7B_259/2022 08.04.2024
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_259/2022  
 
 
Urteil 8. April 2024  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichter Hurni, Hofmann, 
Gerichtsschreiber Eschle. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Adam Arend, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Güterstrasse 33, Postfach, 8010 Zürich, 
2. B.________, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Unterlassung der Nothilfe; rechtliches Gehör etc., 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 5. Juli 2022 (SB210220-O/U/ad). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Anklage vom 1. November 2021 wirft die Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich A.________ folgenden Sachverhalt vor: 
 
"Die Beschuldigten C.________, D.________ sowie A.________ haben je einem Menschen, der in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, nicht geholfen, obwohl es ihnen den Umständen nach je zugemutet werden konnte, indem sie sich je, jeder für sich, nicht um den Verletzten B.________ kümmerten, weder Nachschau nach ihm hielten noch ärztliche Hilfe im Sinne von Rettungsdiensten und/oder die Polizei avisierten, nachdem B.________ am Samstag, 1. Juni 2019, ca. 23:43 Uhr auf nicht näher bekannte Art und Weise aus dem Fenster der Wohnung von A.________ im 2. Stockwert der U.________ Strasse yyy in V.________ über 9,5 Meter in die Tiefe auf den Asphaltboden der Tiefgarageneinfahrt auf der Rückseite der Liegenschaft stürzte, was alle drei Beschuldigten zeitnah - unmittelbar nach dem Fall aus dem Fenster - wussten und gestützt auf welche Gegebenheit die Beschuldigten je mit dem Schlimmsten - mitunter auch mit dem Ableben des Geschädigten - rechneten. Trotzdem verliessen sie alle drei den Ort des Geschehens, alarmierten weder Polizei noch Sanität, und kümmerten sich auf keine Art und Weise um den nach dem Sturz aus dem Fenster mit schweren Beinverletzungen in konkreter Lebensgefahr in der Einfahrt der Sammelgarage am Boden liegen gebliebenen B.________, wo Letzterer infolge seiner Beinfrakturen hätte verbluten und zusätzlich von einem passierenden Auto hätte überrollt werden können." 
 
 
B.  
 
B.a. Mit Urteil vom 14. Januar 2021 sprach das Bezirksgericht Zürich A.________ und ihre Mitbeschuldigten der Unterlassung der Nothilfe im Sinne von Art. 128 Abs. 1 StGB schuldig und bestrafte sie mit einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je Fr. 30.--, bedingt bei einer Probezeit von 2 Jahren.  
 
B.b. Mit Urteil vom 5. Juli 2022 wies das Obergericht des Kantons Zürich die Berufung von A.________ und ihren Mitbeschuldigten ab und bestätigte das erstinstanzliche Erkenntnis.  
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________ dem Bundesgericht sinngemäss, es sei das Berufungsurteil aufzuheben und sie sei vom Vorwurf der unterlassenen Nothilfe freizusprechen. Weiter sei ihr für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. 
Es wurden die kantonalen Akten, nicht aber Vernehmlassungen eingeholt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein Endentscheid (Art. 90 BGG) in Strafsachen einer letzten kantonalen Instanz, die als oberes Gericht auf Berufung hin geurteilt hat (Art. 80 BGG). Die Beschwerdeführerin ist zur Beschwerde legitimiert (Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG) und hat die Beschwerdefrist eingehalten (Art. 100 Abs. 1 BGG). Unter Vorbehalt rechtsgenüglicher Begründung (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG) ist die Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG grundsätzlich zulässig. 
 
2.  
 
2.1. Die Beschwerdeführerin rügt zunächst eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs. Sie habe in ihrem Plädoyer vor der Berufungsinstanz ausgeführt, dass mangels rechtsgenügender Konfrontation sämtliche Aussagen der beiden Mitbeschuldigten nicht zu ihrem Nachteil verwertet werden dürften, andernfalls eine Verletzung des Konfrontationsanspruchs im Sinne von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK vorliegen würde. Im angefochtenen Urteil habe sich die Vorinstanz mit keinem einzigen Wort mit diesen Ausführungen beschäftigt. Damit habe sie den Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör verletzt.  
 
