frage noch nie entschieden wurde, genügt nicht, um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung anzunehmen (E. 4.1 und dortige Hinweise).  
 
4.5. Auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist folglich nicht einzutreten.  
 
5.  
Es verbliebe somit einzig die Möglichkeit einer subsidiären Verfassungsbeschwerde (Art. 113 ff. BGG). Da die Beschwerdeführerin jedoch letztinstanzlich keine Verletzung verfassungsmässiger Rechte rügt, erübrigen sich Weiterungen in dieser Hinsicht. 
 
6.  
Bei diesem Prozessausgang sind die Gerichtskosten von der Beschwerdeführerin zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesverwaltungsgericht, Abteilung III, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 13. Dezember 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz