8C_643/2023 19.04.2024
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_643/2023  
 
 
Urteil vom 19. April 2024  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiber Hochuli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Freiburg, Impasse de la Colline 1, 1762 Givisiez, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Armin Sahli, 
Beschwerdegegner, 
 
Schweizerische Ausgleichskasse SAK, Avenue Edmond-Vaucher 18, 1203 Genf. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung 
(Rechtsverzögerung; Rechtsverweigerung), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Freiburg vom 28. August 2023 (608 2023 60). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. A.________, geboren 1976, ist Vater von fünf Kindern (geboren 1999, 2003, 2004, 2007 und 2008). Die 1999 geborene Tochter aus erster Ehe lebt in Mazedonien. A.________ bezog seit 1. Dezember 2014 bei einem Invaliditätsgrad von 100% eine ganze Invalidenrente und vier Kinderrenten sowie seit 1. Mai 2016 eine Hilflosenentschädigung infolge einer leichten Hilflosigkeit (Verfügungen der IV-Stelle des Kantons Freiburg [fortan: IV-Stelle oder Beschwerdeführerin] vom 7. Juni 2016). Im April 2018 eröffnete die IV-Stelle ein Revisionsverfahren betreffend Invalidenrente und Hilflosenentschädigung. Die IV-Stelle ermittelte einen Invaliditätsgrad von 42% und überwies diese Begründung mit Schreiben vom 7. Mai 2021 zum Verfügungserlass an die Schweizerische Ausgleichskasse (SAK). Die Zentrale Ausgleichskasse (ZAS) reduzierte daraufhin den Rentenanspruch im Auftrag der IV-Stelle für Versicherte im Ausland (IVSTA) mit Verfügung vom 19. Mai 2021 ab 1. Juli 2021 von einer ganzen auf eine Viertelsrente. Die IV-Stelle hob den Anspruch auf Hilflosenentschädigung mit Verfügung vom 20. Mai 2021 auf.  
 
A.b. A.________ liess gegen beide Verfügungen separate Beschwerden erheben. Das Bundesverwaltungsgericht hob die Verfügung der IVSTA vom 19. Mai 2021 mangels Zuständigkeit der letzteren auf und wies die IVSTA an, die Sache zuständigkeitshalber unverzüglich an die IV-Stelle zum Erlass einer neuen Revisionsverfügung weiterzuleiten (Urteil vom 3. Januar 2022). Das Kantonsgericht Freiburg hob auch die Verfügung vom 20. Mai 2021 auf und wies die IV-Stelle an, nach ergänzenden Abklärungen über den Anspruch auf Hilflosenentschädigung neu zu verfügen (Urteil vom 16. November 2022).  
 
B.  
Nachdem die IV-Stelle bis zum 15. März 2023 noch nicht über den strittigen, ab 1. Juli 2021 revisionsweise auf eine Viertelsrente herabgesetzten Rentenanspruch und die Wiederaufnahme der revisionsweise aufgehobenen Hilflosenentschädigung verfügt hatte, liess A.________ beim Kantonsgericht Freiburg eine vom 5. Mai 2023 datierende "Rechtsverweigerungsbeschwerde" einreichen. Das kantonale Gericht hiess diese Beschwerde in dem Sinne gut (Urteil vom 28. August 2023), als es eine unzulässige Rechtsverzögerung feststellte (Dispositiv-Ziffer I). In der Hauptsache wies es die Angelegenheit an die IV-Stelle zurück, damit sie die SAK auffordere, A.________ unverzüglich die ihm seit 1. Juli 2021 zustehende ganze Invalidenrente und Hilflosenentschädigung leichten Grades mit Aufenthalt zu Hause auszurichten und ihm auch die Nachzahlung der Kinderrenten (in der Höhe von Fr. 45'236.-) zur freien Verfügung zu überweisen (Dispositiv-Ziffer II). Zudem habe die IV-Stelle eine umfassende medizinische Abklärung einzuleiten und ein neues polydisziplinäres Gutachten einzuholen, um anschliessend über den Rentenanspruch und den Anspruch auf Hilflosenentschädigung neu zu verfügen (Dispositiv-Ziffer III). 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die IV-Stelle, das kantonale Urteil vom 28. August 2023 sei aufzuheben und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen. 
A.________ schliesst auf teilweise Gutheissung der Beschwerde. Die Dispositiv-Ziffer II des angefochtenen Urteils sei aufzuheben und wie folgt neu zu verfügen: "Die Angelegenheit wird an die [IV-Stelle] zurückgewiesen, damit sie die [SAK] dazu auffordert, A.________ unverzüglich die ihm seit 1. Juli 2021 zustehende [ganze] IV-Rente auszurichten und die rückwirkend geschuldete [ganze] IV-Rente nach Verrechnung mit den bezogenen Ergänzungsleistungen nachzubezahlen." Zudem seien keine Gerichtskosten zu erheben, oder diese seien trotz teilweiser Beschwerdegutheissung der Beschwerdeführerin aufzuerlegen. Schliesslich verzichte der Beschwerdegegner auf die Zusprechung einer Parteientschädigung. 
Die beigeladene SAK führt aus, seit August 2023 werde A.________ wieder eine ganze Invalidenrente zusammen mit den zusätzlichen Kinderrenten ausgerichtet. Auch für die Zeit vom 1. Juli 2021 bis 31. Juli 2023 sei ihm eine ganze Invalidenrente mit Kinderrenten zugesprochen worden. Die auf ein Wartekonto gebuchten Nachzahlungen von geschuldeten Leistungen in Höhe von Fr. 87'105.- seien nach Verrechnung von Abzügen zu Gunsten der Ausgleichskasse Freiburg in Höhe von Fr. 39'382.95 im Restbetrag von Fr. 47'722.05 an den Beschwerdegegner auszubezahlen. Die unter der Dispositiv-Ziffer II des angefochtenen Urteils verfügten Anordnungen in Bezug auf die nachträgliche Ausrichtung der ganzen Invalidenrente seit 1. Juli 2021 und die Nachzahlung der Kinderrenten in der Höhe von Fr. 45'236.- zur freien Verfügung seien damit gegenstandslos. Gleiches gelte folglich für den Antrag auf Erteilung der aufschiebenden Wirkung bezüglich der Nachzahlung. Hinsichtlich des revisionsweise weiter abzuklärenden Anspruchs auf eine Hilflosenentschädigung leichten Grades schliesst sich die SAK dem Standpunkt der Beschwerdeführerin an. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die (weiteren) Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 145 V 380 E. 1 mit Hinweis; SVR 2021 IV Nr. 79 S. 266, 8C_296/2021 E. 1). 
 
2.  
Das angefochtene Urteil umfasst insgesamt sechs Seiten und ist in einem einzigen Satz als sogenannter "Dass-Entscheid" verfasst worden. Dies erschwert die Les- und Nachvollziehbarkeit erheblich. Auf diese Problematik und ihre Bedeutung im Zusammenhang mit den Anforderungen an die Entscheideröffnung gemäss Art. 112 BGG wurde schon wiederholt hingewiesen, zuletzt im Urteil 8C_522/2019 vom 12. März 2020 E. 1 (mit Hinweis; vgl. auch Urteile 8C_353/2019 vom 2. September 2019, 8C_713/2016 vom 24. Januar 2017 E. 5 und 8C_7/2013 vom 3. April 2013 E. 1, je mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall kann von einer Rückweisung im Sinne von Art. 112 Abs. 3 BGG abgesehen werden, da das vorinstanzliche Urteil trotz "Dass-Form" gerade noch hinreichend verständlich ist. 
 
3.  
 
3.1. Das kantonale Gericht nahm die "Rechtsverweigerungsbeschwerde" als "Rechtsverzögerungsbeschwerde" an die Hand (vgl. Art. 56 Abs. 2 ATSG; vgl. auch Urteil 9C_709/2018 vom 8. November 2018 E. 2.1) und stellte unter der Dispositiv-Ziffer I des angefochtenen Urteils eine unzulässige Rechtsverzögerung fest. Hiergegen erhebt die Beschwerdeführerin keine sachbezüglichen Einwendungen, weshalb auf die Beschwerde insoweit mangels einschlägiger Begründung (Art. 42 Abs. 2 BGG) nicht einzutreten ist. Gleiches gilt in Bezug auf das vom kantonalen Gericht unter der Dispositiv-Ziffer III des angefochtenen Urteils Angeordnete.  
 
3.2. Die Dispositiv-Ziffer II des angefochtenen Urteils (vgl. Sachverhalt lit. B hiervor) betrifft nicht nur den Rentenanspruch und den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung, beide ab 1. Juli 2021, sondern auch den Anspruch auf Nachzahlung der Kinderrenten. Obwohl die Beschwerde führende IV-Stelle unter Ziffer II ihrer "Hauptbegehren" vor Bundesgericht die vollständige Aufhebung des angefochtenen Urteils beantragt, folgt aus der Beschwerdebegründung unmissverständlich, dass sich ihre Einwände einzig gegen die beanstandete vorinstanzliche materielle Beurteilung des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung und die Anordnung der Nachzahlung von Kinderrenten in der Höhe von Fr. 45'236.- gemäss Dispositiv-Ziffer II richten. Demgegenüber fehlt es an jeglicher Beschwerdebegründung in Bezug auf den Anspruch des Beschwerdegegners auf eine ganze Invalidenrente auch ab 1. Juli 2021. Diesbezüglich ist mithin auf die Beschwerde ebenfalls nicht einzutreten.  
 
4.  
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. wegen Verletzung von Bundesrecht erhoben werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig (willkürlich; BGE 142 II 433 E. 4.4) ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG; zur Rüge- und Begründungspflicht der Parteien: Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 145 V 326 E. 1 mit Hinweisen). 
 
5.  
Soweit auf die Beschwerde überhaupt einzutreten ist (E. 3), bleibt einzig strittig, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie unter der Dispositiv-Ziffer II anordnete, die Beschwerdeführerin habe dem Beschwerdegegner unverzüglich die ihm seit 1. Juli 2021 zustehende Hilflosenentschädigung leichten Grades mit Aufenthalt zu Hause weiterhin auszurichten und Kinderrenten in der Höhe von Fr. 45'236.- nachzuzahlen. 
 
6.  
Soweit sich die Beschwerdeführerin zur Begründung ihrer Einwände gegen die unter der Dispositiv-Ziffer II des angefochtenen Urteils angeordnete Nachzahlung von Kinderrenten in der Höhe von Fr. 45'236.- auf eine Verfügung der Ausgleichskasse Freiburg vom 5. September 2023 beruft, handelt es sich um ein echtes Novum, welches im Verfahren vor dem Bundesgericht nicht zu berücksichtigen ist (vgl. BGE 144 V 35 E. 5.2.4; 143 V 19 E. 1.2 mit Hinweisen; Urteil 1B_366/2021 vom 18. Oktober 2021 E. 2). Die entsprechenden Einwände sind folglich unbegründet. 
 
7.  
 
7.1. Das kantonale Gericht hob die von der IV-Stelle am 20. Mai 2021 revisionsweise verfügte Aufhebung des Anspruchs auf eine leichte Hilflosenentschädigung mangels rechtsgenüglicher Feststellung des massgebenden Sachverhalts mit Urteil vom 16. November 2022 auf. Es wies die Sache zur Einholung eines neuen polydisziplinären Gutachtens und anschliessenden Neuverfügung im laufenden Revisionsverfahren betreffend Hilflosenentschädigung an die Verwaltung zurück.  
 
7.2. Die Parteien sind sich zu Recht einig, dass der Entzug der aufschiebenden Wirkung (vgl. Art. 49 Abs. 5 ATSG), den die IV-Stelle gleichzeitig mit der revisionsweisen Aufhebung des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung am 20. Mai 2021 verfügt hatte, nach konstanter Rechtsprechung bei Rückweisung der Sache an die Verwaltung auch für den Zeitraum dieses Abklärungsverfahrens bis zum Erlass der neuen Verwaltungsverfügung andauert (BGE 129 V 370; 106 V 18; vgl. Urteil 8C_305/2023 vom 29. Februar 2024 E. 5.3.2). Indem das kantonale Gericht mit angefochtenem Urteil entgegen dem praxisgemäss andauernden Entzug der aufschiebenden Wirkung die ununterbrochen fortgesetzte Ausrichtung der am 20. Mai 2021 revisionsweise aufgehobenen Hilflosenentschädigung leichten Grades über den 1. Juli 2021 hinaus bis zur Neuverfügung über den Anspruch auf Hilflosenentschädigung nach Einholung eines neuen polydisziplinären Gutachtens anordnete, verletzte es Bundesrecht. Abgesehen davon bildeten die materiellen Rechte und Pflichten der revisionsweisen Überprüfung des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung mit der Beschwerdeführerin nicht Gegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens betreffend Rechtsverweigerungs- bzw. Rechtsverzögerungsbeschwerde (vgl. Urteil 8C_336/2012 vom 13. August 2012 E. 3 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 138 V 318, aber in: SVR 2013 UV Nr. 2 S. 3; Urteil 9C_405/2017 vom 3. August 2017 E. 2.2).  
 
7.3. Die Beschwerde der IV-Stelle ist folglich insoweit teilweise gutzuheissen, als die Dispositiv-Ziffer II des angefochtenen Urteils in Bezug auf die darin getroffenen Anordnungen betreffend den Anspruch auf Hilflosenentschädigung aufzuheben ist.  
 
8.  
 
8.1. Nach dem Gesagten ist auf die Beschwerde der IV-Stelle im Wesentlichen nicht einzutreten (vgl. insbesondere E. 3). Einzig hinsichtlich der beanstandeten vorinstanzlichen Anordnung der ununterbrochen fortgesetzten Ausrichtung einer Hilflosenentschädigung leichten Grades ab 1. Juli 2021 ist die Beschwerde begründet. Nur in diesem Punkt obsiegt die Beschwerdeführerin teilweise, soweit überhaupt auf die Beschwerde einzutreten ist. Unter den gegebenen Umständen ist das angefochtene Urteil einzig hinsichtlich dieses Teilaspektes des unter der Dispositiv-Ziffer II Angeordneten aufzuheben.  
 
8.2. Bei diesem Prozessausgang sind die Gerichtskosten den Parteien je zur Hälfte aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und - entsprechend dem Antrag des teilweise obsiegenden Beschwerdegegners - auf die Zusprechung einer Parteientschädigung zu verzichten (Art. 68 Abs. 1 BGG).  
 
8.3. Zur allfälligen Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des kantonalen Verfahrens ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 67 und Art. 68 Abs. 5 BGG).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Die unter der Dispositiv-Ziffer II des Urteils des Kantonsgerichts Freiburg vom 28. August 2023 getroffenen Anordnungen betreffend den Anspruch auf Hilflosenentschädigung werden aufgehoben. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden zu Fr. 400.- der Beschwerdeführerin und zu Fr. 400.- dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Kantonsgericht Freiburg zurückgewiesen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, der Schweizerischen Ausgleichskasse SAK, dem Kantonsgericht Freiburg und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 19. April 2024 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Hochuli