8C_231/2023 06.09.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_231/2023  
 
 
Urteil vom 6. September 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterin Viscione, Bundesrichter Métral, 
Gerichtsschreiberin Durizzo. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Zimmermann, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente, Revision) 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 27. Februar 2023 (VBE.2022.237). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________, geboren 1966, Mutter von zwei Töchtern (geboren 1986 und 1993), wurde mit Verfügung vom 19. Oktober 2021 ab 1. Februar 2011 eine Viertelsrente der Invalidenversicherung zugesprochen. Sie litt wegen eines Unfalls mit dem Motorfahrrad vom 6. Juli 1983 insbesondere an Kniebeschwerden. Anlässlich der polydisziplinären Begutachtungen im Schweizerischen Zentrum für medizinische Abklärungen und Beratungen SMAB, Bern, sowie durch die Medizinische Abklärungsstelle MEDAS estimed, Zug (Gutachten vom 26. April 2012 beziehungsweise 25. März 2018), wurden zudem eine organische Störung bei Status nach Schädelhirntrauma anlässlich des erwähnten Unfalls sowie psychische Beschwerden festgestellt. Mit Verfügung vom 3. Oktober 2018, bestätigt mit Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 16. August 2019, wurde der Anspruch, nunmehr unter Annahme einer vollzeitlichen Erwerbstätigkeit als Gesunde (statt wie bis anhin einer 50%igen), per 1. Juli 2015 erhöht auf eine halbe Invalidenrente. 
Aufgrund eines Revisionsgesuchs, mit dem eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes aus psychischen Gründen geltend gemacht wurde, holte die IV-Stelle des Kantons Aargau ein Gutachten des Dr. med. B.________, Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 17. Mai 2021 ein. Mit Verfügung vom 24. Mai 2022 lehnte sie die beantragte Erhöhung des bisherigen Anspruchs auf eine halbe Invalidenrente ab. 
 
B.  
Die dagegen von A.________ erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau nach Einholung einer Ergänzung des von Dr. med. B.________ erstatteten Gutachtens mit Urteil vom 27. Februar 2023 ab. 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils seien ihr die gesetzlichen Leistungen, insbesondere eine ganze Invalidenrente zuzusprechen, eventualiter sei die Sache zu weiteren medizinischen Abklärungen und zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Nach Beizug der Akten des kantonalen Gerichts verzichtet das Bundesgericht auf einen Schriftenwechsel. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen).  
 
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4).  
 
2.  
Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die von der Beschwerdegegnerin am 24. Mai 2022 verfügte Ablehnung einer Erhöhung des bisherigen Anspruchs auf eine halbe Invalidenrente bestätigte. Zur Frage steht, ob sich seit der letzten Rentenrevision per 1. Juli 2015 eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes aus psychiatrischer Sicht eingestellt habe. 
 
3.  
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Rentenrevision (Art. 17 ATSG) sowie zum Beweiswert von ärztlichen Berichten und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a mit Hinweis), insbesondere von versicherungsexternen Gutachten (BGE 137 V 210 E. 1.3.4; 135 V 465 E. 4.4; 125 V 351 E. 3b/bb) beziehungsweise von abweichenden Einschätzungen der behandelnden Arztpersonen oder Therapiekräfte (BGE 135 V 465 E. 4.5; 125 V 351 E. 3b/cc; SVR 2017 IV Nr. 7 S. 19, 9C_793/2015 E. 4.1; Urteile 8C_630/2020 vom 28. Januar 2021 E. 4.2.1; 8C_370/2020 vom 15. Oktober 2020 E. 7.2) zutreffend dargelegt. Es wird darauf verwiesen.  
 
4.  
 
4.1. Gemäss Vorinstanz ist gestützt auf die voll beweiskräftige Einschätzung des Dr. med. B.________ (Gutachten vom 17. Mai 2021 mit Ergänzung vom 9. Dezember 2022) von einem unveränderten Gesundheitszustand seit der letzten Rentenrevision gestützt auf das estimed-Gutachten vom 25. März 2018 mit einer Arbeitsfähigkeit von 50 % auszugehen. Daran könnten die davon abweichenden Stellungnahmen von Dr. med. C.________, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, nichts ändern. Ihren Bericht vom 5. Mai 2021 habe der Gutachter mitberücksichtigt, indessen (unter anderem) festgestellt, dass die Beschwerdeführerin nach eigenen Angaben keine Medikamente konsumiere, während dort die Gabe von Antidepressiva (50 mg Zoloft) vermerkt sei. Den Einwand von Dr. med. C.________ in ihrem Bericht vom 29. September 2021, wonach der Gutachter den Krankheitsverlauf und die von den behandelnden Ärzten gestellten Diagnosen, das heisst die Klassifikation als Persönlichkeitsstörung sowie die Beurteilung der Schwere der depressiven Erkrankung, nur unzureichend berücksichtigt habe, widerlegte das kantonale Gericht.  
 
4.2. Die Beschwerdeführerin erneuert letztinstanzlich ihre Argumentation, dass sie gemäss ihrer behandelnden Ärztin zu 100 % arbeitsunfähig sei. Entgegen dem Gutachter sei trotz jahrelanger therapeutischer Bemühungen eine Verschlechterung eingetreten. Zudem begründe sich die abweichende Beurteilung der Arbeitsfähigkeit auch durch die unterschiedliche Diagnostik. Zu Unrecht habe anlässlich der erneuten Begutachtung keine neuropsychologische Testung stattgefunden. Es wird beschwerdeweise des Weiteren eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend gemacht. Die Vorinstanz habe sich zum Einwand, es sei ihr, der Beschwerdeführerin, angesichts ihrer Erwerbsbiographie und ihres Alters unmöglich, ein Einkommen zu erzielen, nicht geäussert. Insoweit sei entgegen dem kantonalen Gericht sehr wohl eine Veränderung eingetreten. Es dürfe ihr kein Invalideneinkommen angerechnet werden.  
 
5.  
 
5.1. Was zunächst die Beweiskraft des Gutachtens des Dr. med. B.________ betrifft, ist nicht erkennbar, dass die Vorinstanz offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellungen getroffen oder die zu beachtenden Beweiswürdigungsregeln verletzt haben sollte. Insbesondere lassen sich den Berichten der behandelnden Ärztin vom 5. Mai und vom 29. September 2021 keine wichtigen Aspekte entnehmen, die bei der Begutachtung unerkannt oder ungewürdigt geblieben wären. Dr. med. C.________ erachtete insbesondere die diagnostische Einordnung durch den Gutachter als nicht nachvollziehbar. Dieser begründete indessen einlässlich, dass zwar im Längsverlauf anamnestisch von einer Persönlichkeitsbeeinträchtigung mit emotionaler Instabilität und kognitiven Defiziten seit dem Unfall mit Schädelhirntrauma im Jahr 1983 auszugehen sei. Indessen sei die Beurteilung der Persönlichkeit angesichts des Alters der Beschwerdeführerin von erst 17 Jahren zum Zeitpunkt des Unfalls und dementsprechend die Diagnosestellung einer Persönlichkeitsstörung nicht möglich und zudem angesichts der von ihr (unter anderem als weitgehend alleinerziehende Mutter) gezeigten Stärken und Ressourcen auch nicht gerechtfertigt. Die Schwere des depressiven Leidens beurteilte der Gutachter unter anderem auch gestützt auf Testungen. Er wies zudem ausdrücklich darauf hin, dass sich dessen Behandelbarkeit anlässlich der letzten Hospitalisierung in der Klinik D.________, im Jahr 2018 bestätigt habe und medikamentös eine Stabilisierung habe erreicht werden können. Zwischenzeitlich nehme die Beschwerdeführerin die gemäss Bericht der behandelnden Ärztin verschriebenen Psychopharmaka nach eigenen Angaben nicht mehr ein.  
Die Beschwerdeführerin rügt schliesslich, eine neuropsychologische Testung sei zu Unrecht unterblieben. Gemäss Vorinstanz finden sich in den Akten keine Anhaltspunkte dafür, dass diesbezüglich seit 2018, Zeitpunkt der letzten Begutachtung durch die estimed, eine Veränderung eingetreten wäre. Inwiefern das kantonale Gericht damit eine offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellung getroffen haben sollte, ist nicht erkennbar. Die blosse Anmerkung der behandelnden Ärztin im Bericht vom 29. September 2021, es sei für sie nicht nachvollziehbar, dass keine erneute neuropsychologische Untersuchung erfolgt sei, kann daran nichts ändern, zumal auch in jener Stellungnahme keinerlei Anhaltspunkte für eine Verschlechterung des kognitiven Zustands genannt werden. Gemäss Gutachten führte ein phasenweise übermässiger Alkoholkonsum zu einer Verstärkung der Symptomatik. Unter adäquater Behandlung (beispielsweise anlässlich des Aufenthalts in der Klinik D.________) habe jedoch jeweils eine Stabilisierung erreicht werden können und zudem sei aktuell von einem moderaten Alkoholkonsum auszugehen. 
Inwiefern die Vorinstanz die massgeblichen Beweiswürdigungsregeln verletzt haben sollte, indem sie keine konkreten Indizien gegen die Zuverlässigkeit des Gutachtens auszumachen vermochte, ist nicht erkennbar. Dass sie auf das Gutachten abstellte, ist nicht zu beanstanden.  
 
5.2. Nach der Beschwerdeführerin sei zu Unrecht ihr mittlerweile weiter fortgeschrittenes Alter und ihre langjährige Abwesenheit vom Arbeitsmarkt unberücksichtigt geblieben. Wie Dr. med. B.________ in seinem Gutachten darlegte, habe sich die Beschwerdeführerin beruflich nie wirklich etablieren können. Die Berufsanamnese sei brüchig mit einer Vielzahl von Stellenwechseln und wiederholten Phasen von Arbeitslosigkeit. Die längste Anstellung und zugleich die letzte Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt habe 13 Monate gedauert, dies in den Jahren 2001/2002 als Verkäuferin in einem Schuhgeschäft. Die danach von der Invalidenversicherung gewährten beruflichen Massnahmen, den Besuch einer Handelsschule, habe sie wegen Überforderung nach drei Monaten abgebrochen.  
Indessen wurde der Beschwerdeführerin bereits anlässlich einer ersten Abklärung im Zentrum für Medizinische Begutachtung ZMB, Basel, Ende 2006 eine mindestens 50%ige Arbeitsfähigkeit in leidensangepassten Tätigkeiten bescheinigt. Wenn sie in den letzten 20 Jahren dennoch keiner Erwerbstätigkeit nachging, vermag sie daraus von vornherein nichts zu ihren Gunsten abzuleiten (Urteile 8C_257/2022 vom 21. Februar 2023 E. 6.3; 8C_192/2022 vom 7. Juli 2022 E. 7.2.3 mit Hinweisen). Dass die Vorinstanz die blosse Veränderung in Form des zunehmenden Alters ausser Acht liess beziehungsweise sich zu der im kantonalen Verfahren erhobenen Rüge nicht weitergehend äusserte, bedeutet unter diesen Umständen keine Verletzung des rechtlichen Gehörs.  
 
6.  
Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 6. September 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo