1C_254/2021 02.03.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1C_254/2021  
 
 
Urteil vom 2. März 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Haag, Müller, 
Gerichtsschreiberin Sauthier. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Georges Schmid-Favre, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Schätzungskommission, 
z. H. Daniel Troger, Präsident, 
Kantonsstrasse 34, 3942 Raron, 
Beschwerdegegnerin, 
 
Einwohnergemeinde St. Niklaus, 
Bahnhofstrasse 5, 3924 St. Niklaus VS. 
 
Gegenstand 
Enteignung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Wallis, Öffentlichrechtliche Abteilung, vom 6. April 2021 (A1 21 18). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Am 9. Oktober 2019 genehmigte der Staatsrat des Kantons Wallis die Pläne des Auflagedossiers Steinschlagverbauung Herbriggen auf dem Gebiet der Gemeinde St. Niklaus und erteilte das Recht auf Enteignung aller zur Ausführung des Werkes benötigten dinglichen Rechte an Grundstücken. Zur Begründung wurde auf die fortdauernde und akut verschärfte Permafrost-Problematik und die Gefährdung für diverse Wohn- und Gewerbegebäude durch Stein- und Blockschlag hingewiesen. Der neue Zonennutzungsplan sehe vor, dass Bauzonen in Gefahrenzonen mit erheblicher Gefahr, welche als Zonen mit späterer Nutzungszulassung (ZSN) oder Zonen der 2. Erschliessungsetappe vorgesehen seien, als Nichtbauzonen zu betrachten seien. Darunter befinden sich auch die Parzellen von A.________. Ihre gesamte Parzelle Nr. 2016 mit 667 m² sowie ein Teil der 1'319 m² grossen Parzelle Nr. 2013, nämlich 251 m², sollen enteignet werden. 
Mit Entscheid vom 23. Dezember 2020 hielt die Schätzungskommission fest, die beiden Parzellen Nrn. 2013 und 2016 seien in der roten Gefahrenzone. Sie seien nicht erschlossen, in einer Hanglage, noch nicht überbaut und vorwiegend landwirtschaftlich genutzt. Trotz der formalen Zuordnung zur Bauzone sei der Boden nicht überbaubar, da die Gefahren schon vor der Schatzung bestanden hätten. Die Entschädigung bemesse sich deshalb nicht nach dem Verkehrswert, sondern nach der Gefahrenbeurteilung, weshalb die Entschädigung für die enteigneten Flächen auf Fr. 10.--/m² festgelegt werde. Das Gebäude auf der Parzelle Nr. 2016 wurde auf Fr. 360.-- geschätzt. 
Gegen diesen Entscheid der Schätzungskommission erhob A.________ Beschwerde an das Kantonsgericht Wallis, welches die Beschwerde am 6. April 2021 abwies. 
 
B.  
Mit Eingabe vom 7. Mai 2021 führt A.________ Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht. Sie beantragt, das Urteil des Kantonsgerichts sei aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventualiter sei die Enteignungsentschädigung für die Parzellen Nr. 2013 und Nr. 2016 mit Fr. 120.--/m² zuzüglich Zins ab Fälligkeit festzulegen. 
Das Kantonsgericht beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Die Schätzungskommission sowie die Einwohnergemeinde liessen sich nicht vernehmen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Das angefochtene Urteil ist ein Endentscheid einer letzten kantonalen Instanz und betrifft eine Angelegenheit des öffentlichen Rechts (Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Art. 90 BGG). Die im kantonalen Verfahren betreffend Enteignungsentschädigung unterlegene Beschwerdeführerin ist als Grundeigentümerin durch den angefochtenen Entscheid besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung bzw. Änderung, weshalb sie zur Beschwerde befugt ist (Art. 89 Abs. 1 BGG). Auf die form- und fristgerecht eingereichte Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten.  
 
2.  
Die Beschwerdeführerin macht vorab eine "unbegründete antizipierte Beweiswürdigung" geltend. Sie will eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör darin erkennen, dass die Vorinstanz ihre Beweisanträge ohne Begründung abgelehnt habe. Dies trifft indessen nicht zu. Wie dem angefochtenen Entscheid entnommen werden kann, hat sich die Vorinstanz mit den Beweisanträgen der Beschwerdeführerin auseinandergesetzt (vgl. E. 1.2 des angefochtenen Entscheids). Dass sie diese mit der Begründung abgelehnt hat, der entscheidwesentliche Sachverhalt gehe hinreichend aus den Akten hervor, stellt jedenfalls keine Verletzung des Anspruchs der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV dar. Die Rüge ist unbegründet. 
 
3.  
Die Beschwerdeführerin ist der Auffassung, die ihr zugesprochene Summe von lediglich Fr. 10.--/m2 verletze ihren verfassungsmässigen Anspruch auf volle Entschädigung gemäss Art. 26 Abs. 2 BV. Für ihre Parzellen müsse von Bauland ausgegangen werden, weshalb der Baulandwert, namentlich Fr. 120.--/m2, zu entschädigen sei und nicht nur der Preis für Landwirtschaftsland. 
 
