8C_14/2024 13.03.2024
Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_14/2024  
 
 
Urteil vom 13. März 2024  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiber Grünenfelder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Volker Pribnow, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (vorinstanzliches Verfahren), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 20. November 2023 (VBE.2023.35, VBE.2023.88). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ meldete sich im Juli 2016 unter Hinweis auf "diverse" gesundheitliche Beeinträchtigungen bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau führte erwerbliche sowie medizinische Abklärungen durch und gewährte berufliche Massnahmen. Sodann veranlasste sie bei der MEDAS Interlaken GmbH ein polydisziplinäres Gutachten vom 25. November 2019 (samt Stellungnahmen vom 12. respektive 18. Mai 2020) und zog ausserdem die Akten der Unfallversicherung bei. Mit Verfügungen vom 13. Dezember 2022 und 31. Januar 2023 erhielt A.________ vom 1. Januar 2017 bis 31. Mai 2019 eine ganze und ab 1. Juni 2019 eine halbe Invalidenrente zugesprochen. 
 
B.  
Auf Beschwerde des A.________ gegen die Verfügung vom 13. Dezember 2022 hin stellte das Versicherungsgericht des Kantons Aargau am 8. November 2023 Rückfragen an dessen frühere Arbeitgeberin, die B.________ AG, wozu diese am 16. November 2023 Stellung nahm. Nachdem A.________ die Verfügung vom 31. Januar 2023 ebenso innert Frist angefochten hatte, vereinigte das Versicherungsgericht die beiden Verfahren und wies die Beschwerden mit Urteil vom 20. November 2023 ab. 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des versicherungsgerichtlichen Urteils sei ihm auch über den 1. Juli 2019 hinaus eine unbefristete ganze Invalidenrente zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache zwecks weiterer Abklärungen an die Vorinstanz, subeventualiter an die IV-Stelle zurückzuweisen. 
Das kantonale Gericht schliesst auf teilweise Gutheissung der Beschwerde im Sinne einer Rückweisung der Sache zur Gewährung des rechtlichen Gehörs betreffend die Eingabe der B.________ AG vom 16. November 2023 sowie anschliessender neuer Entscheidung. Die IV-Stelle beantragt die Beschwerdeabweisung. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
Der Beschwerdeführer rügt vorab, zwar habe die Vorinstanz den Parteien die am 16. November 2023 erstattete Antwort der B.________ AG zur Kenntnisnahme zugestellt. Diese wie auch die Stellungnahme der ehemaligen Arbeitgeberin seien ihm aber erst am 22. November 2023 zugegangen. Indem die Vorinstanz schon vorher, nämlich am 20. November 2023, über die Angelegenheit entschieden habe, sei es ihm verwehrt geblieben, sein Replikrecht wahrzunehmen. Dies führe ungeachtet der materiellen Begründetheit der Beschwerde zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. 
 
2.1. Gemäss Art. 29 Abs. 1 und 2 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK (in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen sowie strafrechtliche Anklagen) haben die Parteien eines Gerichtsverfahrens Anspruch auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren, unter Beachtung des Grundsatzes der Waffengleichheit. Diese Garantien umfassen das Recht, von allen bei Gericht eingereichten Stellungnahmen Kenntnis zu erhalten und sich dazu äussern zu können. Dies gilt unabhängig davon, ob die Eingaben neue und/oder wesentliche Vorbringen enthalten. Es ist Sache der Parteien zu beurteilen, ob eine Entgegnung erforderlich ist oder nicht (Replikrecht; BGE 138 I 484 E. 2.1 mit Hinweisen). Zur Wahrung des Replikrechts genügt es, dass den Parteien die Eingaben zur Information (Kenntnisnahme, Orientierung) zugestellt werden, soweit von ihnen - namentlich von anwaltlich Vertretenen oder Rechtskundigen - erwartet werden kann, dass sie dazu unaufgefordert Stellung nehmen (vgl. BGE 138 I 484 E. 2.4; Urteil 1C_338/2020 vom 19. Januar 2021 E. 2.3). Ferner ist das Gericht nach einer Zustellung zur Kenntnisnahme gehalten, während einer angemessenen Zeitspanne mit dem Entscheid zuzuwarten. Welche Wartezeit ausreichend ist, hängt vom Einzelfall ab. Bejaht wird in aller Regel eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, wenn das Gericht "nur wenige Tage" nach der Mitteilung entscheidet (BGE 137 I 195 E. 2.6). In einer allgemeinen Formulierung hielt das Bundesgericht fest, dass jedenfalls vor Ablauf von zehn Tagen nicht, hingegen nach zwanzig Tagen sehr wohl von einem Verzicht auf das Replikrecht ausgegangen werden dürfe (Urteil 8C_309/2023 vom 13. November 2023 mit Hinweisen).  
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur (BGE 144 IV 302 E. 3.1 mit Hinweisen). Eine Verletzung des Replikrechts führt ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (statt vieler: Urteile 8C_710/2022 vom 6. März 2023 E. 3.2; 9C_186/2022 vom 13. September 2022 E. 1.2; je mit Hinweisen). 
 
2.2. Vorliegend trägt die prozessleitende Verfügung vom 17. November 2023, mit welcher das kantonale Gericht dem Beschwerdeführer die Eingabe der B.________ AG vom 16. November 2023 eröffnete, den Versandstempel vom 20. November 2023. Die Vorinstanz stellt nicht in Abrede, dass deren Zustellung erst am 22. November 2023 erfolgte; ein Verzicht auf das Replikrecht steht nach dem Gesagten ausser Frage. Indem das angefochtene Urteil bereits am 20. November 2023 erging, ist - wie das kantonale Gericht in seiner Vernehmlassung selber einräumt - offenkundig der Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör im soeben erwähnten Sinn verletzt (vgl. BGE 137 I 195 E. 2.3.1 mit Hinweisen). Eine Heilung dieses Mangels im bundesgerichtlichen Verfahren ist praxisgemäss insbesondere aufgrund der letztinstanzlich eingeschränkten Kognition unmöglich (vgl. E. 1 hievor; vgl. auch: BGE 133 I 100 E. 4.9; Urteile 9C_186/2022 vom 13. September 2022 E. 1.5; 9C_547/2021 vom 14. Dezember 2021 E. 2.3; je mit Hinweisen). Bei diesem Verfahrensausgang erübrigt es sich, auf den (materiellen) Hauptantrag des Beschwerdeführers einzugehen.  
 
3.  
Die Beschwerde ist offensichtlich begründet, weshalb sie im Verfahren nach Art. 109 Abs. 2 lit. b BGG mit summarischer Begründung erledigt wird. 
 
4.  
Hinsichtlich der Prozesskosten gilt die Rückweisung der Sache zu neuem Entscheid als volles Obsiegen (BGE 146 V 28 E. 7; 141 V 281 E. 11.1; Urteil 8C_663/2022 vom 30. November 2023 E. 11). Angesichts des bisherigen Verfahrensverlaufs sowie der klaren Rechtslage hat die Vorinstanz die Pflicht zur Justizgewährleistung verletzt. Damit greift das Verursacherprinzip (Art. 66 Abs. 1 zweiter Satz und Abs. 3 sowie Art. 68 Abs. 4 BGG). Gerichtskosten und Parteientschädigung gehen demnach zu Lasten des Kantons Aargau (vgl. Urteile 9C_857/2015 vom 2. Februar 2016 E. 4; 9C_483/2015 vom 28. Juli 2015 E. 5; 8C_845/2008 vom 4. März 2009 E. 5.1; betreffend Abweichung von Art. 66 Abs. 4 BGG vgl. Urteil 9C_251/2009 vom 15. Mai 2009 E. 2.1). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 20. November 2023 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Kanton Aargau auferlegt. 
 
3.  
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der AXA Stiftung Berufliche Vorsorge, Winterthur, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 13. März 2024 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder