7B_209/2024 08.05.2024
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_209/2024  
 
 
Urteil vom 8. Mai 2024  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichter Kölz, Hofmann, 
Gerichtsschreiberin Kern. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Annina Mullis, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, Region Bern-Mittelland, 
Hodlerstrasse 7, 3011 Bern. 
 
Gegenstand 
Entsiegelung, 
 
Beschwerden gegen den Entscheid des Kantonalen Zwangsmassnahmengerichts Bern, Gerichtspräsident, vom 19. Januar 2024 (KZM 23 1663 BÜH). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, Region Bern-Mittelland, führt ein Strafverfahren gegen A.________ wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG; SR 812.121). Am 7. Dezember 2023 wurde im Rahmen der polizeilichen Einvernahme von A.________ dessen Mobiltelefon ("Oppo", schwarz) sichergestellt. A.________ beantragte gleichentags die Siegelung des Mobiltelefons, da private Nachrichten im Gerät gespeichert seien, die er der Polizei nicht zeigen möge. 
 
B.  
Am 7. Dezember 2023 ersuchte die Staatsanwaltschaft das Kantonale Zwangsmassnahmengericht des Kantons Bern um Entsiegelung des sichergestellten Mobiltelefons. Mit Verfügung vom 11. Dezember 2023 setzte das Zwangsmassnahmengericht A.________ eine Frist von fünf Tagen an, um schriftlich zum Entsiegelungsgesuch der Staatsanwaltschaft Stellung zu nehmen. Da ihr der Aufenthalt bzw. die Wohnadresse von A.________ unbekannt war, publizierte sie diese Verfügung für die Dauer eines Monats im Amtsblatt des Kantons Bern. Nachdem sich A.________ nicht hatte vernehmen lassen, hiess das Zwangsmassnahmengericht mit Entscheid vom 19. Januar 2024 das Entsiegelungsgesuch gut und ermächtigte die Staatsanwaltschaft, das sichergestellte Mobiltelefon zu entsiegeln und zu durchsuchen. Die Kosten für diesen Entscheid in der Höhe von Fr. 400.-- schlug es zu den Kosten des Vorverfahrens. 
 
C.  
Mit Eingaben vom 19. und 20. Februar 2024 hat A.________ gegen den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts "Beschwerde in Strafsachen und subsidiäre Verfassungsbeschwerde" an das Bundesgericht erhoben mit den Anträgen, es sei die Nichtigkeit des angefochtenen Entscheids festzustellen, eventualiter sei dieser vollumfänglich aufzuheben und die Sache zur umfassenden Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Subeventualiter sei "die umfassende Entsiegelung des Mobiltelefons des Beschwerdeführers abzuweisen und die Vorinstanz anzuweisen, auf dem Mobiltelefon 'Oppo schwarz' rechtlich geschützte Korrespondenz auszusondern". Die Kosten des vorinstanzlichen Verfahrens seien dem Kanton Bern aufzuerlegen. Ausserdem hat er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht. 
Das Zwangsmassnahmengericht hat unter Verweis auf den angefochtenen Entscheid auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Angefochten ist ein nach Art. 248a Abs. 4 bzw. aArt. 248 Abs. 3StPO kantonal letztinstanzlicher Entscheid eines Zwangsmassnahmengerichts. Dagegen steht gemäss Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BGG die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht nach Art. 78 bis 81 BGG grundsätzlich offen. Dementsprechend verbleibt für die vom Beschwerdeführer gleichzeitig erhobene subsidiäre Verfassungsbeschwerde kein Raum (siehe Art. 113 BGG), weshalb auf diese nicht einzutreten ist.  
 
1.2. Der angefochtene Entsiegelungsentscheid schliesst die gegen den Beschwerdeführer laufende Strafuntersuchung nicht ab und betrifft weder die Zuständigkeit noch ein Ausstandsbegehren im Sinne von Art. 92 BGG. Demnach ist er gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG nur dann unmittelbar mit Beschwerde an das Bundesgericht anfechtbar, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann. Beim drohenden nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne dieser Bestimmung muss es sich um einen solchen rechtlicher Natur handeln. Ein lediglich tatsächlicher Nachteil wie die Verteuerung oder Verlängerung des Verfahrens genügt nicht. Nicht wieder gutzumachend bedeutet, dass er auch mit einem für die beschwerdeführende Partei günstigen Endentscheid nicht oder nicht vollständig behoben werden kann (BGE 148 IV 155 E. 1.1; 144 IV 321 E. 2.3; je mit Hinweisen).  
Der Beschwerdeführer macht geltend, durch die Entsiegelung drohe, dass geschützte Korrespondenz, insbesondere mit seiner Rechtsanwältin, ausgewertet werde. Dadurch droht ihm rechtsprechungsgemäss ein nicht wieder gutzumachender Nachteil (siehe etwa BGE 143 IV 462 E. 1; Urteile 7B_106/2022 vom 16. November 2023 E. 1.2; 7B_301/2023 vom 11. September 2023 E. 2.1; teilweise mit weiteren Hinweisen). 
 
1.3. Der Beschwerdeführer ist als Beschuldigter und Partei des Entsiegelungsverfahrens zur Beschwerde legitimiert (Art. 81 Abs. 1 BGG). Da auch die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.  
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer rügt, der angefochtene Entscheid verletze seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 EMRK, Art. 14 UNO-Pakt II [SR 0.103.2] und Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO) sowie Art. 88 StPO, da ihm die Verfügung vom 11. Dezember 2023, mit der ihn das Zwangsmassnahmengericht zur Stellungnahme zum Entsiegelungsgesuch der Beschwerdegegnerin eingeladen hat, nicht zugestellt, sondern stattdessen im Amtsblatt publiziert worden sei.  
 
2.2. Nach Art. 85 StPO bedienen sich die Strafbehörden für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit das Gesetz nichts Abweichendes bestimmt (Abs. 1). Die Zustellung erfolgt durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung, insbesondere durch die Polizei (Abs. 2).  
Gemäss Art. 87 StPO sind Mitteilungen den Adressatinnen und Adressaten an ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort oder an ihren Sitz zuzustellen (Abs. 1). Parteien und Rechtsbeistände mit Wohnsitz, gewöhnlichem Aufenthaltsort oder Sitz im Ausland haben in der Schweiz ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen; vorbehalten bleiben staatsvertragliche Vereinbarungen, wonach Mitteilungen direkt zugestellt werden können (Abs. 2). Mitteilungen an Parteien, die einen Rechtsbeistand bestellt haben, werden rechtsgültig an diesen zugestellt (Abs. 3). Hat eine Partei persönlich zu einer Verhandlung zu erscheinen oder Verfahrenshandlungen selbst vorzunehmen, so wird ihr die Mitteilung direkt zugestellt. Dem Rechtsbeistand wird eine Kopie zugestellt (Abs. 4). 
Art. 88 Abs. 1 StPO bestimmt abschliessend (vgl. Urteil 6B_471/2022 vom 24. August 2022 E. 3), in welchen drei Konstellationen die förmliche Zustellung durch eine öffentliche Bekanntmachung ersetzt werden kann: wenn der Aufenthaltsort der Adressatin oder des Adressaten unbekannt ist und trotz zumutbarer Nachforschungen nicht ermittelt werden kann (lit. a), wenn eine Zustellung unmöglich ist oder mit ausserordentlichen Umtrieben verbunden wäre (lit. b) und wenn eine Partei mit Wohnsitz oder Sitz im Ausland entgegen der Anweisung des Gerichts kein Zustellungsdomizil in der Schweiz bezeichnet hat (lit. c). 
Da die öffentliche Bekanntmachung das letzte Mittel für die Zustellung bleiben muss, kann ein unbekannter Aufenthaltsort oder die Unmöglichkeit der Zustellung im Sinne von Art. 88 Abs. 1 lit. a und lit. b StPO grundsätzlich erst dann angenommen werden, wenn sämtliche zumutbaren Nachforschungen vorgenommen wurden, jedoch erfolglos geblieben sind, oder wenn solche Nachforschungen von vornherein keine Aussichten auf Erfolg versprechen (Urteile 6B_471/2022 vom 24. August 2022 E. 3 mit Hinweisen; vgl. BGE 148 IV 362 E. 1.2; Urteile 6B_457/2023 vom 11. März 2024 E. 1.2; 6B_467/2022 vom 12. Dezember 2022 E. 1.1.3; 6B_317/2022 vom 23. Mai 2022 E. 4; je mit Hinweisen). Als zumutbare Nachforschungen im Sinne von Art. 88 Abs. 1 lit. a StPO gelten etwa Erkundigungen bei der letzten bekannten Adresse, der zuletzt zuständigen Poststelle, bei Einwohnerregistern, Nachbarn, den nächsten Angehörigen oder allenfalls beim aktuellen Arbeitgeber. Bevor die Behörde den Weg der Veröffentlichung einschlägt, hat sie sich durch die nach der Sachlage gebotenen Nachforschungen zu vergewissern, dass der Aufenthaltsort nicht nur ihr, sondern allgemein unbekannt ist (BGE 148 IV 362 E. 1.2; Urteile 6B_471/2022 vom 24. August 2022 E. 3; 6B_317/2022 vom 23. Mai 2022 E. 4; je mit Hinweisen). 
 
2.3. Der Beschwerdeführer rügt zu Recht, dass es vorliegend an den Voraussetzungen einer Eröffnung durch öffentliche Bekanntmachung im Sinne von Art. 88 StPO fehlte. Zwar war der Vorinstanz die Adresse des Beschwerdeführers unbestrittenermassen nicht bekannt. Jedoch hatte dieser anlässlich seiner polizeilichen Einvernahme vom 7. Dezember 2023 - nachdem er über die Sicherstellung seines Mobiltelefons und die Möglichkeit der Siegelung belehrt worden war - angegeben: "Meine Post kann zu meiner Anwältin, Frau Mullis". Die Beschwerdegegnerin reichte das Einvernahmeprotokoll in der Folge dem Zwangsmassnahmengericht als Beilage zum Entsiegelungsbegehren ein. Unter diesen Umständen war die Vorinstanz gehalten, Mitteilungen an den Beschwerdeführer in diesem Verfahren an Rechtsanwältin Mullis zu senden oder sich zumindest bei letzterer danach zu erkundigen, ob ein Vertretungsverhältnis besteht oder ihr eine Zustellungsadresse des Beschwerdeführers bekannt ist. Alleine der Hinweis der Beschwerdegegnerin im Entsiegelungsgesuch vom 7. Dezember 2023, es liege keine Vollmacht von Rechtsanwältin Mullis vor, rechtfertigt keine Mitteilung durch öffentliche Bekanntmachung. Gemäss den Ausführungen der Beschwerdegegnerin reichte Rechtsanwältin Mullis denn auch eine Vollmacht des Beschwerdeführers ein, nachdem ihr im Rahmen einer - eine spätere Anhaltung des Beschwerdeführers betreffenden - Akteneinsicht "irrtümlich" auch der beschwerdegegenständliche Entsiegelungsantrag mit den Beilagen übermittelt worden war.  
 
2.4. Der angefochtene Entscheid verletzt Art. 85 und 88 StPO sowie das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers. Eine Heilung dieses Verfahrensmangels im bundesgerichtlichen Verfahren fällt ausser Betracht. Die Beschwerde in Strafsachen ist begründet und gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid ist formell aufzuheben. Ob er - wie der Beschwerdeführer argumentiert - sogar als nichtig zu beurteilen wäre, kann unter diesen Umständen offenbleiben (vgl. BGE 131 V 483 E. 2.3.5). Die Vorinstanz wird - nachdem sie dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat - neu über das Entsiegelungsgesuch der Beschwerdegegnerin zu entscheiden haben.  
 
3.  
Dem Ausgang des bundesgerichtlichen Verfahrens entsprechend sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Bern hat dem Beschwerdeführer die durch den Rechtsstreit verursachten notwendigen Kosten zu ersetzen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Da der Beschwerdeführer um unentgeltliche Rechtspflege ersucht, ist die Entschädigung praxisgemäss seinem Rechtsvertreter zuzusprechen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2.  
Die Beschwerde in Strafsachen wird gutgeheissen. Der angefochtene Entscheid vom 19. Januar 2024 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
3.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4.  
Der Kanton Bern hat Rechtsanwältin Annina Mullis für das Verfahren vor Bundesgericht mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen. 
 
5.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist gegenstandslos. 
 
6.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, Region Bern-Mittelland, und dem Kantonalen Zwangsmassnahmengericht Bern, Gerichtspräsident, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 8. Mai 2024 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Die Gerichtsschreiberin: Kern