3.1. Gemäss Art. 26 Abs. 2 BV werden Enteignungen und Eigentumsbeschränkungen, die einer Enteignung gleichkommen, voll entschädigt. Das Bundesgericht überprüft mit freier Kognition, ob der aufgrund einer Enteignung zugesprochene Betrag den Anspruch auf volle Entschädigung erfüllt. Es untersucht dabei die einzelnen geltend gemachten Entschädigungsposten ungeachtet der vorgebrachten Begründungen und hebt den angefochtenen Entscheid nur auf, wenn die zugesprochene Gesamtentschädigung dem verfassungsrechtlichen Anspruch nicht genügt (Urteil 1C_651/2018 vom 4. Juni 2019 E. 4 mit Hinweis).  
 
3.2. Eine langjährige Rechtsprechung geht davon aus, dass Grundstücken, die von Naturgefahren bedroht sind, enteignungsrechtlich von vornherein kein Baulandcharakter zukommen kann. So ist es selbst dann, wenn das Land bereits überbaut ist und die bestehende Nutzung wegen eingetretener Gefahren untersagt werden muss. Ebenso verneint die frühere Rechtsprechung einen Anspruch aus materieller Enteignung, wenn durch Naturgefahren bedrohtes Land nicht formell enteignet, sondern mit einem Nutzungsverbot belegt wird. Allerdings anerkennt sie auch gewisse Ausnahmen vom Grundsatz der Entschädigungslosigkeit rein polizeilicher Eigentumsbeschränkungen (BGE 122 II 17 E. 7b; 106 Ib 330 E. 4; Urteil 2C_461/2011 vom 9. November 2011 E. 4.2 und 4.3). Die Lehre kritisiert diese Praxis als zu starr. Sie regt an, die Entschädigungspflicht anstatt nach dem polizeilichen Zweck nach dem Ziel der Massnahme zu beurteilen. Ebenso wird verlangt, beim Verbot bisher rechtmässiger Nutzungen Vertrauensgesichtspunkte zu berücksichtigen. In einem neueren Entscheid hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung stärker differenziert. Es hat erklärt, dass eine Entschädigung für enteignete Grundstücke zum Baulandwert nicht schon mit dem Verweis auf ihre Lage in einem gefährdeten Gebiet abgelehnt werden könne. So müsse auch berücksichtigt werden, ob die Enteignung der Realisierung eines Werkes diene, welches den Schutz anderer Grundstücke und öffentlicher Infrastrukturanlagen (Strassen, Eisenbahnlinien, etc.) bezwecke. Wo dies der Fall sei und anstelle des betroffenen Grundstücks auch ein anderes hätte enteignet werden können, sei der Wegfall der baulichen Nutzbarkeit letztlich nicht allein durch die Naturgefahr, sondern ebenso durch das Werk bedingt. Es rechtfertige sich deshalb, die Enteignung einer solchen Parzelle zu Baulandpreisen zu entschädigen (vgl. zum Ganzen, auch zum Stand der Diskussion in der Lehre: Urteil 1C_651/2018 vom 4. Juni 2019 E. 4.1, in: ZBI 120/2019 S. 683; mit Hinweis auf Urteil 2C_461/2011 vom 9. November 2011, in: ZBl 113/2012 S. 617 und URP 2012 S. 255; kritisch zu diesem Entscheid jedoch ARNOLD MARTI, ZBl 113/2012 S. 625 ff.).  
 
3.3. Die Vorinstanz sprach vorliegend, gleich wie bereits zuvor die kantonale Schätzungskommission, den zwar formal in der Bauzone liegenden, jedoch nicht erschlossenen Grundstücken den Baulandcharakter ab. Sie erwog, die Höhe der Entschädigung, die der Beschwerdeführerin zustehe, bestimme sich nicht nach dem Verkehrswert, sondern nach der Gefahrenbeurteilung. Sie hielt fest, dass die fraglichen Parzellen aufgrund der durch die Permafrost-Problematik fortdauernden und akut verschärften sowie latenten Stein- und Blockschlaggefahr im Schätzungszeitpunkt unüberbaubar gewesen seien. Trotz der unbestrittenen, formalen Zuordnung zur Bauzone könnten die Parzellen daher nicht als überbaubar beurteilt werden. Die Vorinstanz schützte die Auffassung der Schätzungskommission, wonach alleine der Wert für Landwirtschaftsland zu entschädige sei, wobei sie die Entschädigung auf Fr. 10.--/m2 festsetzte.  
 
3.4. Es ist vorliegend unbestritten, dass die Parzellen formal zur Bauzone gehören. Wie die kantonalen Instanzen aber dargelegt haben und aus den Akten ersichtlich ist, liegen die Grundstücke gemäss der Gefahrenkarten aufgrund der Stein- und Blockschlaggefahr in der roten Gefahrenzone. Es ist bzw. war am Stichtag in diesem Gebiet von einer unmittelbaren Gefährdung von Personen und Sachen auszugehen. Etwas anderes behauptet grundsätzlich auch die Beschwerdeführerin nicht. Sie hält selbst fest, dass die (damalige) Unüberbaubarkeit ihrer Parzellen aus den Gefahren und nicht aus der Expropriation resultierte. Ob die betroffenen Parzellen zukünftig einer späteren Nutzungszulassung zugeführt werden können, ist insofern nicht entscheidend. Entscheidend ist alleine, dass im Beurteilungszeitpunkt von der Unüberbaubarkeit aufgrund von Naturgefahren ausgegangen werden musste. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass die Schätzungskommission sowie die Vorinstanz die Entschädigung nach der Gefahrenbeurteilung vorgenommen haben. Dies stellt denn, entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin, auch keine offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellung dar. Der Baulandwert ist nur zu entschädigen, wenn das Land auch tatsächlich Baulandcharakter hat. Dies setzt voraus, dass sich das Land für eine Überbauung eignet. Vorliegend waren die Parzellen aber, wie erwähnt, durch Naturgefahren bedroht, weshalb sie sich am Stichtag nicht für die Überbauung eigneten. Daher haben die Vorinstanzen den Baulandcharakter enteignungsrechtlich zu Recht verneint. Daran ändert auch nichts, wenn die Beschwerdeführerin behauptet, die Baubeschränkungen seien planerische Vorwirkungen des Werkes und dieser werkbedingte Nachteil sei bei der Bemessung der Entschädigung ausser Acht zu lassen. Dieser Argumentation kann nicht beigepflichtet werden, zumal die Beschwerdeführerin selbst festhielt, die Unüberbaubarkeit resultiere aus den Gefahren. Wie bereits erwähnt, stehen die Stein- und Blockschlaggefahr bzw. die geologischen Verhältnisse der Nutzung als Bauland entgegen und es handelt sich gerade nicht um eine planerische Vorwirkung.  
Nichts zu ihren Gunsten kann die Beschwerdeführerin sodann aus ihrer Verweisung auf das Urteil 2C_461/2011 vom 9. November 2011 ableiten. Anders als im erwähnten Urteil ergibt sich vorliegend die Einschränkung der baulichen Tätigkeit als Folge der Naturgefahren und nicht aufgrund des geplanten Schutzprojektes bzw. der Steinschlagverbauung. Zudem wurden nicht einzig ihre Parzellen enteignet, um damit andere Grundstücke zu sichern. Es liegt mithin, entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin und anders als im Urteil 2C_461/2011, kein Sonderopfer bzw. eine "Verletzung des Schlechterstellungsverbots" vor. Die Vorinstanz erwog, die Schätzungskommission habe offensichtlich eine einheitliche Beurteilung vorgenommen und alle Parzellen in der roten Zone gleich beurteilt (vgl. E. 3.3.2 des angefochtenen Entscheids). Die Beschwerdeführerin zeigt nicht nachvollziehbar auf, inwiefern diese Feststellung unzutreffend und sie tatsächlich schlechter als andere Eigentümer und Eigentümerinnen gestellt worden sein soll. Die hier zu beurteilende Beschränkung dient der Sicherheit der Bewohner und Bewohnerinnen. Sie traf gleichermassen alle Eigentümerinnen und Eigentümer von Liegenschaften im durch Felsstürze gefährdeten Gebiet in der roten Gefahrenzone. Ein Fall eines Sonderopfers ist weder ersichtlich noch von der Beschwerdeführerin substanziiert dargetan. Die Rüge erweist sich als unbegründet. Das erwähnte Urteil 2C_461/2011 bildet deshalb ebenfalls keine Grundlage dafür, die Entschädigung für die enteigneten Parzellen der Beschwerdeführerin nach deren Baulandwert zu bemessen. 
 
3.5. Es verletzt aus den genannten Gründen den verfassungsrechtlichen Anspruch auf volle Entschädigung gemäss Art. 26 Abs. 2 BV nicht, wenn die Vorinstanz diese für die Parzellen Nrn. 2013 und 2016 nicht nach dem Baulandwert bemessen hat. Gegen die Höhe der von den kantonalen Instanzen bestimmten Entschädigung für Landwirtschaftsland von Fr. 10.--/m2 erhebt die Beschwerdeführerin keine Rügen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die kantonalen Behörden bei ihrer Festsetzung das ihnen zustehende Ermessen überschritten hätten.  
 
4.  
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten (Art. 66 BGG) und hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 BGG). Bei der Bemessung der Gerichtsgebühr ist dem vermögensrechtlichen Charakter der Streitigkeit angemessen Rechnung zu tragen. Die Gemeinde obsiegt in ihrem amtlichen Wirkungskreis und hat daher ebenfalls keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 4'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, der Einwohnergemeinde St. Niklaus und dem Kantonsgericht Wallis, Öffentlichrechtliche Abteilung, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 2. März 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Die Gerichtsschreiberin: Sauthier