9F_20/2022 08.01.2024
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9F_20/2022  
 
 
Urteil vom 8. Januar 2024  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Bundesrichter Beusch, 
Bundesrichterin Scherrer Reber, 
Gerichtsschreiber Nabold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Oskar Luginbühl, 
Gesuchsteller, 
 
gegen  
 
Ausgleichskasse Appenzell Ausserrhoden, Neue Steig 15, Postfach, 9102 Herisau, 
Gesuchsgegnerin. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung, 
 
Revisionsgesuch gegen das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts vom 4. Mai 2012 (9C_617/2011 [I 10 71]). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Verfügung vom 9. September 2010 und Einspracheentscheid vom 20. Oktober 2010 stellte die Ausgleichskasse Appenzell Ausserrhoden die Witwerrente des 1953 geborenen A.________ auf den 30. November 2010 ein, weil seine jüngste Tochter im November 2010 das 18. Altersjahr vollendet habe und damit seine Anspruchsberechtigung erloschen sei. Die hiegegen erhobenen Beschwerden des A.________ wies das Obergericht des Kantons Appenzell Ausserrhoden mit Urteil vom 22. Juni 2011 und das Bundesgericht mit Urteil 9C_617/2011 vom 4. Mai 2012 ab. Der aufgrund einer Individualbeschwerde des A.________ mit der Sache befasste Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte mit Urteil der Grossen Kammer vom 11. Oktober 2022 (78630/12) fest, dass die Schweiz durch das Urteil 9C_617/2011 vom 4. Mai 2012 Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK verletzt hat. 
 
B.  
Mit Eingabe vom 5. Dezember 2022 ersucht A.________ um Revision des bundesgerichtlichen Urteils und beantragt, es sei ihm unter Aufhebung des kantonalen Gerichtsurteils auch über den 1. Dezember 2010 hinaus eine Witwerrente zuzusprechen. 
Nachdem das Bundesamt für Justiz dem Bundesgericht am 24. Februar 2023 angezeigt hatte, mit dem Gesuchsteller Vergleichsverhandlungen zu führen, sistierte das Bundesgericht das Revisionsverfahren in der Zeit vom 28. Februar bis 8. Juni 2023. Bereits am 25. April 2023 ersuchte das Bundesamt für Justiz um Abschreibung des Prozesses, da dieser durch sein Vergleichsangebot gegenstandslos geworden sei. Demgegenüber hielt A.________ in seiner Eingabe vom 25. Juli 2023 an seinen Anträgen fest und stellte überdies ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Das Bundesamt für Sozialversicherungen und die Ausgleichskasse Appenzell Ausserrhoden verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Urteile des Bundesgerichts erwachsen am Tag ihrer Ausfällung in Rechtskraft (Art. 61 BGG). Eine nochmalige Überprüfung der einem Urteil des Bundesgerichts zu Grunde liegenden Streitsache ist grundsätzlich ausgeschlossen. Das Gericht kann auf seine Urteile nur zurückkommen, wenn einer der in den Art. 121 ff. BGG abschliessend aufgeführten Revisionsgründe vorliegt. Die um Revision eines bundesgerichtlichen Urteils ersuchende Person hat gemäss Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG namentlich einen vom Gesetz vorgesehenen Revisionsgrund zu nennen und aufzuzeigen, weshalb das revisionsbetroffene Urteil an einem revisionserheblichen Mangel leidet; fehlt eine entsprechende Begründung, wird auf das Gesuch nicht eingetreten (vgl. Urteile 2F_3/2022 vom 19. Januar 2022 E. 2.1; 2F_37/2021 vom 11. Januar 2022 E. 3; 2F_35/2021 vom 9. Dezember 2021 E. 2.1; 2F_30/2021 vom 12. November 2021 E. 2).  
 
1.2. Das Revisionsverfahren vor Bundesgericht verläuft in mehreren Schritten. Zunächst prüft das Bundesgericht die Zulässigkeit des Revisionsgesuchs. Für Fragen, die nicht in Kapitel 7 des Bundesgerichtsgesetzes betreffend die Revision behandelt werden, sind die allgemeinen Bestimmungen dieses Gesetzes anwendbar. Erachtet das Bundesgericht das Revisionsgesuch als zulässig, tritt es auf das Verfahren ein und prüft, ob die Begründung des Gesuchs zutrifft. Wenn dies der Fall ist, fällt das Bundesgericht, normalerweise in einem einzigen Urteil, nacheinander zwei verschiedene Entscheide. Im ersten hebt es das Urteil auf, das Gegenstand des Revisionsgesuchs ist, und im zweiten befindet es über die Beschwerde, mit der es sich zuvor befasst hatte (vgl. Art. 128 Abs. 1 BGG; zum Ganzen: BGE 144 I 214 E. 1.2 mit Hinweisen). Sind die Voraussetzungen von Art. 122 BGG erfüllt, ist das vorherige Verfahren wieder aufzunehmen. Die Wiederaufnahme wirkt in dem Sinne ex tunc, als das Bundesgericht und die Verfahrensbeteiligten in jenen Zustand versetzt werden, in welchem sie sich vor der damaligen Urteilsfällung befunden hatten (BGE 144 I 214 E. 1.2 mit Hinweisen).  
 
1.3. Der Streitgegenstand wird bei einer Revision durch das zu revidierende Urteil vorgegeben. Er bestimmt sich folglich nach dem Dispositiv des aufzuhebenden Urteils und den in jenem Verfahren gestellten Rechtsbegehren (vgl. BGE 136 II 457 E. 4.2; 147 I 494 E. 1.3 mit weiteren Hinweisen). Im Verfahren vor Bundesgericht, das zum beanstandeten Urteil führte, beantragte der Gesuchsteller die Weiterausrichtung der Witwerrente auch über den 1. Dezember 2010 hinaus. Soweit der Gesuchsteller im Revisionsverfahren neben der Weiterausrichtung der Rente auch den Ausgleich eines weitergehenden mittelbaren Schadens verlangt, ist auf das Gesuch somit von vornherein nicht einzutreten.  
 
2.  
 
2.1. Um die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, welche die Hohen Vertragsparteien in der EMRK und den Protokollen dazu übernommen haben, wird gemäss Art. 19 EMRK ein Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte errichtet. Der Gerichtshof kann gemäss Art. 34 EMRK von jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe, die behauptet, durch eine der Hohen Vertragsparteien in einem der in der EMRK oder den Protokollen dazu anerkannten Rechte verletzt zu sein, mit einer Beschwerde befasst werden. Die Hohen Vertragsparteien sind nach Art. 46 Ziff. 1 EMRK verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. In welcher Art und Weise eine Hohe Vertragspartei der EMRK eine durch den Gerichtshof festgestellte Konventionsverletzung beseitigt, wird nicht durch die Konvention selber bestimmt; die wirksame Beseitigung der Konventionsverletzung liegt vielmehr in der Verantwortung der betroffenen Hohen Vertragspartei (vgl. auch Heiko Sauer, Zur vorrangigen Ausräumung festgestellter Konventionsverletzungen - Völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Wirkungen von Urteilen des EGMR im deutschen Recht, EuGRZ 50 [2023], S. 305 ff. und Julia Haak, Die Wirkung und Umsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Diss. Passau 2017, S. 20 f.).  
 
2.2. Für die Schweizerische Eidgenossenschaft bestimmt Art. 122 BGG, dass die Revision eines Entscheids des Bundesgerichts wegen Verletzung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK) verlangt werden kann, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem endgültigen Urteil (Art. 44 EMRK) festgestellt hat, dass die EMRK oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, oder den Fall durch eine gütliche Einigung (Art. 39 EMRK) abgeschlossen hat (Art. 122 lit. a BGG), eine Entschädigung nicht geeignet ist, die Folgen der Verletzung auszugleichen (Art. 122 lit. b BGG) und die Revision notwendig ist, um die Verletzung zu beseitigen (Art. 122 lit. c BGG).  
 
2.3. Das Revisionsgesuch wegen Verletzung der EMRK ist innert 90 Tagen, nachdem das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nach Artikel 44 EMRK endgültig geworden ist, beim Bundesgericht einzureichen (Art. 124 Abs. 1 lit. c BGG). Nach Ablauf von zehn Jahren nach der Ausfällung des Entscheids kann die Revision gemäss Art. 124 Abs. 2 BGG abgesehen von hier nicht interessierenden Ausnahmen an sich nicht mehr verlangt werden.  
 
3.  
 
3.1. Das Bundesamt für Justiz erklärte am 25. April 2023, dass die Schweizerische Eidgenossenschaft bereit sei und sich verpflichte, dem Gesuchsteller nach Abschreibung des Verfahrens den Betrag von Fr. 63'847.- (zuzüglich Verzugszins ab 1. Dezember 2012) für die entgangenen Rentenleistungen nachzuzahlen. Der Gesuchsteller hat die Berechnung des Nachzahlungsbetrages nicht substanziiert bestritten, sondern lediglich den Ausgleich eines weitergehenden Schadens verlangt. Auf die Frage nach dem Ausgleich eines weitergehenden Schadens kann im vorliegenden Verfahren nicht eingegangen werden (vgl. E. 1.3). Dass unter diesen Umständen aus anderen Gründen ein das Revisionsgesuch gutheissendes bundesgerichtliches Urteil notwendig wäre, vermag der Beschwerdeführer nicht darzulegen. Soweit er befürchtet, das rechtskräftige Urteil 9C_612/2011 vom 4. Mai 2012 könnte ihm bei der allfälligen Geltendmachung zusätzlicher Leistungen und Vergünstigungen, für welche seines Erachtens ein positiver Entscheid über seinen Anspruch auf Witwerrente Grundlage sein würde, entgegengehalten werden, trifft zwar zu, dass den Urteilen des EGMR keine kassatorische Wirkung zukommt (vgl. etwa Solveig Haß, Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - Charakter, Bindungswirkung und Durchsetzung, Frankfurt a.M. 2006, S. 55, und Jochen Abr. Frowein, The Binding Force of ECHR Judgements and its Limits, in: Human Rigths, Democracy and the Rule of Law - Liber amicorum Luzius Wildhaber, Zürich 2007, S. 261); die Bestätigung seines Anspruchs auf die geltend gemachte Witwerrente ergibt sich jedoch ohne Weiteres aus dem vorliegenden Urteil in Verbindung mit dem Urteil der Grossen Kammer am EGMR vom 11. Oktober 2022. Soweit auf das Revisionsgesuch mit Blick auf diese Erwägung überhaupt eingetreten werden könnte, erweist sich die Revision aufgrund der Bereitschaft der Eidgenossenschaft, die Rentenleistungen (zuzüglich Verzugszins ab 1. Dezember 2012) unabhängig von der Durchführung eines Revisionsverfahrens nachzuzahlen, als nicht notwendig im Sinne von Art. 122 lit. c BGG, um die Konventionsverletzung zu beseitigen. Entsprechend ist das Verfahren in diesem Umfang als gegenstandslos geworden abzuschreiben.  
 
3.2. Bei diesem Verfahrensausgang braucht auf die Frage der Tragweite von Art. 124 Abs. 2 BGG nicht weiter eingegangen zu werden.  
 
4.  
 
4.1. Mit Blick auf die Gesamtumstände rechtfertigt es sich, auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG); insoweit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.  
 
4.2. Der Gesuchsteller stellte während laufendem Verfahren, am 25. Juli 2023, ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Zu diesem Zeitpunkt war das Revisionsverfahren, soweit es um die Nachzahlung der Rente ging, bereits gegenstandslos geworden. Der Versuch, im Revisionsverfahren einen nicht zum Streitgegenstand gehörenden weiteren Schaden geltend zu machen, muss als aussichtslos bezeichnet werden. Demgemäss ist das Gesuch wegen Aussichtslosigkeit abzuweisen, ohne dass näher geprüft zu werden braucht, inwieweit der Gesuchsteller nach Erhalt der von der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Aussicht gestellten Nachzahlung überhaupt noch bedürftig im Sinne von Art. 64 BGG sein wird.  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Auf das Revisionsgesuch wird, soweit es nicht gegenstandslos geworden ist, nicht eingetreten. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen, soweit es nicht gegenstandslos geworden ist. 
 
3.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht Appenzell Ausserrhoden, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und dem Bundesamt für Justiz (BJ) schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 8. Januar 2024 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Nabold