8C_190/2023 19.12.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_190/2023  
 
 
Urteil vom 19. Dezember 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione, 
Gerichtsschreiberin Berger Götz. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Reto Ineichen, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 7. Februar 2023 (5V 22 323). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1959 geborene A.________ bezog seit 1. Juli 1998 eine ganze Rente der Invalidenversicherung bei einem Invaliditätsgrad von 100 % (Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 22. Dezember 1999). Die im Jahr 2005 durchgeführte Rentenrevision ergab keine Änderung des Invaliditätsgrades (Verfügung vom 17. November 2005). Unter anderem gestützt auf einen Bericht der B.________ AG vom 14. Juli 2014 bezüglich einer vom 17. April bis 17. Juni 2014 durchgeführten Observation reichte die Verwaltung wegen Verdachts auf ungerechtfertigten Leistungsbezug am 15. Dezember 2015 eine Strafanzeige gegen A.________ bei der Polizei ein. Mit unangefochten in Rechtskraft erwachsener Verfügung vom 18. Oktober 2018 stellte die IV-Stelle die laufenden Rentenleistungen vorsorglich per sofort ein. Das Kriminalgericht des Kantons Luzern sprach A.________ am 22. September 2020 des Betrugs, der mehrfachen ungetreuen Geschäftsbesorgung sowie der mehrfachen Urkundenfälschung schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Zudem wurde eine Ersatzforderung des Staates in der Höhe von Fr. 430'000.- erhoben. 
Zur Abklärung des Leistungsanspruchs holte die IV-Stelle unter anderem ein polydisziplinäres Gutachten des Zentrums für medizinische Begutachtung, Basel (ZMB), vom 19. April 2021 (inklusive ergänzender ZMB-Stellungnahme vom 9. August 2021) sowie ein psychiatrisches Gutachten des Dr. med. C.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 7. März 2022 ein. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens stellte die IV-Stelle die Rentenleistungen rückwirkend per 1. Oktober 2003 ein und hielt fest, die zu Unrecht bezogenen Leistungen seien gestützt auf Art. 25 ATSG zurückzuerstatten; hierüber werde eine separate Verfügung getroffen (Verfügung vom 22. August 2022). 
 
B.  
In teilweiser Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde änderte das Kantonsgericht Luzern die Verfügung vom 22. August 2022 mit der Feststellung ab, dass die ab 1. Mai 2007 zu Unrecht bezogenen Rentenleistungen zurückzuerstatten seien (Urteil vom 7. Februar 2023). 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils sei die Verfügung vom 22. August 2022 dahingehend abzuändern, dass die Leistungen nur rückwirkend ab 1. Oktober 2018 einzustellen seien, und damit sei auch festzustellen, dass er zu keinerlei Rückzahlungen verpflichtet sei; eventualiter sei die Angelegenheit zur ergänzenden Abklärung an das kantonale Gericht zurückzuweisen. 
Nach Beizug der Akten verzichtet das Bundesgericht auf einen Schriftenwechsel. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4). 
 
2.  
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie feststellte, es seien die ab 1. Mai 2007 zu Unrecht bezogenen Rentenleistungen zurückzuerstatten. Die Rechtmässigkeit der separat erlassenen Rückforderungsverfügung vom 28. Oktober 2022 kann demgegenüber im vorliegenden Verfahren nicht beurteilt werden. 
 
2.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Entsprechend den allgemeinen intertemporalrechtlichen Grundsätzen (vgl. BGE 144 V 210 E. 4.3.1) ist nach der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Rechtslage zu beurteilen, ob bis zu jenem Zeitpunkt eine rentenrelevante Änderung eingetreten ist. Demgemäss legt Rz. 9102 des Kreisschreibens des BSV über Invalidität und Rente in der Invalidenversicherung (KSIR) für erstmalig abgestufte bzw. befristete Rentenzusprachen und Revisionsfälle nach Art. 17 ATSG Folgendes fest: Ereignete sich die massgebliche Änderung vor dem 1. Januar 2022, so finden die Bestimmungen des IVG und diejenigen der IVV in der bis 31. Dezember 2021 gültigen Fassung Anwendung. Fand sie hingegen später statt, so sind die ab 1. Januar 2022 geltenden Bestimmungen des IVG und diejenigen der IVV heranzuziehen. Der Zeitpunkt der relevanten Änderung bestimmt sich nach Art. 88a IVV.  
Zwar erging die dem angefochtenen Urteil vom 7. Februar 2023 zugrunde liegende Verfügung erst nach dem 1. Januar 2022. Vorliegend steht aber eine vor diesem Zeitpunkt eingetretene und gemäss Art. 88a IVV zu berücksichtigende Änderung der tatsächlichen Verhältnisse zur Diskussion. Damit beurteilt sich die Streitigkeit in diesem Fall nach der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Rechtslage. 
 
2.2. Im angefochtenen Urteil bzw. in der Verfügung vom 22. August 2022, auf die das kantonale Gericht hinweist, sind die für die Beurteilung der Rückerstattungspflicht des Beschwerdeführers bezüglich der zu Unrecht bezogenen Rentenleistungen massgeblichen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen (Art. 109 Abs. 3 BGG).  
 
3.  
Das kantonale Gericht hat dem ZMB-Gutachten vom 19. April 2021, mit Ausnahme der psychiatrischen Beurteilung, und der psychiatrischen Expertise des Dr. med. C.________ vom 7. März 2022 Beweiswert zuerkannt. Gestützt darauf ist es davon ausgegangen, dass im Zeitpunkt der revisionsweisen Rentenaufhebung und auch rückwirkend, spätestens seit Vorliegen des erwerblichen Revisionsgrundes in Form der Gründung der D.________ GmbH, bei welcher der Beschwerdeführer am 10. Dezember 2001 als Gesellschafter mit Einzelzeichnungsbefugnis im Handelsregister eingetragen worden sei, in sämtlichen körperlich angepassten Beschäftigungen (wozu sowohl die angestammte als auch die derzeitige Tätigkeit gehöre) eine 100%ige Arbeitsfähigkeit bestanden habe. Da der Beschwerdeführer bereits ab Gründung der eigenen Gesellschaft am 10. Dezember 2001 wieder eine Erwerbstätigkeit aufgenommen und diese Veränderung in seinen erwerblichen Verhältnissen der IV-Stelle nicht gemeldet habe, müsse von einer Meldepflichtverletzung gemäss Art. 77 IVV ausgegangen werden. Der von Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV in der bis 31. Dezember 2014 in Kraft stehenden Fassung (hier also anwendbar für die Zeit vor 1. Januar 2015) geforderte Kausalzusammenhang zwischen der Meldepflichtverletzung und dem unrechtmässigen Leistungsbezug liege ebenfalls vor. Denn durch die Nichtmeldung der veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse sei die IV-Stelle zu Unrecht von einem gleichbleibenden Sachverhalt und damit von einem weiterhin bestehenden Rentenanspruch ausgegangen. Die ordnungsgemässe Meldung hätte seitens der Verwaltung zu weiteren Abklärungen geführt, die wegen der Meldepflichtverletzung unterblieben seien. Vor diesem Hintergrund habe die Invalidenrente rückwirkend auf den Zeitpunkt der ersten festgestellten Meldepflichtverletzung aufgehoben werden dürfen. Mit der vorsorglichen Einstellung der Invalidenrente am 18. Oktober 2018 sei die Rückforderung jedoch noch nicht beziffert worden und auch der Zeitraum der zurückzuerstattenden Leistungen sei darin nicht umschrieben. Erst mit dem Vorbescheid vom 16. Mai 2022 sei die beabsichtigte Rückforderung ausreichend präzisiert worden, indem die Rückforderung sämtlicher Rentenleistungen ab 1. Oktober 2003 in Aussicht gestellt worden sei. Da der Rückerstattungsanspruch aus einer strafbaren Handlung hergeleitet werde, betrage die Verwirkungsfrist 15 Jahre (Art. 25 Abs. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 97 Abs. 1 lit. b und Art. 146 Abs. 1 StGB), womit die seit 1. Mai 2007 bezahlten Rentenleistungen zurückzuerstatten seien. 
 
4.  
Die Vorbringen des Beschwerdeführers vermögen an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Insbesondere ist nicht erkennbar, worin die gerügte offensichtlich unkorrekte Ermittlung des rechtlich relevanten Sachverhalts und die geltend gemachte Verletzung von Bundesrecht (angeführt werden namentlich Art. 25 ATSG, Art. 6 StGB, Art. 29 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 BV sowie Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in Kraft getreten für die Schweiz am 1. November 1988, geändert durch das Protokoll vom 11. Mai 1994 [SR 0.101.07]) bestehen sollen. 
 
