1B_295/2022 30.06.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_295/2022  
 
 
Urteil vom 30. Juni 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Müller, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Merz, Kölz, 
Gerichtsschreiber Forster. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Camill Droll, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, 4500 Solothurn. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren, Nichtrückweisung; 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Solothurn, Strafkammer, vom 17. Mai 2022 (STBER.2022.30). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Urteil vom 19. März 2021 sprach das Amtsgericht Olten-Gösgen A.________ der versuchten Tötung, des Raufhandels und der mehrfachen Vergehen gegen das Waffengesetz schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren und einer Geldstrafe (140 Tagessätze à Fr. 60.--). In seiner Berufungserklärung vom 9. März 2022 stellte der Beschuldigte den Hauptantrag, das Strafurteil vom 19. März 2021 sei aufzuheben und die Akten seien zur Neubeurteilung (in neuer Besetzung) an das Amtsgericht zurückzuweisen. Mit Beschluss vom 17. Mai 2022 wies das Obergericht des Kantons Solothurn, Strafkammer, diesen Antrag ab. 
 
B.  
Gegen den Beschluss des Obergerichts gelangte der Beschuldigte mit Beschwerde vom 8. Juni 2022 an das Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Rückweisung des Verfahrens an das Richteramt Olten-Gösgen zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung. 
Die kantonale Staatsanwaltschaft hat auf eine Vernehmlassung ausdrücklich verzichtet. Die Vorinstanz beantragt mit Stellungnahme vom 17. August 2022 die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten wäre. Der Beschwerdeführer replizierte am 29. August 2022. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen prozessualen Zwischenentscheid, der das Strafverfahren nicht abschliesst. Die Vorinstanz hat das Gesuch des Beschwerdeführers um Aufhebung des Strafurteils und Rückweisung der Sache an das erstinstanzliche Strafgericht abgewiesen; der Fall ist beim Berufungsgericht anhängig. Zu prüfen ist, ob dem Beschwerdeführer infolge des Verzichts auf eine kassatorische Rückweisung ein nicht wieder gutzumachender Rechtsnachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG droht. Das Bundesgericht prüft diese Frage von Amtes wegen und mit freier Kognition (BGE 145 I 239 E. 2; 142 IV 196 E. 1.1; je mit Hinweisen; vgl. Art. 29 Abs. 1 und Art. 106 Abs. 1 i.V.m. Art. 78 ff. BGG). 
Soweit der drohende nicht wieder gutzumachende Rechtsnachteil nicht offensichtlich gegeben ist, obliegt es dem Beschwerdeführer, diese Sachurteilsvoraussetzung ausreichend zu substanziieren (Art. 42 Abs. 1-2 BGG; BGE 141 IV 1 E. 1.1; 284 E. 2.3; 289 E. 1.3; je mit Hinweisen). Zum Eintretenserfordernis von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG wird in der Beschwerdeschrift geltend gemacht, der nicht wieder gutzumachende Nachteil liege in einem "Instanzenverlust im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtes". 
 
2.  
 
2.1. Tritt das Berufungsgericht auf die Berufung ein, so fällt es ein neues Urteil, welches das erstinstanzliche Urteil ersetzt (Art. 408 StPO). Weist das erstinstanzliche Verfahren wesentliche Mängel auf, die im Berufungsverfahren nicht geheilt werden können, so hebt das Berufungsgericht das angefochtene Urteil auf und weist die Sache zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung und zur Fällung eines neuen Urteils an das erstinstanzliche Gericht zurück (Art. 409 Abs. 1 StPO). Nach der Praxis des Bundesgerichtes muss eine solche kassatorische Erledigung durch Rückweisung aufgrund des vom Gesetzgeber grundsätzlich reformatorisch ausgestalteten Charakters des Berufungsverfahrens die Ausnahme bleiben. Sie kommt nur bei schwerwiegenden, nicht heilbaren Mängeln des erstinstanzlichen Verfahrens in Betracht, wenn die Rückweisung zur Wahrung der Parteirechte, in erster Linie zur Vermeidung eines Instanzenverlusts, unumgänglich ist. Dies kann etwa der Fall sein bei Verweigerung von Teilnahmerechten oder nicht ausreichender Verteidigung, bei gesetzeswidriger Besetzung des Gerichts oder bei unvollständiger Behandlung sämtlicher Anklage- oder Zivilpunkte (BGE 148 IV 155 E. 1.4.1; 143 IV 408 E. 6.1; je mit Hinweisen).  
 
2.2. Die Vorinstanz begründet die Abweisung des kassatorischen Rückweisungsantrages im Wesentlichen wie folgt:  
In seiner Berufungserklärung vom 9. März 2022 habe der Beschwerdeführer den Hauptantrag gestellt, das erstinstanzliche Urteil vom 19. März 2021 sei aufzuheben und die Akten seien zur Neubeurteilung in neuer Besetzung an das Amtsgericht zurückzuweisen. Zur Begründung dieses Antrags habe er im Wesentlichen eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend gemacht. Das Amtsgericht habe sich mit den Hauptargumenten der Verteidigung angeblich in keiner Weise auseinandergesetzt. Hauptsächlich habe er die gerichtliche Beweiswürdigung beanstandet. Er finde, dass das Amtsgericht sich weder mit dem rechtsmedizinischen Gutachten vom 16. April 2018 des Institus für Rechtsmedizin Basel noch mit den Vorbringen der Verteidigung zum Wahrheitsgehalt der Aussagen einer Gewährsperson ausreichend befasst habe. Das Urteil sei nach Ansicht des Beschwerdeführers deshalb formell ungenügend und begründe eine Rechtsverletzung; die kassatorische Rückweisung sei seines Erachtens erforderlich, weil er Anspruch auf einen doppelten kantonalen Instanzenzug habe. 
Das Obergericht erwägt weiter, unabhängig von der Beantwortung der Frage, ob das erstinstanzliche Gericht alle Beweismittel ausreichend gewürdigt habe und auf alle relevanten Argumente des Beschwerdeführers eingegangen sei, werde das Berufungsgericht sämtliche Beweismittel mit voller Kognition einer erneuten Prüfung zu unterziehen haben, da gegen den Schuldspruch Berufung erhoben worden sei. Sollte das Berufungsgericht bzw. dessen Verfahrensleitung zum Schluss kommen, dass noch ein medizinisches Obergutachten einzuholen wäre, würde ein entsprechendes neues Beweismittel hinzukommen, welches vom Berufungsgericht ebenfalls mit voller Kognition zu würdigen wäre. Gleich verhalte es sich mit allfälligen im Berufungsverfahren neu erhobenen Parteibehauptungen. Der reformatorische Charakter des Berufungsverfahrens und die Möglichkeit, dort neue Beweismittel und Behauptungen einzubringen, führten von Gesetzes wegen dazu, dass solche Noven nur von einer (kantonalen) Instanz beurteilt würden. Diese Regelung sei prozessual hinzunehmen. Selbst wenn im Berufungsverfahren eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das Amtsgericht festzustellen wäre, weil dieses sich, wie der Beschwerdeführer behaupte, nicht ausreichend mit den vorliegenden Beweismitteln auseinandergesetzt hätte, würde dies keine kassatorischen sondern reformatorische Wirkungen nach sich ziehen. Auch bereits im Hauptverfahren vorgebrachte Argumente könne er dem Berufungsgericht nötigenfalls (noch einmal) zur Prüfung vorlegen. Der Antrag auf Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und auf Rückweisung der Akten an das Amtsgericht sei deshalb abzuweisen. Nach Rechtskraft des Entscheides seien die Akten an den Instruktionsrichter des Berufungsgerichtes zu übermitteln "zwecks Entscheid über den Beweisantrag betreffend Einholung eines Obergutachtens". 
 
2.3. Die gesetzlichen Voraussetzungen einer ausnahmsweisen Kassation und Rückweisung (gestützt Art. 409 Abs. 1 StPO) werden vom Beschwerdeführer nicht dargetan. Dass ein Ausnahmefall im Sinne der oben (E. 2.1) dargelegten Bundesgerichtspraxis vorliegt, ist auch nicht erkennbar. Sowohl seine Rüge, das Amtsgericht Olten-Gösgen habe sich mit den Argumenten der Verteidigung nicht ausreichend befasst, als auch seine Vorbringen zur Beweiswürdigung des rechtsmedizinischen Gutachtens oder zur Glaubwürdigkeit von Beweisaussagen kann der Beschwerdeführer im Berufungsverfahren uneingeschränkt prüfen lassen. Ebenso steht es ihm frei, ergänzende Beweisanträge zu stellen. Weder eine Verweigerung von Teilnahmerechten noch das Fehlen einer ausreichenden Verteidigung, eine gesetzwidrige Besetzung des Amtsgerichts oder eine unvollständige Behandlung von Anklage- oder Zivilpunkten ist hier dargetan. Auch sonst sind keine schwerwiegenden, nicht heilbaren Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens ersichtlich.  
Damit besteht hier auch kein gesetzlicher Anspruch auf eine (nochmalige) Prüfung der fraglichen Vorbringen und Anträge durch das Amtsgericht. Wie die Vorinstanz zutreffend erwägt, wird der Beschwerdeführer alle seine (bisherigen und neuen) Beanstandungen und Verfahrensanträge dem Berufungsgericht vorlegen können, das darüber mit umfassender Kognition zu entscheiden haben wird (Art. 398 Abs. 2 und Abs. 3 sowie Art. 399 Abs. 3 lit. c StPO). Angesichts der grundsätzlich reformatorischen Natur des Berufungsverfahrens (Art. 408 StPO), droht dem Beschwerdeführer kein nicht wieder gutzumachender Rechtsnachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG und fehlt es an den Eintretensvoraussetzungen. Die Rüge der Verletzung von Art. 409 StPO wäre im Übrigen ohnehin auch unbegründet. 
 
3.  
Auf die Beschwerde ist nicht einzutreten. 
Die Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Eine Parteientschädigung ist nicht zuzusprechen (Art. 68 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Obergericht des Kantons Solothurn, Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 30. Juni 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Müller 
 
Der Gerichtsschreiber: Forster