9C_426/2022 17.03.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_426/2022  
 
 
Urteil vom 17. März 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber Nabold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Adrian Fiechter, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 18. Juli 2022 (IV 2021/191). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1988 geborene A.________ meldete sich im März 1992 unter Hinweis auf die Geburtsgebrechen Ziff. 390 und 404 Anh. GgV bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen sprach ihr zunächst heilpädagogische Betreuung zu, später erbrachte die Invalidenversicherung Leistungen in Form von beruflichen Massnahmen, zuletzt in Form eines "Job Coachings". Mit Verfügung vom 1. Dezember 2014 brach die IV-Stelle das "Job Coaching" ab und verweigerte weitere berufliche Massnahmen; zudem lehnte sie am 13. Februar 2015 einen Rentenanspruch ab. 
Im März 2018 beantragte A.________ eine Wiederaufnahme des IV-Verfahrens. Nachdem sie gegen einen ablehnenden Vorbescheid Einwand erhoben hatte, holte die IV-Stelle bei der Begaz GmbH eine polydisziplinäre Expertise ein. Nach Vorliegen des Gutachtens vom 25. Mai 2021 und nach erneuter Durchführung des Vorbescheidverfahrens wies die IV-Stelle mit Verfügung vom 20. August 2021 das Begehren um berufliche Massnahmen ab. 
 
B.  
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 18. Juli 2022 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, die IV-Stelle sei unter Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides zu verpflichten, ihr berufliche Massnahmen zu gewähren, eventuell sei eine neues psychiatrisches Teilgutachten einzuholen. Gleichzeitig stellt A.________ ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. 
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung. 
Erwägungen: 
 
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzte, als es einen Anspruch der Versicherten auf berufliche Massnahmen verneinte. 
 
3.  
 
3.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19.6.2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die hier angefochtene Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar.  
 
3.2. Der Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung setzt unter anderem voraus, dass die versicherte Person invalid oder von Invalidität unmittelbar bedroht ist. Invalidität ist gemäss Art. 8 Abs. 1 ATSG die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit.  
 
4.  
Das kantonale Gericht hat, insbesondere gestützt auf das Gutachten der Begaz GmbH vom 25. Mai 2021, für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich festgestellt, dass die Versicherte in allen Arbeiten ohne Absturzgefahr (mithin Arbeiten, die nicht auf Leitern oder Gerüsten zu verrichten sind) nicht in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist. Was die Beschwerdeführerin gegen diese Feststellung vorbringt, vermag sie nicht als willkürlich oder sonstwie bundesrechtswidrig erscheinen zu lassen. Auf im Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholte Gutachten ist rechtsprechungsgemäss abzustellen, wenn nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen (BGE 135 V 465 E. 4.4). Entgegen den Vorbringen der Versicherten sind vorliegend keine solchen Indizien ersichtlich. Insbesondere hat der psychiatrische Teilgutachter durchaus berücksichtigt, dass in der Kindheit der Beschwerdeführerin eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert wurde. Er hat jedoch - unter anderem in Würdigung des beruflichen Werdegangs - nachvollziehbar dargelegt, dass die Versicherte trotz dieser Diagnose aus psychiatrischer Sicht uneingeschränkt arbeitsfähig ist. Der von ihr eingereichte Aufsatz des Dr. med. B.________, stellvertretender Teamleiter im Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) der IV-Stelle des Kantons Bern, wonach kindliche ADHS Spätfolgen im Erwachsenenalter zeitigen können (welche in Interaktion mit komorbiden Störungen unter Umständen zu einer relevanten qualitativen Einschränkung der Arbeitsfähigkeit führen können), spricht nicht gegen die Zuverlässigkeit des Gutachtens der Begaz GmbH. Der psychiatrische Teilgutachter hat nicht in Frage gestellt, dass kindliche ADHS Spätfolgen im Erwachsenenalter haben können, sondern im vorliegenden Einzelfall eine relevante Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit durch die ADHS verneint. Die Versicherte vermag in ihrer Beschwerde nicht darzutun, dass eine medizinische Fachperson in Kenntnis des Gutachtens diesem Schluss nachvollziehbar widersprochen hätte. Durfte die Vorinstanz demnach zur Feststellung des medizinischen Sachverhalts auf dieses Gutachten abstellen, so ist die Verneinung eines Anspruchs auf berufliche Massnahmen nicht zu beanstanden. Entsprechend ist die Beschwerde der Versicherten abzuweisen. 
 
5.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist stattzugeben, da die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Adrian Fiechter wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.  
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 17. März 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Nabold