9C_520/2022 04.12.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_520/2022  
 
 
Urteil vom 4. Dezember 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Christian Jaeggi, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen 
vom 5. Oktober 2022 (IV 2022/10). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1987 geborene A.________ meldete sich im August 2015 unter Hinweis auf einen am 6. Oktober 2014 beim Klettern erlittenen Unfall bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 14. März 2017 verneinte die IV-Stelle des Kantons Aargau einen Anspruch auf berufliche Massnahmen und auf eine Invalidenrente, weil seit Mai 2016 keine Arbeitsunfähigkeit mehr attestiert worden sei. Im September 2017 ersuchte A.________ unter Hinweis auf einen verschlechterten Gesundheitszustand erneut um Leistungen der Invalidenversicherung. 
Die nunmehr zuständige IV-Stelle des Kantons St. Gallen (nachfolgend: IV-Stelle) gewährte A.________ mit Mitteilung vom 14. August 2018 Beratung und Unterstützung zum Erhalt ihres Arbeitsplatzes. Am 4. Januar 2019 verneinte die IV-Stelle unter Erwähnung der Anstellung der Versicherten in einem Pensum von 50 % einen Anspruch auf weitere berufliche Massnahmen. Nach Abklärungen - insbesondere Beizug des durch die Unfallversicherung veranlassten Gutachtens der asim Begutachtung, Universitätsspital Basel (nachfolgend: asim), vom 10. September 2020 - und Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 6. Dezember 2021 einen Rentenanspruch der A.________ mangels eines invalidisierenden Gesundheitsschadens. 
 
B.  
Auf die dagegen erhobene Beschwerde trat das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen nicht ein, soweit sie den Anspruch auf berufliche Massnahmen betraf; hinsichtlich des Rentenanspruchs wies es die Beschwerde ab (Entscheid vom 5. Oktober 2022). 
 
C.  
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 5. Oktober 2022 und der Verfügung vom 6. Dezember 2021 sei die IV-Stelle zu verpflichten, ihr die gesetzlichen Leistungen - insbesondere eine Invalidenrente, eventualiter Eingliederungsmassnahmen - zu erbringen; eventualiter sei die Sache zur gesetzeskonformen Abklärung des medizinischen Sachverhalts an das kantonale Gericht oder an die IV-Stelle zurückzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der Anspruch auf berufliche Massnahmen war nicht Gegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens, und die Beschwerdeführerin macht nicht geltend, dass resp. weshalb das kantonale Gericht diesbezüglich auf ihre Beschwerde hätte eintreten müssen. Der in diesem Verfahren gestellte Antrag betreffend berufliche Massnahmen ist daher von vornherein unzulässig (vgl. Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG; BGE 125 V 413 E. 1).  
 
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Eine qualifizierte Rügepflicht gilt hinsichtlich der Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht. Das Bundesgericht prüft eine solche Rüge nur insofern, als sie in der Beschwerde präzise vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 136 I 49 E. 1.4.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.  
 
2.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem hier angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging am 6. Dezember 2021. Dieser Zeitpunkt begrenzt den gerichtlichen Prüfungszeitraum (vgl. BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 132 V 215 E. 3.1.1). Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind hier die Bestimmungen des IVG, der IVV (SR 831.201) und des ATSG (SR 830.1) in der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung anwendbar. Sie werden im Folgenden jeweils in dieser Version wiedergegeben, zitiert und angewendet.  
 
2.2. Der Rentenanspruch ist abgestuft: Bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 % resp. 50 %, 60 % oder 70 % besteht Anspruch auf eine Viertelsrente resp. halbe Rente, Dreiviertelsrente oder ganze Rente (Art. 28 Abs. 2 IVG).  
 
2.3. Bei einer Neuanmeldung zum Leistungsbezug finden die Grundsätze zur Rentenrevision analog Anwendung (Art. 17 Abs. 1 ATSG; Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV; BGE 130 V 71 E. 3.2.3). Daher ist zunächst eine anspruchsrelevante Veränderung des Sachverhalts erforderlich; erst in einem zweiten Schritt ist der (Renten-) Anspruch in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umfassend zu prüfen (BGE 141 V 9; Urteile 8C_308/2021 vom 4. Oktober 2021 E. 3.2.1; 9C_135/2021 vom 27. April 2021 E. 2.1).  
 
2.4. Bei der Beurteilung der Arbeits (un) fähigkeit stützt sich die Verwaltung und im Beschwerdefall das Gericht auf Unterlagen, die von ärztlichen und gegebenenfalls auch anderen Fachleuten zur Verfügung zu stellen sind. Ärztliche Aufgabe ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob dieser für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen der Experten begründet sind (BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a).  
 
3.  
Die Vorinstanz hat das durch die Unfallversicherung veranlasste asim-Gutachten eingehend gewürdigt und ihm auch für die Belange der Invalidenversicherung sowie mit Blick auf die Rechtsprechung betreffend psychische Erkrankungen (BGE 141 V 281) Beweiskraft beigemessen. Gestützt darauf hat sie festgestellt, die Beschwerdeführerin sei als Bewegungswissenschaftlerin mit Schwerpunkt Biomechanik für Tätigkeiten auf bildungsentsprechendem Anforderungsniveau - unter Berücksichtigung der im asim-Gutachten empfohlenen Adaptionskriterien und mit Ausnahme von Arbeiten mit Sturzgefahr - uneingeschränkt arbeitsfähig. Weil das kantonale Gericht trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung eine leidensadaptierte Tätigkeit im angestammten Bereich für zumutbar gehalten hat, hat es einen Prozentvergleich vorgenommen und die Invalidität auf 0 % festgelegt. 
 
4.  
 
4.1. Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) resp. des daraus fliessenden Rechts auf Beweis geltend, weil die von ihr gestellten Ergänzungsfragen im asim-Gutachten abgeändert oder gar nicht beantwortet worden seien. Die nicht näher substanziierte Rüge einer Grundrechtsverletzung genügt den qualifizierten Anforderungen an die Begründung (vgl. vorangehende E. 1.2) nicht; darauf ist nicht weiter einzugehen.  
 
4.2. Weiter zielt die Rüge, die IV-Stelle habe die Beträge für das Validen- und das Invalideneinkommen falsch festgelegt, ins Leere: Einerseits kann nicht die Invaliditätsbemessung der IV-Stelle, sondern nur jene der Vorinstanz gerügt werden (vgl. Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG). Anderseits hat diese einen Prozentvergleich vorgenommen und deswegen die Vergleichseinkommen nicht betraglich festgesetzt. Diesbezügliche Weiterungen erübrigen sich.  
 
4.3. Sodann stellt die Beschwerdeführerin die Beweiskraft des asim-Gutachtens in Abrede. Dabei beruft sie sich u.a. auf das von der Krankentaggeldversicherung veranlasste bidisziplinäre Gutachten der PMEDA AG Polydisziplinäre Medizinische Abklärungen (nachfolgend: PMEDA) vom 27. Februar 2018, worin eine Arbeitsunfähigkeit von 50 % attestiert worden war. Ob das kantonale Gericht für die Feststellung betreffend die Arbeitsfähigkeit dennoch auf das asim-Gutachten abstellen durfte, kann indessen offenbleiben. Entscheidend und in Rechtsanwendung von Amtes wegen zu berücksichtigen ist, was sogleich (in E. 4.4) folgt.  
 
4.4.  
 
4.4.1. Für die Annahme einer anspruchserheblichen Veränderung im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG (vgl. vorangehende E. 2.3) genügt unter medizinischen Aspekten weder eine im Vergleich zu früheren ärztlichen Einschätzungen ungleich attestierte Arbeitsunfähigkeit noch eine unterschiedliche diagnostische Einordnung des geltend gemachten Leidens; massgeblich ist vielmehr eine (erheblich) veränderte Befundlage (BGE 141 V 9 E. 2.3; Urteile 9C_280/2021 vom 13. August 2021 E. 2.1.1; 9C_135/2021 vom 27. April 2021 E. 2.1 mit weiteren Hinweisen). Eine Verschlechterung der Erwerbsfähigkeit (etwa infolge eines verschlechterten Gesundheitszustandes) ist zu berücksichtigen, sobald sie ohne wesentliche Unterbrechung drei Monate gedauert hat (Art. 88a Abs. 2 IVV).  
Der für eine erhebliche Sachverhaltsveränderung massgebliche Referenzzeitpunkt ist hier der 14. März 2017 (Erlass der ersten anspruchsverneinenden Verfügung), während sich der gerichtliche Überprüfungszeitraum bis zum 6. Dezember 2021 (Erlass der dem vorinstanzlichen Verfahren zugrunde liegenden Verfügung) erstreckt (vgl. BGE 133 V 108 E. 5.4 und 129 V 1 E. 1.2). 
 
4.4.2. Das kantonale Gericht hat keine Feststellung betreffend die Entwicklung des Sachverhalts im massgeblichen Zeitraum getroffen. Die Unterlagen erlauben ohne Weiteres eine Ergänzung durch das Bundesgericht (vgl. vorangehende E. 1.2). Ein Anhaltspunkt für eine erhebliche gesundheitliche Verschlechterung seit dem 14. März 2017 mit entsprechend veränderter Befundlage ist nicht ersichtlich. Ein solcher lässt sich insbesondere weder dem asim-Gutachten noch dem PMEDA-Gutachten entnehmen, obwohl in beiden Expertisen der gesundheitliche Verlauf namentlich seit dem Unfall vom Oktober 2014 dargestellt wurde. Eine gesundheitliche Verschlechterung macht (e) die Beschwerdeführerin in den Beschwerdeverfahren denn auch nicht geltend. Die vorübergehende vollständige Arbeitsunfähigkeit zufolge der stationären Behandlung vom 6. Juli bis zum 2. August 2017 ist nicht zu berücksichtigen, da sie nicht drei Monate anhielt.  
 
4.4.3. Mangels einer anspruchsrelevanten Sachverhaltsveränderung seit März 2017 hat die Vorinstanz im Ergebnis zu Recht einen Rentenanspruch verneint. Die Beschwerde ist unbegründet.  
 
5.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 4. Dezember 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann