8C_249/2022 12.10.2022
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_249/2022  
 
 
Urteil vom 12. Oktober 2022  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiber Hochuli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Jakob, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente, Revision), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 10. März 2022 (IV 2020/241). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________, geboren 1971, ist gelernte Chemielaborantin und arbeitet seit November 2001 (anfänglich mit einem 100%-Pensum) bei der B.________ AG (fortan: Arbeitgeberin). Nach einer gesundheitsbedingten Pensumsreduktion auf 60% ab 15. November 2004 bezog sie bei einem Invaliditätsgrad von 46% ab 1. November 2005 eine Viertelsrente (Verfügung vom 8. Februar 2006) und bei einem Invaliditätsgrad von 50% ab 1. September 2018 eine halbe Rente der Invalidenversicherung (Verfügung vom 26. März 2019). Weil sie das Arbeitspensum bei der angestammten Arbeitgeberin ab 1. Oktober 2019 von 50% auf 20% reduzieren musste, reichte A.________ am 3. Dezember 2019 erneut ein Gesuch um Rentenerhöhung ein. Gestützt auf das polydisziplinäre Gutachten der Medexperts AG in St. Gallen vom 28. Juli 2020 (fortan: Medexperts-Gutachten) bestätigte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen (fortan: IV-Stelle oder Beschwerdegegnerin) mit Verfügung vom 12. Oktober 2020 bei einem unveränderten Invalididtätsgrad von 50% den Anspruch auf eine halbe Invalidenrente. 
 
B.  
Die hiergegen erhobene Beschwerde der A.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen ab (Entscheid vom 10. März 2022). 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, ihr sei unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides ab 1. Dezember 2019 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache zur Neuermittlung des Invaliditätsgrades nach den Tabellenlöhnen der vom Bundesamt für Statistik alle zwei Jahre durchgeführten Lohnstrukturerhebung (LSE) im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2 mit Hinweis). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
1.2. Die Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung der Vorinstanz ist nicht schon dann offensichtlich unrichtig (willkürlich), wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und augenfällig unzutreffend ist. Es genügt somit nicht, dass eine andere Lösung ebenfalls in Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erscheint. Willkür liegt insbesondere vor, wenn die Vorinstanz offensichtlich unhaltbare Schlüsse gezogen, erhebliche Beweise übersehen oder solche grundlos ausser Acht gelassen hat (vgl. BGE 144 V 50 E. 4.2 mit Hinweisen).  
 
2.  
Strittig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die Revisionsverfügung der IV-Stelle vom 12. Oktober 2020 bestätigte, wonach es bei einem unveränderten Invaliditätsgrad von 50% und folglich beim Anspruch auf eine halbe Invalidenrente bleibe. 
 
2.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem hier angefochtenen Entscheid zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1, 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar (BGE 148 V 174 E. 4.1).  
 
2.2. Unbestritten blieb die vorinstanzliche Feststellung des revisionsrechtlich massgebenden Vergleichszeitraums zwischen dem 26. März 2019 und dem 12. Oktober 2020. Weiter anerkennt die Beschwerdeführerin ausdrücklich, dass sie laut Sachverhaltsfeststellung gemäss angefochtenem Entscheid nach Massgabe des insoweit beweiskräftigen Medexperts-Gutachtens in einer leidensangepassten Tätigkeit zu 50% arbeitsfähig ist. Zudem stimmt die Beschwerdeführerin der vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung insoweit zu, als sie aus gesundheitlichen Gründen mangels "Ausbildungsfähigkeit" weder umschulungs- noch weiterbildungsfähig sei. Sowohl die Validen- als auch die Invalidenkarriere der Beschwerdeführerin seien deshalb bisher zu Recht nach der als ideal angepasst qualifizierten angestammten Tätigkeit bemessen worden.  
 
3.  
Vor Bundesgericht bleibt laut Beschwerdeführerin einzig zu prüfen, ob die Vorinstanz das Willkürverbot verletzte, indem sie feststellte, die von der Beschwerdeführerin schon vor Eintritt des Gesundheitsschadens - und nach Aktenlage bis zum heutigen Zeitpunkt - bei ein und derselben Arbeitgeberin ausgeübte angestammte Tätigkeit als Chemielaborantin sei leidensadaptiert. 
 
3.1.  
 
3.1.1. Gemäss Art. 16 ATSG wird für die Bestimmung des Invaliditätsgrades das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte (Invalideneinkommen), in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (Valideneinkommen; BGE 148 V 174 E. 6.1).  
 
3.1.2. Bei der Ermittlung des Valideneinkommens ist in der Regel am zuletzt erzielten, nötigenfalls der Teuerung und der realen Einkommensentwicklung angepassten Lohn anzuknüpfen, da es empirischer Erfahrung entspricht, dass die bisherige Tätigkeit ohne Gesundheitsschaden fortgesetzt worden wäre. Ausnahmen von diesem Erfahrungssatz müssen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt sein (BGE 144 I 103 E. 5.3; 135 V 58 E. 3.1; vgl. auch BGE 135 V 297 E. 5.1, 134 V 322 E. 4.1). Für die Festsetzung des Invalideneinkommens ist nach der Rechtsprechung primär von der beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in der die versicherte Person konkret steht. Übt sie nach Eintritt der Invalidität eine Erwerbstätigkeit aus, bei der - kumulativ - besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben sind und anzunehmen ist, dass sie die ihr verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft, und erscheint zudem das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als Soziallohn, gilt grundsätzlich der tatsächlich erzielte Verdienst als Invalidenlohn. Ist kein solches tatsächlich erzieltes Erwerbseinkommen gegeben, namentlich weil die versicherte Person nach Eintritt des Gesundheitsschadens keine oder jedenfalls keine ihr an sich zumutbare neue Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, so können nach der Rechtsprechung die Tabellenlöhne der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Lohnstrukturerhebung (LSE) herangezogen werden (BGE 148 V 174 E. 6.2; 135 V 297 E. 5.2; SVR 2014 IV Nr. 37 S. 130, 8C_7/2014 E. 7.1; Urteil 8C_269/2020 vom 15. Februar 2021 E. 3.2 mit Hinweis).  
 
