9C_31/2023 13.11.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_31/2023  
 
 
Urteil vom 13. November 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Nünlist. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen 
vom 24. November 2022 (IV 2022/18). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1978 geborene A.________ meldete sich am 29. Dezember 2003 bei der Eidgenössischen Invalidenversicherung (IV) zum Rentenbezug an. Nach Abklärungen - unter anderem infolge einer Rückweisung der Sache an die Verwaltung mit Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 3. März 2011 - wies die IV-Stelle des Kantons St. Gallen den Anspruch auf eine Invalidenrente mit Verfügung vom 29. August 2012 ab. Medizinische Grundlage der Verfügung bildete ein Gutachten der Klinik B.________ vom 2. März 2012. Die Verfügung erwuchs unangefochten in Rechtskraft. 
Am 30. März 2015 meldete sich die Versicherte unter Geltendmachung einer Verschlimmerung erneut zum Leistungsbezug an. Wiederum folgten Abklärungen. Nachdem die IV-Stelle auf die Neuanmeldung mit Verfügung vom 25. September 2015 nicht eingetreten war, hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 30. Oktober 2017 teilweise gut und wies die Sache zur materiellen Prüfung des Rentenanspruchs an die IV-Stelle zurück. Auf die im Rahmen des Verfahrens beantragte Wiedererwägung der Verfügung vom 29. August 2012 trat es nicht ein. Am 21. April 2021 erstattete die C.________ AG ein bidisziplinäres (rheumatologisch/psychiatrisches) Gutachten. Auf dieser Grundlage sprach die IV-Stelle der Versicherten mit Verfügung vom 22. Dezember 2021 rückwirkend ab 1. September 2015 eine ganze Invalidenrente zu. 
 
B.  
Die gegen die Verfügung vom 22. Dezember 2021 erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 24. November 2022 ab. 
 
C.  
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, es sei ihr unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids rückwirkend ab dem 12. Februar 2003 eine ganze Invalidenrente zu gewähren. Eventualiter sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zwecks weiteren Abklärungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht wird ein zweiter Schriftenwechsel beantragt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann ihre Sachverhaltsfeststellungen von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; zum Ganzen BGE 145 V 57 E. 4). 
 
2.  
Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) sowie des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) in den bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassungen anwendbar. 
 
3.  
 
3.1. Streitig ist der Beginn des Rentenanspruchs der Beschwerdeführerin. Zu prüfen ist einzig, ob Bundesrecht verletzt wurde, indem die Vorinstanz den Anspruch auf eine ganze Invalidenrente erst ab dem 1. September 2015 (Neuanmeldung vom März 2015, Art. 29 Abs. 1 IVG) und nicht bereits ab dem 12. Februar 2003 bejaht hat.  
 
3.2. Im angefochtenen Entscheid wurden die massgeblichen rechtlichen Grundlagen korrekt dargelegt. Es betrifft dies namentlich die Erwägungen zur Wiedererwägung und zur prozessualen Revision (Art. 53 Abs. 1 und 2 ATSG; BGE 143 V 105 E. 2.3, 141 V 585 E. 5.4, Urteil 9C_317/2020 vom 10. Februar 2021 E. 2.2; vgl. auch BGE 138 V 324 E. 3.3). Darauf wird verwiesen.  
 
4.  
Das kantonale Gericht hat ein Zurückkommen auf die Verfügung vom 29. August 2012 sowohl auf der Grundlage einer prozessualen Revision (Art. 53 Abs. 1 ATSG) wie auch einer Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG) verneint. Ebenfalls abschlägig beurteilt hat die Vorinstanz eine ungerechtfertigte Bereicherung der Beschwerdegegnerin im Zeitraum zwischen 2003 und 2014. 
 
5.  
 
5.1. Vorab ist zur gerügten Gehörsverletzung mit Verweis auf Art. 6 EMRK und Art. 29 Abs. 2 BV im Sinne einer Verletzung der Begründungspflicht durch die Vorinstanz (vgl. BGE 145 IV 99 E. 3.1 mit Hinweisen) Folgendes auszuführen: Die aus dem verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör fliessende Verpflichtung der Behörde, ihren Entscheid zu begründen, verlangt nicht, dass sich diese mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt. Es liegt keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beziehungsweise der Begründungspflicht vor, wenn eine sachgerechte Anfechtung des vorinstanzlichen Entscheids möglich war (vgl. BGE 142 III 433 E. 4.3.2 mit Hinweisen; Urteil 9C_473/2021 vom 21. Februar 2022 E. 4.3.2). Die Vorinstanz hat sich mit der unrichtigen Rechtsanwendung sowie der Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes durch die Beschwerdegegnerin - wenn auch knapp - auseinandergesetzt. Die Beschwerdeführerin war aufgrund der Ausführungen in der Lage, sich ein Bild darüber zu machen, von welchen Gedanken sich das kantonale Gericht leiten liess respektive auf welche Grundlage es seine Begründung stützte. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt nicht vor.  
 
5.2. Die Beschwerdeführerin legt nicht dar, inwiefern der Sachverhalt hinsichtlich der Beantwortung der Frage nach der unrichtigen Rechtsanwendung im Rahmen des Verfügungserlasses vom 29. August 2012 nicht vollständig abgeklärt gewesen sein soll. Die Rügen betreffen vielmehr die Sachverhaltswürdigung und können daher keine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes begründen.  
 
5.3. Soweit die Vorbringen sich gegen BGE 130 V 352 richten, ist darauf hinzuweisen, dass unter anderem dieser Kritik mit der Praxisänderung in BGE 141 V 281 Rechnung getragen wurde. Eingegangen wurde im Leitentscheid insbesondere auf die beweisrechtliche Problematik (E. 3.4 - 3.6 des Leitentscheids).  
Trotzdem ist im Zusammenhang mit der Praxisänderung ein Wiedererwägungsgrund gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG zu verneinen (BGE 141 V 585 E. 5.4 mit Hinweis, vgl. auch E. 5.3). Daran ändern die Ausführungen der Beschwerdeführerin nichts. Inwiefern der vorliegende Fall ein Abweichen rechtfertigen sollte, ist nicht ersichtlich, war die (nicht selten grosse) Divergenz zwischen dem medizinischen Beweisergebnis und der Verfügung doch geradezu die Standardkonstellation einer Abweisung des Rentenanspruchs aus rechtlichen Gründen. Der Einwand, die Rechtsprechungsänderung sei ein "Beleg für die zweifellose Unrichtigkeit im Sinne der ausserordentlichen Rechtsmittel" zielt daher ins Leere. 
Die Beschwerdeführerin scheint zu verkennen, dass es somit einzig darum geht, ob das Recht aus damaliger Sicht, unter der damaligen Sach- und Rechtslage, falsch angewendet worden ist oder nicht. Durch die Verneinung dieser Frage findet - entgegen ihrer Ansicht - keine Übertragung der alten Rechtsprechung ins neue Recht statt, sondern es wird eine Korrektur unter Berücksichtigung der damaligen Gesichtspunkte abgelehnt. Die Rügen betreffend die Verletzung von Art. 6, 8 und 14 EMRK sowie Art. 53 Abs. 2 ATSG verfangen nicht. 
 
5.4. Die Beschwerdeführerin will weiter das C.________-Gutachten vom 21. April 2021 als Revisionstitel gemäss Art. 53 Abs. 1 ATSG qualifiziert sehen. Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass die Expertise weder eine neue erhebliche Tatsache beweist, noch den Beweis für eine damals bekannte, aber unbewiesen gebliebene Tatsache erbringt. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin stellt der Nachweis der vollständigen Leistungsunfähigkeit keine neue Tatsache dar, wurde hiervon aus medizinischer Sicht doch unbestritten bereits vor Verfügungserlass am 29. August 2012 ausgegangen. Soweit die Beschwerdeführerin das C.________-Gutachten als Beweis für die Unüberwindbarkeit ihres Leidens sehen will, ist darauf hinzuweisen, dass hinsichtlich der diesbezüglich relevanten Tatsachen gemäss unstrittiger Feststellung des kantonalen Gerichts seit Verfügungserlass im Jahre 2012 Veränderungen eingetreten sind (vorinstanzliche Erwägungen 3.5 ff. S. 13 f.).  
 
5.5. Ist auf die Verfügung vom 29. August 2012 nicht zurückzukommen, erübrigen sich Weiterungen zur ungerechtfertigten Bereicherung der Beschwerdegegnerin. Die Beschwerde ist unbegründet.  
 
6.  
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 13. November 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Nünlist