8C_52/2023 06.07.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_52/2023  
 
 
Urteil vom 6. Juli 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiber Jancar. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Claude Béboux, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Visana Versicherungen AG, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (Invalidenrente, Integritätsentschädigung), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 6. Dezember 2022 (5V 21 329). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1970 geborene A.________ war bei der B.________ AG als Betagtenpflegerin angestellt und dadurch bei der Visana Versicherungen AG (nachfolgend Visana) obligatorisch unfallversichert. Am 28. Juni 2018 verspürte sei beim Transfer einer Heimbewohnerin vom Bett in den Rollstuhl einen Knacks in der rechten Schulter. Die MRI- und Röntgenuntersuchung im Röntgeninstitut C.________, vom 6. Juli 2018 zeigte eine transmurale Partialruptur der Supraspinatussehne und ein leichtgradiges Impingement ACG-Arthrose. Am 19.September 2018 wurde die Versicherte in der Orthopädischen Klinik D.________ an der rechten Schulter operiert. Nach Einholung einer Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. med. E.________, Facharzt FMH Chirurgie und Intensivmedizin, vom 4. Oktober 2018 anerkannte die Visana gleichentags ihre Leistungspflicht. In der Folge holte sie ein polydisziplinäres (neurologisches, orthopädisches und psychiatrisches) Gutachten der F.________, vom 2. Dezember 2020 mit ergänzender Stellungnahme des orthopädischen Gutachters Dr. med. G.________, orthopädische Chirurgie und Traumatologie FMH, vom 2. März 2021 ein. Mit Verfügung vom 12. April 2021 stellte die Visana die Leistungen per 6. Juli 2018 ein und verzichtete auf die Rückforderung der danach erbrachten Leistungen. Zur Begründung führte sie aus, die Schulterbeschwerden rechts seien seit 6. Juli 2018 nicht mehr auf das Ereignis vom 28. Juni 2018 zurückzuführen, da der Status quo sine erreicht gewesen sei. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 29. Juli 2021 fest. 
 
B.  
Die hiergegen von A.________ erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Urteil vom 6. Dezember 2022 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Urteils sei die Leitungspflicht der Visana für das Ereignis vom 28. Juni 2018 anzuerkennen und es seien die gesetzlichen Leistungen zu erbringen. Eventuell seien ihr eine Invalidenrente von mindestens 50 % und eine Integritätsentschädigung von 50 % zu entrichten. Es sei ihr die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. 
Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2). Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2, Art. 105 Abs. 3 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die Leistungspflicht der Visana aus dem Ereignis vom 28. Juni 2018 gestützt auf Art. 6 Abs. 2 UVG ab 6. Juli 2018 verneinte. Unbestritten ist hingegen, dass der Unfallbegriff gemäss Art. 4 ATSG mangels eines ungewöhnlichen äusseren Faktors nicht erfüllt ist.  
 
2.2.  
 
2.2.1. Die Vorinstanz hat die rechtlichen Grundlagen und die Rechtsprechung betreffend die hier anwendbare, am 1. Januar 2017 in Kraft getretene Bestimmung von Art. 6 Abs. 2 UVG über die Leistungen des Unfallversicherers aus unfallähnlicher Körperschädigung (zu deren zeitlichem Anwendungsbereich: BGE 146 V 51 E. 2.3) richtig dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der Untersuchungsmaxime und des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG; vgl. auch Art. 43 Abs. 1), des massgebenden Beweisgrads der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 146 V 271 E. 4.4) sowie des Beweiswerts ärztlicher Berichte oder Gutachten (BGE 135 V 465 E. 4.5, 134 V 231 E. 5.1, 125 V 351 E. 3b/bb). Darauf wird verwiesen. Beizupflichten ist der Vorinstanz auch, dass der Versicherungsträger die vorübergehenden Leistungen ohne Berufung auf einen Wiedererwägungs- oder Revisionsgrund mit Wirkung für die Zukunft ("ex nunc et pro futuro") einstellen kann, etwa mit dem Argument, bei richtiger Betrachtung liege kein versichertes Ereignis vor (BGE 130 V 380 E. 2.3.1), oder der Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem leistungsbegründenden Gesundheitsschaden habe gar nie bestanden oder sei dahingefallen. Eine solche Einstellung kann auch rückwirkend erfolgen, sofern der Unfallversicherer keine Leistungen zurückfordern will (Urteil 8C_786/2021 vom 11. Februar 2022 E. 2 mit Hinweisen).  
 
2.2.2. Hervorzuheben ist, dass gemäss der zu Art. 6 Abs. 2 UVG (in Kraft seit 1. Januar 2017) ergangenen Rechtsprechung in BGE 146 V 51 grundsätzlich bereits die Tatsache, dass eine in Art. 6 Abs. 2 lit. a-h UVG genannte Körperschädigung vorliegt, nunmehr zur Vermutung führt, es handle sich hierbei um eine unfallähnliche Körperschädigung, die vom Unfallversicherer übernommen werden muss. Dieser kann sich aber von seiner Leistungspflicht befreien, wenn er den Nachweis erbringt, dass die Verletzung vorwiegend auf Abnützung oder Erkrankung zurückzuführen ist. Dies setzt voraus, dass er im Rahmen seiner Abklärungspflicht (vgl. Art. 43 Abs. 1 ATSG) nach Eingang der Meldung einer Listenverletzung die Begleitumstände der Verletzung genau abklärt. Bei der in erster Linie von medizinischen Fachpersonen zu beurteilenden Abgrenzungsfrage ist das gesamte Ursachenspektrum der betreffenden Körperschädigung zu berücksichtigen. Nebst dem Vorzustand sind somit auch die Umstände des erstmaligen Auftretens der Beschwerden näher zu beleuchten. Die verschiedenen Indizien, die für oder gegen Abnützung oder Erkrankung sprechen, müssen aus medizinischer Sicht gewichtet werden. Damit der Entlastungsbeweis gelingt, hat der Unfallversicherer gestützt auf beweiskräftige ärztliche Einschätzungen - mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit - nachzuweisen, dass die fragliche Listenverletzung vorwiegend, d.h. im gesamten Ursachenspektrum zu mehr als 50 %, auf Abnützung oder Erkrankung zurückzuführen ist (vgl. auch Urteil 8C_593/2021 vom 6. Januar 2022 E. 2.3).  
 
3.  
Die Vorinstanz erwog im Wesentlichen, das Gutachten der F.________ vom 2. Dezember 2020 mit ergänzender Stellungnahme des orthopädischen Gutachters der F.________, Dr. med. G.________, vom 2. März 2021 erfülle die praxisgemässen Anforderungen an beweiskräftige Entscheidungsgrundlagen. Weiter zeigte die Vorinstanz eingehend auf, weshalb die Einwände der Beschwerdeführerin hieran nichts zu ändern vermöchten. Gestützt auf dieses Gutachten habe die Visana - so die Vorinstanz weiter - den Nachweis erbracht, dass die Rotatorenmanschettenruptur der Beschwerdeführerin auf Abnützung oder Erkrankung zurückzuführen bzw. degenerativ bedingt sei. Deshalb habe sie ihre Leistungen rückwirkend unter Verzicht auf Rückforderung ex nunc et pro futuro (per 6. Juli 2018) einstellen dürfen. 
 
4.  
 
4.1. Die Beschwerdeführerin beruft sich auf die Berichte des Röntgeninstituts C.________ vom 6. Juli 2018, des Dr. med. H.________, Facharzt FMH für Orthopädische Chirurgie FMH und Traumatologie des Bewegungsapparats, Orthopädische Klinik D.________, vom 31. August und 19. September 2018 (Operationsbericht) sowie des Dr. med. E.________ vom 4. Oktober 2018. Sie macht im Wesentlichen geltend, gestützt auf diese Berichte spreche nichts dafür, dass die Verletzung degenerativer Art sei. Aus den Akten gehe nicht hervor, dass die Sehnenstruktur vorgeschwächt gewesen sei. Vielmehr ergebe sich aus den Röntgenbildern vom 6. Juli 2018 und aus dem Bericht des Dr. med. G.________ vom 2. März 2021, dass deren Qualität gut gewesen sei. Selbst Dr. med. E.________ habe am 4. Oktober 2018 Hinweise auf einen degenerativen Prozess an der rechten Schulter verneint. Mit der Einholung des Gutachtens der F.________ habe die Visana ihrer Leistungspflicht entgehen wollen. Indem die Vorinstanz die dreiste Aussage des Dr. med. G.________, der Status quo sine sei bereits am 6. Juli 2018 erreicht gewesen, übernommen habe, sei sie in Willkür verfallen. Es sei mehrfach, auch durch Dr. med. E.________, dargelegt worden, dass die diskrete geringwertige Impingement-Symptomatik nicht zur Sehnenruptur habe führen können. Somit habe kein degenerativer Vorzustand an der rechten Schulter bestanden.  
 
4.2.  
 
4.2.1. Die Vorinstanz hat eingehend und schlüssig dargelegt, dass dem orthopädischen Gutachter der F.________, Dr. med. G.________, die von der Beschwerdeführerin angerufenen, in E. 4.1 hiervor aufgeführten Arztberichte bekannt waren und er sich mit ihnen auseinandergesetzt hat. Sie hat zudem aufgezeigt, weshalb diese Berichte die Einschätzung des Dr. med. G.________, die von den übrigen Gutachtern der F.________ geteilt wurde, nicht zu entkräften vermöchten. Mit diesen vorinstanzlichen Erwägungen setzt sich die Beschwerdeführerin nicht substanziiert auseinander. Sie zeigt insgesamt keine konkreten Indizien gegen die Zuverlässigkeit des Gutachtens der F.________ vom 2. Dezember 2020 und der ergänzenden Stellungnahme des orthopädischen Gutachters der F.________, Dr. med. G.________, vom 2. März 2021 auf (vgl. BGE 147 V 79 E. 8.1, 135 V 465 E. 4.4). Vielmehr gibt sie im Wesentlichen die eigene Sichtweise wieder, wie die medizinischen Akten zu würdigen und welche Schlüsse daraus zu ziehen seien. Dies genügt nicht, um die vorinstanzliche Beurteilung, die sich auf das Gutachten der F.________ stützt, als unrichtig, unvollständig oder sonstwie bundesrechtswidrig erscheinen zu lassen (Art. 97 Abs. 2 BGG; Urteil 8C_380/2022 vom 27. Dezember 2022 E. 11.1 mit Hinweise).  
 
4.2.2. Da von weiteren medizinischen Abklärungen keine entscheidrelevanten Resultate zu erwarten waren, durfte die Vorinstanz davon absehen. Dies verstösst weder gegen den Untersuchungsgrundsatz noch gegen die Ansprüche auf freie Beweiswürdigung sowie Beweisabnahme (Art. 61 lit. c ATSG) und rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV; antizipierte Beweiswürdigung; BGE 144 V 361 E. 6.5; Urteil 8C_697/2022 vom 25. Mai 2023 E. 6).  
 
4.2.3. Nach dem Gesagten ist es nicht bundesrechtswidrig, wenn die Vorinstanz gestützt auf das Gutachten der F.________ den Entlastungsbeweis der Visana anerkannte, wonach die Schädigung an der rechten Schulter der Beschwerdeführerin vorwiegend in Abnützung bzw. Erkrankung gründet und der Status quo sine per 6. Juli 2018 erreicht gewesen sei. Somit hat es beim angefochtenen Urteil sein Bewenden.  
 
5.  
Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege kann ihr wegen Aussichtslosigkeit der Beschwerde nicht gewährt werden (Art. 64 BGG). 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 6. Juli 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Jancar