2.2.  
 
2.2.1. Die beschuldigte Person hat gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK ein Recht darauf, dem Belastungszeugen Fragen zu stellen. Eine belastende Zeugenaussage ist grundsätzlich nur verwertbar, wenn der Beschuldigte wenigstens einmal während des Verfahrens angemessene und hinreichende Gelegenheit hatte, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Belastungszeugen zu stellen (BGE 140 IV 172 E. 1.3; 133 I 33 E. 3.1; 131 I 476 E. 2.2; Urteile 7B_253/2022 vom 8. Februar 2024 E. 2.3.3; 6B_172/2023 vom 24. Mai 2023 E. 2.3; 6B_1320/2020 vom 12. Januar 2022 E. 4.2.2, nicht publ. in: BGE 148 IV 22; je mit Hinweisen).  
Auf die Teilnahme resp. Konfrontation kann vorgängig oder auch im Nachhinein ausdrücklich oder stillschweigend verzichtet werden. Ein Verzicht ist namentlich anzunehmen, wenn die beschuldigte Person es unterlässt, rechtzeitig und formgerecht entsprechende Anträge zu stellen (vgl. BGE 143 IV 397 E. 3.3.1; 125 I 127 E. 6c/bb; Urteile 7B_179/2022 vom 24. Oktober 2023 E. 2.3.3 und 2.3.5; 6B_1320/2020 vom 12. Januar 2022 E. 4.2.3, nicht publ. in: BGE 148 IV 22; je mit Hinweisen). Der Verzicht auf das Anwesenheitsrecht schliesst eine Wiederholung der Beweiserhebung aus (BGE 143 IV 397 E. 3.3.1 mit Hinweisen; Urteil 6B_130/2022 vom 8. Dezember 2022 E. 2.4). 
 
2.2.2. Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV folgt die Pflicht der Behörden, ihren Entscheid zu begründen. Das Gericht muss in seiner Begründung wenigstens kurz die wesentlichen Überlegungen nennen, von denen es sich hat leiten lassen und auf die es seinen Entscheid stützt. Es darf sich dabei auf die massgebenden Gesichtspunkte beschränken und muss sich nicht ausdrücklich mit jeder tatsächlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand auseinandersetzen und diese widerlegen (BGE 147 IV 409 E. 5.3.4; 146 IV 297 E. 2.2.7; je mit Hinweisen).  
 
2.3. Die Beschwerdeführerin zeigt nicht auf und es ist auch nicht ersichtlich, dass sie im kantonalen Verfahren rechtzeitig und formgerecht Anträge auf Konfrontation mit den beiden Mitbeschuldigten gestellt hätte. Sollte dies erst mit dem Plädoyer vor der oberen Instanz geschehen sein, wäre dies zu spät. Zu diesem Zeitpunkt war das Beweisverfahren vor dem Berufungsgericht bereits geschlossen (vgl. Art. 346 Abs. 1 StPO i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO). Damit brauchte sich die Vorinstanz aber auch nicht mit dem entsprechenden offensichtlich unbegründeten Einwand im Plädoyer auseinander zu setzen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt nicht vor.  
 
3.  
 
3.1. Die Beschwerdeführerin macht weiter eine Verletzung von Art. 158 Abs. 1 lit. a StPO geltend. Sie habe lediglich in der ersten polizeilichen Einvernahme vom 2. Juni 2019 Aussagen gemacht; anschliessend habe sie sich konsequent auf ihr Aussageverweigerungsrecht berufen. Der Tatvorhalt, der ihr von der Polizei zu Beginn ihrer ersten Einvernahme gemacht worden ist, genüge jedoch nicht für eine Verwertung der Einvernahmen mit Blick auf den zur Anklage gebrachten Vorwurf der unterlassenen Nothilfe.  
 
3.2.  
 
3.2.1. Polizei oder Staatsanwaltschaft weisen nach Art. 158 Abs. 1 lit. a StPO die beschuldigte Person zu Beginn der ersten Einvernahme in einer ihr verständlichen Sprache darauf hin, dass gegen sie ein Vorverfahren eingeleitet worden ist und welche Straftaten Gegenstand des Verfahrens bilden. Neben der Sicherung der Verteidigungsrechte hat dieser Hinweis die Funktion, den Prozessgegenstand festzulegen. Massgeblich ist die Tathypothese, mit der die Strafverfolgungsbehörde gegenüber der beschuldigten Person arbeitet, auch wenn sie diese erst bruchstückhaft beweisen kann (Urteile 6B_1059/2019 vom 10. November 2020 E. 1.3; 6B_1262/2015 vom 18. April 2016 E. 3.2; je mit Hinweis).  
Die beschuldigte Person muss in allgemeiner Weise und nach dem aktuellen Verfahrensstand darüber aufgeklärt werden, welches Delikt ihr zur Last gelegt wird. Dabei geht es nicht in erster Linie um den Vorhalt strafrechtlicher Begriffe oder Bestimmungen, sondern um denjenigen der konkreten äusseren Umstände der Straftat (BGE 141 IV 20 E. 1.3.3 mit Hinweisen). Vorzuhalten ist ein nach dem aktuellen Verfahrensstand möglichst präziser einzelner Lebenssachverhalt und der daran geknüpfte Deliktsvorwurf, nicht aber bereits die genaue rechtliche Würdigung. Der Vorhalt muss so konkret sein, dass die beschuldigte Person den gegen sie gerichteten Vorwurf erfassen und sich entsprechend verteidigen kann. Einvernahmen ohne diesen Hinweis sind nicht verwertbar (Art. 158 Abs. 2 i.V.m. Art. 141 Abs. 1 Satz 2 StPO; Urteil 6B_1214/2019 vom 1. Mai 2020 E. 1.3.1 mit Hinweisen). In diesem frühen Verfahrensstadium kann nicht verlangt werden, dass die Verdachts- und Beweislage in allen Details bekannt gegeben wird. Die Information hat anlässlich der ersten Einvernahme aber doch in einer Weise zu erfolgen, die es der beschuldigten Person zumindest ermöglicht, die ihr zur Last gelegten Straftaten zu identifizieren und zu erkennen, aus welchem Grund der Verdacht auf sie gefallen ist. Eine gewisse Verallgemeinerung ist zulässig (Urteile 6B_862/2023 vom 22. Januar 2024 E. 3.1; 6B_1059/2019 vom 10. November 2020 E. 1.3; 6B_1262/2015 vom 18. April 2016 E. 3.2; je mit Hinweisen). 
 
3.2.2. Nach Art. 128 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft, wer einem Menschen, den er verletzt hat, oder einem Menschen, der in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, nicht hilft, obwohl es ihm den Umständen nach zugemutet werden könnte. Art. 128 StGB sanktioniert eine abstrakte Gefährdung durch Unterlassen. Die zu leistende Hilfe beschränkt sich auf Handlungen, die vom Täter unter Berücksichtigung der Umstände vernünftigerweise erwartet werden können (BGE 121 IV 18 E. 2a mit Hinweisen). Der Tatbestand von Art. 128 StGB ist erfüllt, sobald der Täter dem Verletzten nicht hilft, ohne dass es darauf ankommt, ob die Hilfe erfolgreich gewesen wäre. Hilfe ist auch dann geboten, wenn es nur darum geht, einem Verletzten oder Sterbenden Leiden zu ersparen. Die Pflicht zur Hilfeleistung erlischt jedoch, wenn die Hilfe offensichtlich keinem Bedürfnis mehr entspricht, insbesondere wenn die Person in der Lage ist, sich selbst zu versorgen, wenn Dritte sie ausreichend versorgen, wenn sie die angebotene Hilfe ausdrücklich ablehnt oder wenn der Tod eingetreten ist (Urteile 6B_508/2020 vom 7. Januar 2021 E. 3.4.1; 6B_143/2020 vom 1. April 2020 E. 4.1; 6B_1089/2017 vom 16. Mai 2018 E. 1.1). Der Täter muss alles tun, was in seiner Macht steht. In der heutigen Zeit, in der es Mobiltelefone und effiziente Hilfsorganisationen gibt, ist ein Anruf bei einem Notdienst, einem Arzt oder der Polizei eine angemessene Möglichkeit, schnell Hilfe zu holen (Urteil 6B_1055/2020 vom 13. Juni 2022 E. 4.3.6).  
 
3.3.  
 
3.3.1. Gemäss den Feststellungen im angefochtenen Urteil wurden der Beschwerdeführerin in der ersten Einvernahme durch die Kantonspolizei vorgehalten, gegen sie sei "ein Strafverfahren wegen des Vorfalles vom 01./02.06.2019 an der U.________ Strasse xxx in V.________ eingeleitet worden, wo eine verletzte Person vor der Liegenschaft aufgefunden wurde, die offenbar aus dem Fenster gestürzt sein soll. Es besteht der Verdacht auf schwere Körperverletzung, allenfalls versuchte Tötung."  
 
3.3.2. Die Vorinstanz erwog zusammenfassend, dass die Beschwerdeführerin aufgrund dieses Vorhalts damit rechnen musste, zu ihrer Rolle im Hinblick auf den Fenstersturz und ihre Reaktion auf diesen befragt zu werden, wobei als naheliegend zu betrachten sei, dass sie auch mit Fragen zu ihrem Umgang mit der angetroffenen Situation, mithin zur allfälligen Hilfeleistung für die geschädigte Person, konfrontiert würde. Dies umso mehr, als der Beschwerdeführerin von Beginn weg eine Verteidigung zur Seite gestanden habe, mit der sie sich habe absprechen können.  
 
3.3.3. Auf die vorinstanzliche Erwägung 2 auf den Seiten 13-17 des angefochtenen Urteils kann vollumfänglich verwiesen werden. Was die Beschwerdeführerin dagegen vorbringt, überzeugt nicht. Aus der Umschreibung des polizeilich vorgehaltenen Sachverhalts, wonach eine verletzte Person vor der Liegenschaft aufgefunden worden sei, die offenbar aus dem Fenster gestürzt sein soll, können ohne Weiteres die beiden Vorwürfe des aktiven Rausstossens des Geschädigten bzw. des passiven Nichtleistens von Hilfe für den herausgestürzten Geschädigten entnommen werden. Einer beschuldigten Person muss nach Treu und Glauben klar sein, dass sie sich angesichts einer herausgestürzten Person mit beiden Vorwürfen konfrontiert sehen kann. Dies gilt für die Beschwerdeführerin umso mehr, weil sie sich mit einem professionellen Verteidiger verständigen konnte. Dass damit die rechtliche Würdigung im polizeilichen Vorhalt die Unterlassung der Nothilfe noch nicht ausdrücklich enthielt, ist in diesem frühen Verfahrensstadium unschädlich.  
 
4.  
Die Beschwerde ist abzuweisen. 
Bei diesem Verfahrensausgang trägt die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihr Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist gestützt auf Art. 64 BGG wegen Aussichtslosigkeit der Beschwerde abzuweisen. Den finanziellen Verhältnissen der Beschwerdeführerin ist bei der Kostenfestsetzung Rechnung zu tragen (vgl. Art. 65 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 8. April 2024 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Der Gerichtsschreiber: Eschle