9C_327/2022 10.10.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_327/2022  
 
 
Urteil vom 10. Oktober 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, Bundesrichterin Scherrer Reber, 
Gerichtsschreiber Nabold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Advokat Erich Züblin, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 1. Juni 2022 (VBE.2022.8). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1989 geborene A.________ meldete sich am 3. Januar 2016 unter Hinweis auf eine chronische Migräne erstmals bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau schloss dieses Verfahren mit Verfügung vom 15. September 2016 ab; auf eine am 17. Januar 2018 eingereichte Neuanmeldung trat sie mit Verfügung vom 16. Mai 2018 nicht ein. 
Am 3. Juli 2018 meldete sich A.________ wiederum bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle tätigte daraufhin medizinische und berufliche Abklärungen und wies das Leistungsbegehren in der Folge mit Verfügung vom 11. Juli 2019 ab. Auf Beschwerde des Versicherten hin hob das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 24. März 2020 diese Verfügung auf und wies die Sache zu weiteren Abklärungen an die IV-Stelle zurück. 
In Nachachtung des kantonalen Urteils holte die IV-Stelle bei der RehaClinic B.________ eine bidisziplinäre (psychiatrisch/neurologisch) Expertise ein (Gutachten vom 13. Dezember 2020) und wies daraufhin das Leistungsbegehren mit Verfügung vom 8. Dezember 2021 wiederum ab. 
 
B.  
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 1. Juni 2022 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, die IV-Stelle sei unter Aufhebung des kantonalen Urteils zur Ausrichtung einer Rente zu verpflichten. 
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
1.2. Als Rechtsfrage gilt, ob die rechtserheblichen Tatsachen vollständig festgestellt und ob der Untersuchungsgrundsatz bzw. die Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG beachtet wurden. Gleiches gilt für die Frage, ob den medizinischen Gutachten und Arztberichten im Lichte der praxisgemässen Anforderungen Beweiswert zukommt (BGE 134 V 231 E. 5.1). Bei den aufgrund dieser Berichte getroffenen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit und bei der konkreten Beweiswürdigung geht es um Sachverhaltsfragen (Urteil 8C_326/2022 vom 13. Oktober 2022, E. 2, nicht publiziert in: BGE 148 V 397).  
 
2.  
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, als sie einen Rentenanspruch des Beschwerdeführers verneinte. 
 
3.  
 
3.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19.6.2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die hier angefochtene Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar.  
 
3.2. Der Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung setzt unter anderem voraus, dass die versicherte Person invalid oder von Invalidität unmittelbar bedroht ist. Invalidität ist gemäss Art. 8 Abs. 1 ATSG die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit. Die Vorinstanz hat die übrigen Voraussetzungen für die Zusprechung einer Rente im Übrigen zutreffend dargelegt (Art. 6 und 7 ATSG sowie Art. 28 Abs. 1 IVG). Darauf wird verwiesen.  
 
4.  
 
4.1. Das kantonale Gericht hat in umfassender Würdigung der medizinischen Akten, insbesondere aber gestützt auf das Gutachten der RehaClinic B.________ vom 13. Dezember 2020 für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich festgestellt, dass der Beschwerdeführer weiterhin in der Lage ist, seiner bisherigen Tätigkeit zu 75 % nachzugehen. Dabei folgte das Gericht den Ausführungen des neurologischen Experten, es seien lediglich die im Zusammenhang mit der Migräne an bis zu fünf Tagen pro Monat auftretenden Kopfschmerzen als invalidisierend anzuerkennen. Nicht zu berücksichtigen seien demgegenüber die im Vordergrund stehenden Kopfschmerzen, welche durch einen Übergebrauch von Medikamenten induziert würden, da diese durch einen zumutbaren Entzug behandelbar seien.  
 
4.2. Wie der Beschwerdeführer zutreffend geltend macht, geht der neurologische Experte und ihm folgend das kantonale Gericht von einem zu engen Begriff der Invalidität aus. Das Bundesgericht hat wiederholt unter Hinweis auf BGE 127 V 294 E. 4c bekräftigt, dass in der Invalidenversicherung die Therapierbarkeit eines Leidens dem Eintritt einer rentenbegründenden Invalidität nicht absolut entgegensteht (vgl. etwa Urteile 8C_222/2017 vom 6. Juli 2017 E. 5.2; 9C_682/2016 vom 16. Februar 2017 E. 3.2; 8C_349/2015 vom 2. November 2015 E. 3.1). Denn die Behandelbarkeit, für sich allein betrachtet, sagt nichts über den invalidisierenden Charakter einer gesundheitlichen Störung aus. Eine Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit muss in jedem Einzelfall unabhängig von der diagnostischen Einordnung eines Leidens und grundsätzlich unbesehen der Ätiologie ausgewiesen und in ihrem Ausmass bestimmt sein. Entscheidend ist die Frage, ob es der versicherten Person zumutbar ist, eine Arbeitsleistung zu erbringen, was sich nach einem weitgehend objektivierten Massstab beurteilt (BGE 143 V 409 E. 4.2.1). Soweit die Rechtsprechung für gewisse Arten von psychischen Leiden von diesen Grundsätzen abwich, hat das Bundesgericht diese Praxis in BGE 143 V 409 aufgegeben. Für die Entstehung des Anspruchs auf eine Invalidenrente ist somit immer und einzig vorausgesetzt, dass während eines Jahres (ohne wesentlichen Unterbruch) eine mindestens 40%ige Arbeitsunfähigkeit bestanden hat und eine anspruchsbegründende Erwerbsunfähigkeit weiterhin besteht. Eine Leistungsverweigerung oder -kürzung mit der Begründung, der Versicherte schöpfe seine Behandlungsressourcen nicht aus, setzt ein Vorgehen nach Art. 21 Abs. 4 ATSG voraus. Da hier die Verwaltung kein Mahn- und Bedenkzeitverfahren durchgeführt hat, können bei der Bestimmung der Leistungsfähigkeit des Versicherten die Kopfschmerzen, welche durch einen Übergebrauch von Medikamenten induziert werden, nicht einzig mit der Begründung unberücksichtigt bleiben, die Schmerzsituation sei durch einen Analgetikaentzug behandelbar (vgl. Urteil 9C_682/2016 vom 16. Februar 2017 E. 3.2).  
 
4.3. Demgemäss ist die Beschwerde in dem Sinne teilweise gutzuheissen, als die Sache unter Aufhebung des kantonalen Urteils an die Vorinstanz zurückzuweisen ist, damit diese - allenfalls nach weiteren medizinischen Abklärungen - über die Beschwerde des Versicherten neu entscheide. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen.  
 
5.  
Die Rückweisung der Sache zu erneutem Entscheid gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten sowie der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (BGE 141 V 281 E. 11.1). Mithin hat die unterliegende Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung auszurichten. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 1. Juni 2022 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der C.________ und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 10. Oktober 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Nabold