8C_506/2022 21.06.2023
Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_506/2022  
 
 
Urteil vom 21. Juni 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Abrecht, 
Gerichtsschreiberin Durizzo. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Kaspar Gehring, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 9. Juni 2022 (IV.2021.00754). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. A.________, geboren 1991, war seit Juli 2017 im Strassenbau beschäftigt und verletzte sich am 9. August 2017 auf einer Baustelle am rechten Ellbogen. Im Dezember 2017 meldete er sich unter Hinweis auf eine dadurch bedingte Arbeitsunfähigkeit bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Beizug der Akten der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) lehnte die IV-Stelle des Kantons Zürich einen Anspruch auf eine Invalidenrente mit Verfügung vom 3. Dezember 2018 ab.  
 
A.b. Im April 2019 liess A.________ durch seine behandelnde Ärztin Dr. med. B.________, FMH Psychiatrie und Psychotherapie, eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes in psychiatrischer Hinsicht melden. Vom 23. Dezember 2018 bis 12. Februar 2019 hatte er sich in der Psychiatrischen Klinik C.________ aufgehalten, seit 18. Februar 2019 wurde er ambulant durch Dr. med. B.________ betreut. Die IV-Stelle gewährte berufliche Massnahmen (Potentialabklärung vom 2. bis 27. September 2019; berufspraktische Vorbereitung vom 30. September 2019 bis 30. September 2020; Arbeitsversuch mit Job-Coaching). Nach deren Abschluss liess sie sich erneut durch den Hausarzt sowie durch Dr. med. B.________ Bericht erstatten. Danach war der Gesundheitszustand nach Remission der depressiven Beschwerden stabil und konnte die psychiatrische Behandlung am 25. Januar 2021 abgeschlossen werden. Mit Verfügung vom 11. November 2021 lehnte die IV-Stelle einen Anspruch auf Invalidenrente ab.  
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 9. Juni 2022 ab. 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des kantonalen Urteils seien ihm nach weiteren Abklärungen durch die IV-Stelle die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen).  
 
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4).  
 
2.  
Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die rentenablehnende Verfügung der IV-Stelle vom 11. November 2021 bestätigte. Zur Frage steht dabei, ob eine zwischenzeitlich eingetretene Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes hätte berücksichtigt beziehungsweise weitergehend hätte abgeklärt werden müssen. 
 
3.  
Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar (BGE 148 V 174 E. 4.1). 
 
4.  
Das kantonale Gericht hat die Bestimmung und die Grundsätze zur Rentenrevision nach Art. 17 ATSG (BGE 144 I 103 E. 2.1; 141 V 9 E. 2.3) zutreffend dargelegt. Hervorzuheben ist, dass das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Verfügungserlasses eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 167 E. 1). Tatsachen, die sich erst später verwirklichen, sind jedoch insoweit zu berücksichtigen, als sie mit dem Streitgegenstand in engem Sachzusammenhang stehen und geeignet sind, die Beurteilung im Zeitpunkt des Verfügungserlasses zu beeinflussen (Urteil 8C_95/2017 vom 15. Mai 2017 E. 5.1 mit Hinweisen). 
 
5.  
 
5.1. Die Vorinstanz stellte fest, dass sich der psychische Gesundheitszustand vor der Neuanmeldung im April 2019 verschlechtert habe und der Beschwerdeführer deshalb stationär insbesondere zur Behandlung einer depressiven Störung hospitalisiert worden sei. Die Weiterbehandlung sei ab 18. Februar 2019 durch Dr. med. B.________ erfolgt. Nach einer Remission der depressiven Symptomatik hätten berufliche Massnahmen durchgeführt werden können. Gestützt auf den Bericht von Dr. med. B.________ vom 18. März 2021 sei ausgewiesen, dass im Zeitpunkt, in dem - nach Beendigung der beruflichen Massnahmen - ein Rentenanspruch nach der Neuanmeldung frühestens habe entstehen können, keine psychiatrischen Diagnosen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit mehr vorgelegen hätten. Ab März 2021 bis zum Verfügungserlass am 11. November 2021 seien zudem lediglich sporadische Konsultationen beim Hausarzt erfolgt, letztmals im September 2021 wegen eines Atemwegsinfekts. Angesichts der spärlichen Angaben des Beschwerdeführers in seinem Einwand gegen den Vorbescheid sei die IV-Stelle nicht gehalten gewesen, weitere Abklärungen in die Wege zu leiten. Daran könnten die vom Beschwerdeführer eingereichten Bescheinigungen des Hausarztes über eine Arbeitsunfähigkeit vor Verfügungserlass nichts ändern, denn es liessen sich daraus keine Diagnosen entnehmen. Ausser Acht zu lassen sei schliesslich, so das kantonale Gericht, dass sich der Beschwerdeführer am 22. November 2021 erneut in Behandlung bei Frau Dr. med. B.________ begeben hatte und am 1. Dezember 2021 zu einer weiteren Hospitalisation in die Psychiatrische Klinik C.________ eingetreten war.  
 
5.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, der Sachverhalt sei zum Zeitpunkt des Verfügungserlasses nicht hinreichend abgeklärt gewesen. Er habe in seinem Einwand auf eine Verschlechterung seines psychischen Gesundheitszustandes hingewiesen, nachdem er - mittels Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung belegt - im November 2021 seinen Hausarzt habe aufsuchen und nachfolgend seine behandelnde Psychiaterin habe konsultieren müssen. Dass eine gravierendere gesundheitliche Störung vorgelegen habe, beweise denn auch die Notfallintervention in der Psychiatrischen Klinik C.________. Wenn er, so der Beschwerdeführer, die entsprechenden Berichte wegen des unter Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes und treuwidrig verfrüht erfolgten Verfügungserlasses nicht rechtzeitig zuvor, sondern erst nachträglich beigebracht habe, könne ihm dies nicht zum Nachteil gereichen. Dementsprechend sei ihm auch nicht vorzuwerfen, diese Berichte liessen den Schluss auf eine vor Verfügungserlass eingetretene Verschlechterung nicht zu. Dass sich im hausärztlichen Bericht vom 28. September 2021, also rund zwei Monate zuvor, noch keine Hinweise auf eine Verschlechterung ergeben hätten, habe die Beschwerdegegnerin entgegen der Vorinstanz nicht davon entlasten können, weitere Abklärungen zu veranlassen, nachdem er ihr rechtsgenüglich mitgeteilt habe, erneut seine Psychiaterin konsultieren zu müssen.  
 
6.  
Gestützt auf die in Rechtskraft erwachsene Verfügung vom 3. Dezember 2018, in der die Beschwerdegegnerin insbesondere auf die Untersuchung des Suva-Kreisarztes vom 9. Februar 2018 abstellte, steht fest, dass der Beschwerdeführer wegen verbleibender unfallbedingter Einschränkungen in seiner angestammten Tätigkeit als Strassenbauer nicht mehr arbeitsfähig ist. Mit der verbliebenen Arbeitsfähigkeit konnte er indessen in leidensangepassten Tätigkeiten noch ein rentenausschliessendes Einkommen erzielen. In einer solchen Konstellation entsteht, unter Vorbehalt insbesondere der Voraussetzung des Ablaufs von sechs Monaten seit Geltendmachung des Anspruchs nach Art. 29 Abs. 1 IVG, bei Verschlechterung des Gesundheitszustandes ein Rentenanspruch, sobald die Invalidität mindestens 40 % beträgt (Urteil 9C_878/2017 vom 19. Februar 2018 E. 5.3 mit Hinweisen). 
Mit seinem Einwand zum Vorbescheid vom 6. Oktober 2021 machte der Beschwerdeführer geltend, sein psychischer Gesundheitszustand habe sich jüngst verschlechtert und er habe erneut Dr. med. B.________ kontaktieren müssen. Im vorinstanzlichen Verfahren reichte er Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen seines Hausarztes ab 5. bis 26. November 2021, eine Mitteilung von Dr. med. B.________ über die Wiederaufnahme der Therapie am 22. November 2021 sowie den Bericht über den Eintritt in die Psychiatrische Klinik C.________ zu einer zweiten Hospitalisation am 1. Dezember 2021 ein. Es ist somit erstellt, dass eine Wiederaufnahme der psychiatrischen Behandlung lediglich rund zehn Tage nach dem Verfügungserlass am 11. November 2021 erfolgte. Zudem bescheinigte der Hausarzt eine Arbeitsunfähigkeit ab 5. November 2021 und damit vor Verfügungserlass. Es liess sich damit nicht ausschliessen, dass die Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes bereits vor dem Verfügungserlass eingetreten war. Das kantonale Gericht wäre, insbesondere auch weil die Neuanmeldung im April 2019 aus psychischen Gründen erfolgt war, gehalten gewesen, diese Tatsachen mitzuberücksichtigen, auch wenn zum Zeitpunkt des Verfügungserlasses noch keine entsprechenden Beweismittel vorlagen (oben E. 4). Angesichts der anlässlich der fürsorgerischen Unterbringung am 1. Dezember 2021 festgestellten psychotischen Symptomatik bei bipolarer Störung wäre eine weitergehende Abklärung der Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers zur Beurteilung eines allfälligen Rentenanspruchs unerlässlich gewesen. Die Sache ist zu diesem Zweck an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. 
 
7.  
Die Gerichtskosten werden der unterliegenden IV-Stelle auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Zudem hat sie dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen (Art. 67 und 68 Abs. 5 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 9. Juni 2022 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 11. November 2021 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Zürich zurückgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 21. Juni 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo