7B_155/2022 19.10.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_155/2022  
 
 
Urteil vom 19. Oktober 2023  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichterin Koch, Bundesrichter Kölz, 
Gerichtsschreiber Caprara. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Barbara Fink Winzap, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
1. Staatsanwaltschaft See/Oberland, 
Postfach, 8610 Uster, 
2. B.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Denise Wüst, 
Beschwerdegegnerinnen. 
 
Gegenstand 
Verfahrenseinstellung (fahrlässige Körperverletzung), 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts 
des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 15. November 2021 (UE200327-O/U/HUN). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Am 2. Mai 2018 ereignete sich ein Verkehrsunfall zwischen B.________ und A.________. B.________ wurde mit Strafbefehl vom 26. August 2019 wegen einfacher Verkehrsregelverletzung für schuldig erkannt und mit einer Busse bestraft. Dieser Strafbefehl erwuchs in Rechtskraft. Der Sachverhalt gemäss Strafbefehl lautet wie folgt: 
 
"Die Beschuldigte lenkte (am 2. Mai 2018) ihren Personenwagen (...) von der U.________strasse xxx in V.________ herkommend, wo sie bei der Kreuzung zur Einfahrt in die U.________strasse infolge pflichtwidriger Unaufmerksamkeit A.________, welcher mit dem Fahrrad von links kommend auf dem Trottoir der U.________strasse fuhr (...), übersah und mit diesem beim Einfahren in die U.________strasse kollidierte." 
 
 
B.  
Die Staatsanwaltschaft See/Oberland stellte das Strafverfahren betreffend fahrlässige Körperverletzung mit Verfügung vom 26. August 2019 ein. Diese Verfügung hob das Obergericht des Kantons Zürich auf Beschwerde von A.________ hin am 25. November 2019 auf und wies die Sache zur weiteren Ermittlung an die Staatsanwaltschaft zurück. Mit Verfügung vom 25. September 2020 stellte die Staatsanwaltschaft See/Oberland das Strafverfahren betreffend fahrlässige Körperverletzung in Anwendung des Grundsatzes "ne bis in idem" ein. 
Das Obergericht des Kantons Zürich wies die dagegen von A.________ erhobene Beschwerde mit Beschluss vom 15. November 2021 ab. 
 
C.  
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Er beantragt, der Beschluss des Obergerichts vom 15. November 2021 sei aufzuheben und die Staatsanwaltschaft See/Oberland sei anzuweisen, die Strafuntersuchung gegen B.________ fortzusetzen bzw. die Schlusseinvernahme durchzuführen, um anschliessend Anklage zu erheben. Eventualiter sei das Verfahren an das Obergericht zurückzuweisen, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen. Der Beschwerdeführer beantragt die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
Die kantonalen Akten wie auch Vernehmlassungen wurden eingeholt. Das Obergericht des Kantons Zürich verzichtet mit Eingabe vom 24. Juli 2023 auf eine Stellungnahme. Die Staatsanwaltschaft See/Oberland beantragt mit Stellungnahme vom 30. August 2023 die Abweisung der Beschwerde; sie verweist auf den angefochtenen Beschluss. B.________ verzichtet mit Eingabe vom 5. Oktober 2023 auf eine Stellungnahme. Alle Eingaben wurden A.________ zur Kenntnis zugestellt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein letztinstanzlicher kantonaler Entscheid (Beschluss) in Strafsachen (Art. 78 Abs. 1, Art. 80 Abs. 1, Art. 90 BGG). Die Beschwerde wurde frist- (Art. 100 Abs. 1 BGG) und formgerecht (Art. 42 Abs. 1 BGG) eingereicht. Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren als Privatkläger teilgenommen. Er macht eine unfallbedingte Körperverletzung geltend. Insoweit ist er zur Beschwerde in Strafsachen legitimiert (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz verstosse gegen Bundesrecht (Art. 11 i.V.m. Art. 319 Abs. 1 lit. d StPO). Entgegen ihren Ausführungen liege mit der strassenverkehrsrechtlichen Verurteilung kein Fall von "ne bis in idem" vor. Die Vorinstanz komme im angefochtenen Beschluss diesbezüglich zu einem diametral anderen Ergebnis als in ihrem ersten Entscheid vom 25. November 2019, bzw. sie setze sich im Widerspruch zu diesem. Damit verstosse sie gegen den Grundsatz von Treu und Glauben nach Art. 3 Abs. 2 StPO. Der Strafbefehl vom 26. August 2019 sei bereits im Zeitpunkt ihres ersten Entscheids vom 25. November 2019 vorgelegen. Darin sei die Vorinstanz zum Schluss gekommen, es sei nicht auszuschliessen, dass der Beschwerdegegnerin 2 ein strafrechtlich relevantes Verhalten, d.h. eine fahrlässige Körperverletzung, vorzuwerfen sei. Hätten Prozesshindernisse bestanden, hätte die Vorinstanz dies bereits damals festhalten müssen. Dass sie mit dem angefochtenen Beschluss vom 15. November 2021 auf ihre frühere Einschätzung vom 25. November 2019 zurückkomme, gehe nicht an.  
 
2.2. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung machen Teileinstellungsverfügungen, auch wenn sie ebenfalls den zur Anklage gebrachten Lebenssachverhalt betreffen und letztlich unangefochten blieben, einen Schuldspruch bezüglich der im gleichen Verfahren angeklagten Taten nicht unmöglich. Entscheidend ist, dass die Teileinstellungsverfügung auf die gleichzeitig erhobene oder bereits hängige Anklage bzw. den gleichzeitig erlassenen Strafbefehl Bezug nimmt und folglich als solche deklariert wird. Aus der Teileinstellungsverfügung muss hervorgehen, dass das Verfahren nicht als Ganzes, sondern lediglich bezüglich einzelner, nicht angeklagter, erschwerender Tatumstände betreffend etwa vom Opfer behauptete weitere Tathandlungen, zusätzliche Tatfolgen (bspw. zusätzliche Verletzungen) oder zusätzliche innere Tatsachen (bspw. ein über die verursachten Verletzungen hinausgehender Tötungswille des Täters) etc. eingestellt wird. Solche Teileinstellungsverfügungen dienen folglich nicht der Einstellung des gesamten Verfahrens, sondern der Fixierung des Gegenstands des gerichtlichen Verfahrens (BGE 148 IV 124 E. 2.6.6 mit Hinweisen).  
 
2.3. Aus dem Verfahrensgang ergibt sich, dass mit der (ersten) Einstellungsverfügung wegen fahrlässiger Körperverletzung gleichzeitig ein Strafbefehl wegen einfacher Verkehrsregelverletzung ergangen ist. Diese Vorwürfe gehen auf denselben Verkehrsunfall vom 2. Mai 2018 zurück. Bei der ersten wie auch bei der zweiten Einstellungsverfügung vom 25. September 2020, die von der Vorinstanz am 15. November 2021 geschützt wurde, handelt es sich um explizite Teileinstellungsverfügungen. Das vorinstanzliche Argument der impliziten Teileinstellung mittels des Strafbefehls vom 26. August 2019 findet im kantonalen Verfahrensgang keine Stütze, wie der Beschwerdeführer zu Recht geltend macht (Beschwerde S. 11 f.; vgl. angefochtener Beschluss S. 11), zumal gleichentags eine explizite Einstellungsverfügung ergangen ist, welche der Beschwerdeführer erfolgreich angefochten hat (vgl. oben Sachverhalt lit. B). Mit dieser Begründung lässt sich der vorinstanzliche Beschluss nicht halten.  
Dies gilt auch in Bezug auf die vorinstanzliche Argumentation hinsichtlich des Grundsatzes "ne bis in idem", welche sich auf eine seither überholte bundesgerichtliche Praxis stützt. Aus der neueren bundesgerichtlichen Praxis, welche auf die von der Vorinstanz zitierte veraltete Rechtsprechung Bezug nimmt (vgl. oben E. 2.2), ergibt sich, dass das verfahrensrechtliche Schicksal des Vorwurfs der einfachen Verkehrsregelverletzung und der fahrlässigen Körperverletzung voneinander unabhängig sind. Denn der Vorwurf der Körperverletzung enthält ein zusätzliches Sachverhaltselement, welches nicht Gegenstand des Verfahrens betreffend Verkehrsregelverletzung bildet. Dass sowohl mit dem Vorwurf der Verkehrsregelverletzung als auch mit demjenigen der Körperverletzung (auch) der Vorwurf der Sorgfaltspflichtverletzung verbunden sein mag, ist unerheblich. Die rechtskräftige Beurteilung hinsichtlich der Verkehrsregelverletzung steht einem Verfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung nicht entgegen. Die Vorinstanz verletzt Bundesrecht, wenn sie gestützt auf den Grundsatz "ne bis in idem" die staatsanwaltschaftliche Verfahrenseinstellung schützt. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben und die Sache an die Staatsanwaltschaft zur Weiterführung der Strafuntersuchung zurückzuweisen (Art. 107 Abs. 2 Satz 2 BGG). 
 
3.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung des Beschwerdeführers ist gegenstandslos. Es sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Zürich ist zu verpflichten, dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich vom 15. November 2021 wird aufgehoben und die Sache an die Staatsanwaltschaft zur Weiterführung der Strafuntersuchung zurückgewiesen. 
 
2.  
 
2.1. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist gegenstandslos.  
 
2.2. Es werden keine Kosten erhoben.  
 
2.3. Der Kanton Zürich wird verpflichtet, dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen.  
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 19. Oktober 2023 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Der Gerichtsschreiber: Caprara