3.1.3. In erwerblicher Hinsicht hat das kantonale Gericht den Invaliditätsgrad - ausgehend von einer Arbeitsfähigkeit von 50% in der angestammten und weiterhin ausgeübten Tätigkeit - auf 50% festgelegt und folglich den mit Revisionsverfügung vom 12. Oktober 2020 bestätigten unveränderten Anspruch auf eine halbe Invalidenrente geschützt. Damit hat es einen Prozentvergleich vorgenommen (Urteil 8C_296/2020 vom 25. November 2020 E. 6.1; vgl. auch Urteil 8C_536/2017 vom 5. März 2018 E. 5.3).  
 
3.2. Die auch von der Beschwerdeführerin ausdrücklich anerkannte Arbeitsfähigkeit von 50% in einer leidensadaptierten Tätigkeit gemäss angefochtenem Entscheid beruht auf dem - zumindest insoweit - beweiskräftigen Medexperts-Gutachten. Inwiefern die Vorinstanz das Willkürverbot verletzte, indem sie die angestammte und weiterhin ausgeübte Tätigkeit als Chemielaborantin - wie bereits anlässlich der letztmaligen, revisionsrechtlich massgebenden Überprüfung des Rentenanspruchs - als leidensadaptiert bezeichnete, legt die Beschwerdeführerin nicht in rechtsgenüglicher Weise dar.  
 
3.2.1. Die Medexperts-Gutachter kannten nicht nur das gestützt auf Angaben der Arbeitgeberin im Rahmen der Abklärungen zum letztmaligen Revisionsgesuch vom 16. Februar 2018 ermittelte Anforderungsprofil der angestammten Arbeitsstelle als Chemielaborantin. Sie hielten zudem eingangs des Medexperts-Gutachtens ausdrücklich fest, die Beschwerdeführerin habe ihren Beschäftigungsgrad an der angestammten Arbeitsstelle per 1. Oktober 2019 - angeblich gesundheitsbedingt - von einem 50%- auf ein 20%-Pensum reduzieren müssen. In Anbetracht dieser Fakten gelangten die Medexperts-Gutachter anlässlich der interdisziplinären Gesamtbeurteilung gestützt auf ihre fachärztlichen Explorationen vom 8. und 9. Juni 2020 zu einer ausführlich und differenziert formulierten Beschreibung einer angepassten Tätigkeit, in welcher die Beschwerdeführerin - unbestritten - zu 50% arbeitsfähig sei. Gleichzeitig attestierten die Gutachter der Beschwerdeführerin "in der angestammten und aktuell [...] ausgeübten beruflichen Tätigkeit als Chemielaborantin eine Arbeitsfähigkeit von 50%". Diese Arbeit entspreche weitgehend einer ideal angepassten Tätigkeit. Schliesslich hat sich nach Überzeugung der Medexperts-Gutachter die Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin seit September 2018 weder hinsichtlich der angestammten noch in Bezug auf eine leidensangepasste Tätigkeit verändert, sondern verblieb vielmehr bei 50%.  
 
3.2.2. Was die Beschwerdeführerin unter Berufung auf die von ihr nachträglich im kantonalen Beschwerdeverfahren eingeholten Angaben der Arbeitgeberin vom 6. Januar 2021 geltend macht, vermag keine Willkür der vorinstanzlichen Beweiswürdigung zu begründen (vgl. E. 1.2 hiervor). Dass sich das 2018 ermittelte Anforderungsprofil der angestammten Arbeitsstelle (vgl. E. 3.2.1 hiervor) seither verändert hätte, ist nicht ersichtlich und legt die Beschwerdeführerin nicht dar. Vielmehr argumentiert sie in appellatorischer Weise, die Gutachter hätten angesichts der von ihnen selber formulierten Adaptationskriterien hinsichtlich einer leidensangepassten Tätigkeit mit Blick auf die angestammte Tätigkeit als Chemielaborantin feststellen müssen, dass es sich bei der Letzteren nicht mehr um eine leidensangepasste Tätigkeit handle. Dass die Gutachter anlässlich ihrer fachärztlichen Exploration nicht lege artis vorgegangen und/oder wesentliche Tatsachen bei der Beurteilung des zumutbaren Leistungsvermögens übersehen hätten, ist ebenfalls nicht ersichtlich und zeigt die Beschwerdeführerin auch nicht auf.  
 
3.3. Nach dem Gesagten ist die vorinstanzliche Beweiswürdigung nicht als willkürlich zu beanstanden. Gestützt auf das beweiskräftige Medexperts-Gutachten schloss das kantonale Gericht daher zutreffend auf eine weiterhin 50%-ige Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin in einer leidensadaptierten und der angestammten, fortgesetzt ausgeübten Tätigkeit als Chemielaborantin. Soweit es im Ergebnis für die Pensumsreduktion von 50% auf 20% per 1. Oktober 2019 keine invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gründe erkannte, ist der angefochtene Entscheid nicht zu beanstanden. Folglich hat es bei der vorinstanzlich bestätigten Abweisung des Rentenerhöhungsgesuches vom 3. Dezember 2019 sein Bewenden.  
 
4.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 12. Oktober 2022 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Hochuli