4.1. Es trifft zwar zu, dass die IV-Stelle an das - vorliegend verurteilende - Strafurteil gebunden ist (BGE 138 V 74 E. 6.1). Soweit der Beschwerdeführer aus dieser Bindungswirkung allerdings ableiten will, die Rückerstattungsansprüche der Invalidenversicherung seien als im Strafverfahren abschliessend beurteilt zu qualifizieren, kann ihm jedoch nicht gefolgt werden. Vielmehr hatte die IV-Stelle nach Entdeckung des Revisionsgrundes die Pflicht, über den Rentenanspruch gestützt auf beweiskräftige medizinische Unterlagen neu zu befinden. Mit Blick auf die dem Beschwerdeführer vorwerfbare Meldepflichtverletzung konnte sich die fachärztliche Abklärung dabei nicht auf die aktuelle Gesundheitssituation beschränken, sondern musste auch die Entwicklung seit dem im Dezember 2001 mit der Aufnahme der Erwerbstätigkeit in der eigenen Gesellschaft gesetzten Revisionsgrund umfassen. Die im Strafurteil vom 22. September 2020 festgesetzte Ersatzforderung des Staates von Fr. 430'000.-, bzw. die darin enthaltene Forderung von Fr. 59'124.-, entsprechend dem Deliktsbetrag im Zusammenhang mit dem Betrug zum Nachteil der IV-Stelle, steht der Feststellung der Rückerstattungspflicht hinsichtlich der zu Unrecht bezogenen Rentenleistungen der Invalidenversicherung durch Verwaltung und Vorinstanz nicht entgegen. Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die im Strafurteil festgelegte Ersatzforderung bei der Berechnung des Rückforderungsbetrags zu berücksichtigen sein wird, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens (vgl. dazu die nach der Rentenaufhebungsverfügung vom 22. August 2022 ergangene Rückforderungsverfügung vom 28. Oktober 2022).  
 
4.2. Die Berufung auf den Grundsatz, dass der Beschwerdeführer wegen der gleichen Straftat nicht erneut verfolgt werden dürfe, unter Nennung von Art. 11 Abs. 1 StPO, Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK und Art. 14 Abs. 7 UNO-Pakt II (SR 0.103.2), ist schon deshalb nicht stichhaltig, weil die Rückforderung zu Unrecht bezogener Rentenleistungen keine Bestrafung darstellt. Die Rückerstattungspflicht hinsichtlich unrechtmässig bezogener Leistungen ist Ausdruck des Legalitätsprinzips. Damit wird die nachträgliche, respektive rückwirkende Wiederherstellung der gesetzlichen Ordnung angestrebt (vgl. JOHANNA DORMANN, in: Basler Kommentar, Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts, 2020, N. 13 zu Art. 25 ATSG).  
 
4.3. Aus dem Einwand, es sei nicht nachgewiesen, dass der Beschwerdeführer bereits ab 2001 eine 100%ige Erwerbstätigkeit ausgeübt habe, lässt sich ebenfalls nichts zu seinen Gunsten ableiten. Die Vorinstanz legte einlässlich dar, aus welchen Gründen auf die gutachterliche Einschätzung einer 100%igen Arbeitsfähigkeit in der angestammten und in einer Verweistätigkeit seit dem Jahr 2001 abgestellt werden kann. Ob der Beschwerdeführer seine uneingeschränkte Leistungsfähigkeit bereits ab Dezember 2001 in einem Vollzeitpensum umsetzte oder ob er seine Erwerbstätigkeit in den Folgejahren erst allmählich steigerte, ist für die Invaliditätsbemessung nicht relevant. Denn mit Blick auf die 100%ige Arbeitsfähigkeit auch im angestammten Tätigkeitsbereich bestand unabhängig von den damaligen Arbeitspensen (und den erwirtschafteten Einkünften) klarerweise keine Invalidität und deshalb auch kein Anspruch auf eine Invalidenrente mehr.  
 
5.  
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer keine Verletzung von Bundes- oder Staatsvertragsrecht aufzuzeigen vermag. Die Beschwerde ist vielmehr offensichtlich unbegründet. Sie wird daher im vereinfachten Verfahren nach Art. 109 Abs. 2 lit. a BGG ohne Durchführung eines Schriftenwechsels, mit summarischer Begründung und unter Hinweis auf die Erwägungen im angefochtenen Entscheid (Art. 109 Abs. 3 BGG) erledigt. Damit hat es mit der vorinstanzlich auf den 1. Mai 2007 festgesetzten Rückerstattungspflicht bezüglich der zu Unrecht bezogenen Rentenleistungen sein Bewenden. 
 
6.  
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 19. Dezember 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz