8C_682/2022 27.11.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_682/2022  
 
 
Urteil vom 27. November 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterin Viscione, Bundesrichter Métral, 
Gerichtsschreiberin Huber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Petra Oehmke Schiess, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zug, 
Baarerstrasse 11, 6300 Zug, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 24. Oktober 2022 (S 2021 170). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1983 geborene A.________ meldete sich am 19. September 2018 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nachdem die IV-Stelle des Kantons Zug unter anderem die Einschränkungen der Versicherten im Haushalt abgeklärt hatte (Bericht vom 14. Oktober 2019), veranlasste sie eine Begutachtung bei Dr. med. B.________, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie (Expertise vom 21. September 2021). Gestützt auf die Ergebnisse dieses Gutachtens verneinte die IV-Stelle einen Leistungsanspruch (Verfügung vom 10. November 2021). 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zug mit Urteil vom 24. Oktober 2022 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, das kantonale Urteil sei aufzuheben. Die Sache sei zu weiteren Abklärungen an die IV-Stelle zurückzuweisen. Darüber hinaus stellt sie ein Gesuch um die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen lässt sich nicht vernehmen. 
Am 17. Juli und 18. September 2023 reicht A.________ weitere Eingaben ein. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Das Bundesgericht prüft die Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 139 V 42 E. 1). Da die Beschwerde an das Bundesgericht ein reformatorisches Rechtsmittel ist (Art. 107 Abs. 2 BGG), darf sich diese grundsätzlich nicht auf einen rein kassatorischen Antrag beschränken. Anders verhält es sich, wenn das Bundesgericht im Fall einer Gutheissung in der Sache ohnehin nicht selbst entscheiden könnte, insbesondere weil die erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz fehlen (BGE 136 V 131 E. 1.2; 134 III 379 E. 1.3). Auf die Beschwerde, mit der diese Rüge erhoben wird, ist deshalb einzutreten. 
 
2.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4). 
 
3.  
Die Beschwerdeführerin legt mit der Eingabe vom 17. Juli 2023 einen bildgebenden Befund vom 26. Juni 2023 auf. Dieses Beweismittel ist erst nach dem kantonalen Urteil entstanden, weshalb es als echtes Novum im bundesgerichtlichen Verfahren nicht berücksichtigt werden kann (BGE 143 V 19 E. 1.2 mit Hinweisen). 
 
4.  
Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). 
Die dem hier angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar (BGE 148 V 174 E. 4.1). 
 
5.  
 
5.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz in Bestätigung der Verfügung der IV-Stelle zu Recht einen Leistungsanspruch der Beschwerdeführerin verneint hat.  
 
5.2. Das kantonale Gericht hat die massgeblichen Rechtsgrundlagen zum Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 IVG; Art. 6 und 8 ATSG) korrekt dargelegt. Zutreffend wiedergegeben hat es auch die Rechtsprechung betreffend den Beweiswert und die Beweiswürdigung medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a). Darauf wird verwiesen.  
 
6.  
Die Vorinstanz hat der psychiatrischen Expertise des Dr. med. B.________ vom 21. September 2021 Beweiskraft zuerkannt. Gestützt darauf hat sie festgehalten, dass eine schwere, verselbstständigte psychische Gesundheitsstörung mit dauernder Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit nicht plausibilisiert werden könne. Die Beschwerdeführerin habe ihre Einschränkungen wenig verlässlich, sehr vage und generalisierend geschildert. Zudem fehlten objektivierbare psychopathologische Befunde gänzlich. Dies spreche zumindest gegen das Vorliegen einer Depression mittelschwerer Ausprägung. Die Problematik der Beschwerdeführerin gründe in psychosozialen Belastungsfaktoren. Zusätzliche Abklärungen betreffend die Bandscheibenproblematik im Halswirbelsäulenbereich hätten sich erübrigt, so das kantonale Gericht weiter. Die behandelnde Neurochirurgin habe mit Schreiben vom 20. Dezember 2018 dargelegt, dass es der Beschwerdeführerin deutlich besser gehe. Einschränkungen im Erwerb seien nicht berichtet worden. 
 
7.  
 
