6B_282/2024 17.05.2024
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_282/2024  
 
 
Urteil vom 17. Mai 2024  
 
I. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, als präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Rüedi, Bundesrichter Muschietti, 
Gerichtsschreiber Matt. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Willy Bolliger, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Einfache Verkehrsregelverletzung (Missachtung 
des Vortritts beim Abbiegen nach links), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts 
des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, 
vom 26. Februar 2024 (SST.2023.269). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Das Obergericht des Kantons Aargau verurteilte A.________ am 26. Februar 2024 zweitinstanzlich wegen Verletzung der Verkehrsregeln durch Missachtung des Vortritts beim Linksabbiegen zufolge mangelnder Aufmerksamkeit gemäss Art. 90 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 36 Abs. 3 SVG zu einer Busse von Fr. 300.--. Es auferlegte ihm die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens von Fr. 1'987.90 und des zweitinstanzlichen Verfahrens von Fr. 3'000.--. 
 
B.  
A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und er sei freizusprechen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Anklagegrundsatzes. 
 
1.1. Die Anklageschrift bezeichnet gemäss Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO möglichst kurz, aber genau die der beschuldigten Person vorgeworfenen Taten mit Beschreibung von Ort, Datum, Zeit, Art und Folgen der Tatausführung. Nach dem aus Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV sowie aus Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. a und b EMRK abgeleiteten und in Art. 9 Abs. 1 und Art. 325 StPO festgeschriebenen Anklagegrundsatz bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion). Zugleich bezweckt das Anklageprinzip den Schutz der Verteidigungsrechte der angeschuldigten Person und garantiert den Anspruch auf rechtliches Gehör (Informationsfunktion; BGE 144 I 234 E. 5.6.1; 143 IV 63 E. 2.2; 141 IV 132 E. 3.4.1; je mit Hinweisen). Das Gericht ist an den in der Anklage wiedergegebenen Sachverhalt gebunden (Immutabilitätsprinzip), nicht aber an dessen rechtliche Würdigung durch die Anklagebehörde (Art. 350 Abs. 1 StPO).  
 
1.2. Vorliegend gilt der Strafbefehl vom 7. März 2022 als Anklageschrift (Art. 356 Abs. 1 StPO). Darin steht, der Beschwerdeführer habe am 15. November 2021 um 7:27 Uhr einen Personenwagen auf der Bruggerstrasse in Baden Richtung Zentrum gelenkt und beabsichtigt, nach dem Lichtsignal nach links in die Brisgistrasse abzubiegen. Dabei habe er aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit das entgegenkommende, in Richtung Brugg fahrende, vortrittsberechtigte Fahrrad übersehen. In der Folge sei es zur Kollision zwischen den beiden Fahrzeugen gekommen.  
 
1.3. Der Beschwerdeführer behauptet, in der Anklage werde nicht festgehalten, wo das Fahrrad und der Personenwagen kollidiert seien. Die Vorinstanz erwägt, gemäss Strafbefehl habe sich der Unfall bei der Kreuzung der Bruggerstrasse und der Brisgistrasse ereignet. Der Beschwerdeführer habe gewusst, was ihm vorgeworfen werde, und er habe sich gegen diesen Vorwurf wehren können.  
 
1.4. Der Beschwerdeführer trägt vor, die Vorinstanz habe "lapidar" vermerkt, gemäss Strafbefehl habe sich der Unfall bei der Kreuzung der Bruggerstrasse und der Brisgistrasse ereignet. Genau dies stehe aber nicht im Strafbefehl. Es ist unerfindlich, wie der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer vor Bundesgericht behaupten kann, im Strafbefehl stehe nicht, dass sich der Unfall bei der Kreuzung der Bruggerstrasse und der Brisgistrasse ereignet habe. Die Rüge ist offensichtlich unbegründet.  
 
2.  
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen den Schuldspruch wegen einfacher Verkehrsregelverletzung durch Missachtung des Vortritts beim Abbiegen nach links. 
 
2.1.  
 
2.1.1. Die Beschwerde ist zu begründen, wobei anhand der Erwägungen des angefochtenen Entscheids in gedrängter Form darzulegen ist, inwiefern dieser Recht verletzt (Art. 42 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 BGG). Hinsichtlich der Verletzung von Grundrechten einschliesslich Willkür in der Sachverhaltsfeststellung bestehen qualifizierte Rügeanforderungen (Art. 106 Abs. 2 BGG).  
 
2.1.2. Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG; Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 147 IV 73 E. 4.1.2). Offensichtlich unrichtig ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist (BGE 141 IV 249 E. 1.3.1). Dies ist der Fall, wenn der angefochtene Entscheid geradezu unhaltbar ist oder mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht. Dass eine andere Lösung oder Würdigung ebenfalls vertretbar oder gar zutreffender erscheint, genügt nicht. Erforderlich ist, dass der Entscheid nicht nur in der Begründung, sondern auch im Ergebnis willkürlich ist (BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 146 IV 88 E. 1.3.1). Für die Willkürrüge gelten erhöhte Begründungsanforderungen (Art. 97 Abs. 1 und Art. 106 Abs. 2 BGG). Es genügt nicht, einen von den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz abweichenden Sachverhalt zu behaupten oder die eigene Beweiswürdigung zu erläutern (BGE 148 V 366 E. 3.3; 137 II 353 E. 5.1 mit Hinweisen). Auf ungenügend begründete Rügen oder allgemeine appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 148 IV 356 E. 2.1; 205 E. 2.6; 146 IV 88 E. 1.3.1). Dem Grundsatz "in dubio pro reo" als Beweiswürdigungsregel kommt im Verfahren vor Bundesgericht keine über das Willkürverbot hinausgehende Bedeutung zu (BGE 148 IV 409 E. 2.2; 146 IV 88 E. 1.3.1).  
 
2.1.3. Bildeten wie hier ausschliesslich Übertretungen Gegenstand des erstinstanzlichen Hauptverfahrens, so kann mit Berufung nur geltend gemacht werden, das Urteil sei rechtsfehlerhaft oder die Feststellung des Sachverhalts sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung. Neue Behauptungen und Beweise können nicht vorgebracht werden (Art. 398 Abs. 4 StPO).  
Das Bundesgericht prüft grundsätzlich frei, ob die Vorinstanz auf eine gegen das erstinstanzliche Urteil vorgebrachte Rüge der willkürlichen Beweiswürdigung hin zu Unrecht Willkür verneint hat. Die Rüge, die Vorinstanz habe Willkür zu Unrecht verneint oder bejaht, muss sich auch mit den Erwägungen der Erstinstanz auseinandersetzen (vgl. BGE 125 I 492 E. 1a/cc; Urteile 6B_410/2023 vom 4. Oktober 2023 E. 1.3; 6B_107/2019 vom 12. August 2019 E. 1.2; 6B_1173/2018 vom 12. Juli 2019 E. 1.2; 6B_399/2019 vom 3. Juni 2019 E. 1.1; 6B_152/2017 vom 20. April 2017 E. 1.3; je mit Hinweisen). 
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung haben die willkürfreien Sachverhaltsfeststellungen im angefochtenen Entscheid unter Berücksichtigung von Art. 80 Abs. 1, Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 1 BGG vor den möglicherweise ebenfalls noch willkürfreien Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichts Vorrang (ausführlich zur Kognition des Bundesgerichts im Zusammenhang mit Art. 398 Abs. 4 StPO Urteile 6B_152/2017 vom 20. April 2017 E. 1.2 f. und E. 2; 6B_362/2012 vom 29. Oktober 2012 E. 6.2). Dies entspricht auch der ratio legis von Art. 398 Abs. 4 StPO, welcher die Rechtsmittelmöglichkeiten in Fällen leichter Kriminalität aus Gründen der Prozessökonomie einschränkt. Die Stellung der Gerichte in der Gerichtshierarchie und der Grundsatz, wonach das zweitinstanzliche Urteil vor dem erstinstanzlichen Vorrang hat, soll nicht durchbrochen werden (Urteile 6B_410/2023 vom 4. Oktober 2023 E. 1.3; 6B_107/2019 vom 12. August 2019 E. 1.2; 6B_152/2017 vom 20. April 2017 E. 1.2; 6B_362/2012 vom 29. Oktober 2012 E. 6.2). Die vorliegende Konstellation führt im Ergebnis zur bundesgerichtlichen Prüfung, ob die Vorinstanz den Sachverhalt willkürlich festgestellt hat (Urteile 6B_410/2023 vom 4. Oktober 2023 E. 1.3; 6B_107/2019 vom 12. August 2019 E. 1.2; 6B_152/2017 vom 20. April 2017 E. 1.3). 
 
2.2. Die Erstinstanz gelangte zum Schluss, dass der Beschwerdeführer am 15. November 2021 um 7:27 Uhr mit seinem Personenwagen auf der Bruggerstrasse in Richtung Zentrum gefahren sei und beabsichtigt habe, nach dem Lichtsignal nach links in die Brisgistrasse abzubiegen, um dort zu wenden. Zur genannten Zeit sei der Fahrradfahrer in entgegenkommender Richtung korrekt auf dem Fahrradstreifen gefahren. Der Beschwerdeführer habe den Fahrradfahrer bei seinem Abbiegemanöver übersehen. Der Fahrradfahrer habe zu bremsen und auszuweichen versucht, eine Kollision jedoch nicht mehr verhindern können. Er sei frontal in die Fahrzeugseite geprallt und über die Windschutzscheibe gestürzt.  
 
2.3. Die Vorinstanz hält fest, der Beschwerdeführer zeige nicht auf, inwiefern die erstinstanzliche Beweiswürdigung willkürlich sein solle. Seine Ausführungen beschränkten sich weitgehend auf eine appellatorische Kritik am erstinstanzlichen Urteil. Seine Ausführungen zum Fahrradfahrer fussten auf reinen Mutmassungen und seien von vornherein nicht geeignet, die erstinstanzliche Beweiswürdigung als willkürlich erscheinen zu lassen. Die Erstinstanz sei willkürfrei davon ausgegangen, dass das Lichtsignal auch beim Fahrradfahrer auf "Grün" gestanden sei. Dem Polizeibericht vom 2. Dezember 2021 sei zu entnehmen, dass bei der fraglichen Lichtsignalanlage jeweils beide Fahrtrichtungen "Grün" hätten, was der ortskundige Beschwerdeführer bei seiner Einvernahme vom 2. Dezember 2021 denn auch bestätigt habe. Die Vorinstanz stützt sich mit der Erstinstanz auf die Aussagen des Fahrradfahrers ab und schliesst aus, dass dieser in einem 45-Grad-Winkel in den rechten Scheinwerfer des Personenwagens gefahren ist. Ein solches Szenario erscheine unter den vorliegenden Umständen ausserhalb einer vernünftigen Betrachtungsweise und lasse sich auch nicht in Einklang bringen mit dem dokumentierten Schadenbild am Personenwagen. Dieser habe auf der rechten Seite einen kaputten Scheinwerfer mit darüberliegender Delle, eine Beschädigung der Motorhaube rechts unterhalb der A-Säule und einen beschädigten Scheibenwischer. Entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers habe sich der Fahrradfahrer nicht in Widersprüche verstrickt. Es zeuge auch nicht von unstatthaftem Verhalten, dass der Fahrradfahrer an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung nochmals den Polizeirapport habe einsehen wollen. Er habe den Unfallhergang auch nach zwei Jahren widerspruchslos geschildert. Ein Motiv für eine Falschbelastung sei nicht erkennbar, habe der Fahrradfahrer doch auf einen Strafantrag gegen den Beschwerdeführer verzichtet und trotz Sachschaden an seinem Fahrrad keine Zivilforderung gestellt. Angesichts seiner konstanten und schlüssigen Aussagen sei die Erstinstanz nicht in Willkür verfallen, indem sie davon ausgegangen sei, er sei auf dem Radstreifen gefahren, zumal nicht ersichtlich sei, weshalb er bei fliessendem Verkehr und grünem Lichtsignal das Trottoir hätte benutzen sollen.  
 
2.4. Der Beschwerdeführer trägt vor, die Vorinstanz habe Art. 10 Abs. 3 StPO verletzt, indem sie die erstinstanzliche Sachverhaltsfeststellung übernommen habe. Sie habe den Grundsatz "in dubio pro reo" verletzt, indem sie "den Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt hat, obwohl andere Varianten gleich oder mehr wahrscheinlich waren".  
Mit diesen Ausführungen offenbart der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer ein falsches Verständnis der bundesgerichtlichen Kognition. Zunächst übersieht er, dass dem Grundsatz "in dubio pro reo" als Beweiswürdigungsregel im Verfahren vor Bundesgericht keine über das Willkürverbot hinausgehende Bedeutung zukommt. Sodann verkennt er, dass es für die Annahme von Willkür nicht einmal genügen würde, wenn eine andere Lösung oder Würdigung ebenfalls vertretbar oder gar zutreffender erschiene. Gleiches galt bereits im Berufungsverfahren, da im vorliegenden Fall nur eine Übertretung Gegenstand des erstinstanzlichen Hauptverfahrens bildete (Art. 398 Abs. 4 StPO). Diese Zusammenhänge verkannte der Beschwerdeführer schon damals. 
Auf die Beschwerde ist somit nicht einzutreten, wenn der Beschwerdeführer vorträgt, beim Linksabbiegen müsse gewartet werden, bis die Gegenfahrbahn frei sei. Während dieser Wartezeit sei es denkbar, dass Lichtsignale wieder auf "Rot" schalten. Somit sei es möglich, dass der Fahrradfahrer beim Überqueren der Kreuzung bereits wieder "Rot" gehabt habe. Ebenso wenig ist auf das Vorbringen einzutreten, wonach die Vorinstanz willkürlich verneint habe, dass der Fahrradfahrer regelwidrig auf dem Trottoir gefahren sei. Hier legt der Beschwerdeführer nicht ansatzweise dar, weshalb der angefochtene Entscheid geradezu unhaltbar ist oder mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht. Weiter verfehlt der Beschwerdeführer die Begründungsanforderungen, wenn er behauptet, die Beweislage sei "schwach" bzw. "dürftig". Jedenfalls ist eine Verurteilung nicht ausgeschlossen, nur weil es keinen Videobeweis und keine Zeugenaussagen gibt. 
 
2.5. Nach dem Gesagten ist der Schuldspruch wegen einfacher Verkehrsregelverletzung nicht zu beanstanden.  
 
3.  
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Ausgangsgemäss hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Der Beschwerdeführer trägt die Gerichtskosten von Fr. 3'000.--. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 17. Mai 2024 
 
Im Namen der I. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Matt