7.1. Die Beschwerdeführerin macht zunächst eine Gehörsverletzung (Art. 29 Abs. 2 BV) im Sinne einer Verletzung der Begründungspflicht durch die Vorinstanz geltend. Diese sei nicht auf ihre Kritik am Gutachten des Dr. med. B.________ eingegangen.  
 
7.2. Die aus dem verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör fliessende Verpflichtung der Behörde, ihren Entscheid zu begründen, verlangt nicht, dass sich diese mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt. Es liegt keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beziehungsweise der Begründungspflicht vor, wenn eine sachgerechte Anfechtung des vorinstanzlichen Entscheids möglich war (vgl. BGE 142 III 433 E. 4.3.2 mit Hinweisen; Urteil 9C_473/2021 vom 21. Februar 2022 E. 4.3.2).  
 
Das kantonale Gericht hat dargelegt, weshalb es dem Gutachten Beweiskraft zuerkannt hat. Es hat zwar nur kurz, aber immerhin erwogen, dass die Rügen betreffend den mangelnden Beweiswert ins Leere zielen würden. Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführerin das Urteil nicht sachgerecht hätte anfechten können, sind weder ersichtlich noch vorgetragen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt nicht vor. 
 
8.  
Die Beschwerdeführerin bestreitet den Beweiswert der Expertise des Dr. med. B.________. 
 
8.1. Mit Schreiben vom 3. Mai 2021 teilte die IV-Stelle der Beschwerdeführerin den formulierten Gutachterauftrag sowie den Fragenkatalog vorgängig mit und setzte ihr eine Frist zur Einreichung von Einwendungen an. Diese macht nun vor Bundesgericht geltend, der Experte sei aufgrund des von der IV-Stelle formulierten Auftrages befangen gewesen. Ob diese Rüge verspätet ist (vgl. BGE 143 V 66 E. 4.3 mit Hinweisen), kann offen bleiben. Denn jedenfalls vermag die Beschwerdeführerin mit ihrem Vorbringen, Dr. med. B.________ habe sich für die Begutachtung kaum Zeit genommen und sich nicht die Mühe gemacht, die im Raum stehenden Diagnosen durch Tests zu objektivieren, keine Voreingenommenheit darzulegen.  
 
8.2. Dem psychiatrischen Sachverständigen waren die Vorakten bekannt. Zudem befragte er die Beschwerdeführerin zu ihrem Gesundheitszustand, aber auch zu ihrer Biografie und ihrer Familie. Die entsprechenden Informationen flossen durchaus in seine versicherungsmedizinische Beurteilung ein. Daraus geht insbesondere hervor, dass Dr. med. B.________ die deprivierenden Entwicklungsbedingungen im häuslichen Umfeld berücksichtigte. Trotzdem konnte er keine Persönlichkeitsstörung diagnostizieren. Er begründete dies damit, dass er die dafür erforderlichen Diagnosekriterien nach ICD-10 nicht habe feststellen können. Gegen das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung spreche, dass die Beschwerdeführerin in mehrjährigen Anstellungsperioden immer wieder vollzeitlich berufstätig gewesen sei. Wie die IV-Stelle in ihrer Vernehmlassung zutreffend festhält, setzte sich Dr. med. B.________ unter dem Punkt "Konsistenz-, Plausibilitätsprüfung und Verlauf der Arbeitsunfähigkeit" eingehend mit der persönlichen Situation der Beschwerdeführerin seit ihrem Aufenthalt in der Psychiatrischen Klinik C.________ im Jahr 2014 auseinander. Soweit sie daher geltend macht, es sei im Hinblick auf ihre Kindheit und Jugend nicht nachvollziehbar, dass Dr. med. B.________ eine Persönlichkeitsstörung verneint habe, setzt sie lediglich ihre eigene laienhafte Schlussfolgerung an die Stelle der fachärztlichen Ausführungen. Dies vermag keine konkreten Anhaltspunkte gegen die Zuverlässigkeit der psychiatrischen Expertise zu begründen (vgl. BGE 137 V 210 E. 1.3.4). Nichts anderes gilt für den Einwand, Dr. med. B.________ habe sich widersprochen, indem er einerseits auf die Überforderung aus psychosozialen Gründen und anderseits auf das hohe Funktionsniveau hingewiesen habe. Ein Widerspruch ist hier nicht zu erblicken.  
 
8.3. Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz der Expertise des Dr. med. B.________ bundesrechtskonform Beweiswert zuerkannt.  
 
9.  
 
9.1. Die Beschwerdeführerin sieht den Untersuchungsgrundsatz verletzt, da es die IV-Stelle wie auch die Vorinstanz unterlassen hätten, die Halswirbelsäulenproblematik gutachterlich abzuklären. Soweit sie unter anderem vorbringt, die IV-Stelle habe diesbezüglich nicht einmal einen Arztbericht eingefordert, so trifft dies nicht zu. Diese holte bei Dr. med. D.________, Fachärztin für Neurochirurgie, sämtliche Sprechstundenberichte und damit insbesondere auch jenen vom 20. Dezember 2018 ein. Darin hielt die Neurochirurgin fest, dass derzeit kein Handlungsbedarf bestehe. Sie habe der Beschwerdeführerin empfohlen, auf die Körperhaltung zu achten und regelmässig muskelentspannende Massnahmen wie Massagen, sportliche Aktivitäten etc. durchzuführen. Die Stellungnahmen von Dr. med. D.________ wurden dem Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) unterbreitet, der am 26. Mai 2020 unter Berücksichtigung eines leicht eingeschränkten ergonomischen Profils zu dem Schluss gelangte, dass keine Einschränkung im erwerblichen Bereich vorliege. Die IV-Stelle weist in ihrer Vernehmlassung darauf hin, dass die Beschwerdeführerin nicht mehr über Rückenschmerzen geklagt habe. So habe sie in einer ausführlichen E-Mail an die Eingliederungsberaterin der IV-Stelle vom 13. August 2020 ausschliesslich über psychiatrische und psychosoziale Probleme berichtet.  
 
9.2. Vor diesem Hintergrund hat die Vorinstanz in Bezug auf die Halswirbelsäulenproblematik willkürfrei und ohne Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes von weiteren Abklärungen absehen dürfen.  
 
 
10.  
 
10.1. Gestützt auf den Abklärungsbericht Haushalt vom 14. Oktober 2019 ist das kantonale Gericht davon ausgegangen, dass die Beschwerdeführerin im Gesundheitsfall in einem Pensum von maximal 60 % im Büro erwerbstätig wäre. Dabei hat es ein ausserhäusliches Pensum von 60 % und eine Betätigung im Haushalt von 40 % angenommen. Diese Tatsache blieb bereits im kantonalen Verfahren unbestritten und gibt auch im vorliegenden Verfahren keinen Anlass zu Weiterungen.  
 
10.2. Die Beschwerdeführerin macht indessen geltend, das kantonale Gericht habe dem Abklärungsbericht, wonach eine Einschränkung im Haushalt von 4,25 % resultierte, zu Unrecht Beweiswert beigemessen und willkürlich darauf abgestellt. Sie rügt, der Bericht sei in sich nicht stimmig. Sie sei am Nachmittag noch im Schlafanzug gewesen und habe bei der Sachbearbeiterin über Ängste und Vernachlässigung von Haushalt und Körperpflege geklagt. Dennoch habe diese nur eine geringfügige Einschränkung festgehalten. Damit vermag die Beschwerdeführerin den Beweiswert des Abklärungsberichtes nicht in Frage zu stellen und es sind auch keine Anhaltspunkte ersichtlich, die eine solche Schlussfolgerung zulassen würden. Zudem äusserte sich auch Dr. med. B.________ sowohl zum Abklärungsbericht als auch zu einer allfälligen Einschränkung im Haushalt. Er führte aus, er könne keine psychische Gesundheitsstörung mit dauernder Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit plausibilisieren, die allfällige relevante Auswirkungen auf die Lebensbereiche wie unter anderem Haushalt erklären würde. Mithin ist das Ergebnis der vorinstanzlichen Beweiswürdigung im Zusammenhang mit der Betätigung im Haushalt nicht willkürlich.  
 
11.  
Die Beschwerde ist unbegründet. 
 
12.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat grundsätzlich die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu bezahlen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (Art. 64 BGG) kann jedoch entsprochen werden. Es wird indes ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach sie der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwältin Petra Oehmke Schiess wird als unentgeltliche Anwältin bestellt. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.  
Der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 27. November 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber