8C_608/2022 16.05.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_608/2022  
 
 
Urteil vom 16. Mai 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione, 
Gerichtsschreiber Grunder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Luca Keusen, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, 
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung 
(Invalidenrente; Invalideneinkommen), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 12. September 2022 (200 22 391 IV). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1965 geborene A.________ meldete sich am 2. Dezember 2020 wegen Asthma und Allergien zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle Bern klärte den Sachverhalt in medizinischer (vgl. Bericht des Regionalen Ärztlichen Dienstes [RAD] vom 6. Juli 2021) und beruflicher Hinsicht (Abklärungsbericht Haushalt/Erwerb vom 3. November 2021) ab. Im Vorbescheidverfahren holte sie die Stellungnahme des Bereichs Abklärungen vom 14. April 2022 sowie den Abklärungsbericht Haushalt/Erwerb vom 17. Mai 2022 ein, der denjenigen vom 3. November 2021 ersetzte. Mit Verfügung vom 24. Mai 2022 verneinte die Verwaltung ab 1. Juni 2021 einen Anspruch auf Invalidenrente mangels eines leistungsbegründenden Invaliditätsgrades. 
 
B.  
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Urteil vom 12. September 2022 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils sei ihm ab Juni 2021 eine unbefristete Viertelsrente zuzusprechen. Eventualiter sei die Angelegenheit an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie ein pneumologisches Gutachten einhole und über den Leistungsanspruch neu entscheide. 
Das Bundesgericht führt keinen Schriftenwechsel durch. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 141 V 234 E. 1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
Streitig ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt hat, indem es in Bestätigung der Verwaltungsverfügung der Beschwerdegegnerin vom 24. Mai 2022 einen Anspruch auf Invalidenrente verneint hat. 
 
3.  
 
3.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535).  
Entsprechend den allgemeinen intertemporalrechtlichen Grundsätzen (vgl. BGE 144 V 210 E. 4.3.1) ist nach der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Rechtslage zu beurteilen, ob bis zu diesem Zeitpunkt ein Rentenanspruch entstanden ist. Trifft dies zu, so erfolgt ein allfälliger Wechsel zum neuen stufenlosen Rentensystem je nach Alter der Rentenbezügerin oder des Rentenbezügers gemäss lit. b und c der Übergangsbestimmungen des IVG zur Änderung vom 19. Juni 2020. Gemäss lit. c gilt für Rentenbezügerinnen und -bezüger das bisherige Recht, sofern der Rentenanspruch vor Inkrafttreten dieser Änderung entstanden ist und sie bei Inkrafttreten dieser Änderung das 55. Altersjahr vollendet haben (Weiterentwicklung der IV; vgl. auch Rz. 9100 ff. des Kreisschreibens des Bundesamtes für Sozialversicherungen [BSV] über Invalidität und Rente in der Invalidenversicherung [KSIR]). 
Zwar erging die dem hier angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erst nach dem 1. Januar 2022. Vorliegend steht indessen ein am 1. Juni 2021 und damit vorher entstehender Rentenanspruch zur Diskussion. Überdies war der Beschwerdeführer am 1. Januar 2022 bereits 57 Jahre alt. Damit beurteilt sich die vorliegende Streitigkeit allein nach der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Rechtslage. 
 
3.2. Im angefochtenen Urteil werden die rechtlichen Grundlagen für den Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 7 f. ATSG, Art. 4 Abs. 1 und Art. 28 IVG, Letzter in der bis Ende 2021 geltenden und hier primär anwendbaren Fassung) sowie zur Bedeutung und Beweiskraft medizinischer Unterlagen (BGE 125 V 256 E. 4; 134 V 231 E. 5.1 mit Hinweis auf BGE 125 V 351 E. 3a) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.  
 
4.  
 
4.1. Die Vorinstanz hat erkannt, dass zur Beurteilung des Gesundheitszustands und der Arbeitsfähigkeit auf die in allen Teilen beweiskräftige Beurteilung des RAD vom 6. Juli 2021 abzustellen sei. Danach leide der Beschwerdeführer an einer mittelschweren bis schweren Entzündung der Lungenbläschen, ausgelöst durch eine allergische Reaktion auf Papageienexkremente und Schimmelpilz. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit in einer Abwaschküche, eingestuft als körperlich belastende Arbeit in Hitze und Dämpfen, sei dauerhaft höchst ungünstig. Körperlich leicht belastende Tätigkeiten seien ganztags mit zusätzlicher Leistungsminderung von 30 % aufgrund des Pausenbedarfs möglich. Zu vermeiden seien Zwangshaltungen, überwiegendes Stehen oder längeres Gehen, häufiges Treppensteigen, Arbeiten mit Exposition von Dämpfen, Stäuben, Rauch, Gasen, Tätigkeiten in Kälte/Nässe unter starken Temperaturschwankungen und mit gestörtem Tag-/Nacht-Rhythmus sowie mit atmosphärischem Über-/Unterdruck.  
 
4.2. Der Beschwerdeführer begründet nicht, inwieweit das kantonale Gericht Art. 61 lit. c ATSG verletzt haben soll. Es hat darauf hingewiesen, dass der RAD seine Stellungnahme in Kenntnis und Würdigung sämtlicher medizinischer Vorakten, insbesondere der fachärztlichen Einschätzungen der behandelnden Pneumologen mitsamt den Ergebnissen der jeweils vorgenommenen Lungenfunktionsprüfungen abgeben habe. Daraus habe sich eine kontinuierliche Verbesserung des Gesundheitszustands ergeben. Zudem hat die Vorinstanz festgehalten, dass dazu auch die körperliche Bewegung beigetragen haben müsse. Die noch im Juni 2020 ärztlich festgestellte Dekonditionierung, auf die vermutlich zumindest ein Teil der Beschwerden habe zurückgeführt werden können, sei ein knappes Jahr später nicht mehr vorhanden gewesen. Vielmehr habe der Beschwerdeführer anlässlich der pneumologischen Untersuchung vom 12. Mai 2021 selber angegeben, fast täglich spazieren zu gehen, was ihm mit Blick auf die ihm obliegende Schadenminderungspflicht auch zumutbar gewesen sei. Schliesslich hat das kantonale Gericht darauf hingewiesen, dass der behandelnde Pneumologe dem Beschwerdeführer am 11. Januar 2021 die Ausübung einer leicht bis mässig belastenden körperlichen Tätigkeit vollschichtig zugemutet habe, sodass schon aus diesem Grunde von den beantragten weiteren medizinischen Abklärungen abzusehen sei. Diesen Ausführungen ist beizupflichten. Das im letztinstanzlichen Verfahren gestellte Eventualbegehren ist damit ohne Weiteres abzuweisen.  
 
5.  
 
5.1. Zu prüfen bleibt die Bestimmung des Invaliditätsgrades. Gemäss Art. 16 ATSG wird das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte (hypothetisches Invalideneinkommen), in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (hypothetisches Invalideneinkommen).  
 
5.2.  
 
5.2.1. Das kantonale Gericht hat erwogen, der Beschwerdeführer habe keinen Beruf erlernt. Seit seiner Einreise in die Schweiz im Jahr 1988 habe er in zahlreichen Hilfstätigkeiten in unterschiedlichen Bereichen gearbeitet (u.a. Büro, Produktion, Reinigung, Haustechnik, Küche, Recycling). Daher sowie mit Blick darauf, dass diverse Anstellungen zeitlich befristet gewesen seien, habe die Beschwerdegegnerin zu Recht das Valideneinkommen anhand der standardisierten Bruttolöhne der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) 2018 des Bundesamtes für Statistik, Tabelle TA1, Total, Kompetenzniveau 1 (Einfache Tätigkeiten körperlicher oder handwerklicher Art), Männer, bestimmt. Weil der Beschwerdeführer die ihm verbliebene Arbeitsfähigkeit nicht verwertet habe, sei auch das Invalideneinkommen, unter Berücksichtigung des vom RAD in seiner Stellungnahme vom 6. Juli 2021 beschriebenen Anforderungs- und Belastungsprofils, anhand desselben Tabellenlohnes festzusetzen.  
 
5.2.2. Zur Festlegung der Höhe des Abzugs gemäss BGE 126 V 75 hat die Vorinstanz erkannt, der RAD habe den gesundheitlichen Einschränkungen mit dem beschriebenen Anforderungs- und Belastungsprofil (ganztägige Präsenz mit einer Leistungsminderung von 30 %) vollumfänglich Rechnung getragen. Ausserdem biete der zu unterstellende ausgeglichene Arbeitsmarkt ein breites Spektrum an zumutbaren, körperlich leicht belastenden Verweistätigkeiten. Daher führe die gesundheitlich bedingte Unmöglichkeit, körperlich schwer belastende Arbeiten zu verrichten, zu keiner zusätzlichen Verminderung des hypothetischen Invalidenlohnes. Ein Abzug aus invaliditätsfremden Gründen (Alter, Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltskategorie, Beschäftigungsgrad) rechtfertige sich schon deshalb nicht, weil die Vergleichslöhne aufgrund der LSE festzusetzen und die entsprechenden Aspekte daher bei beiden Einkommen zu berücksichtigen wären. Im Übrigen würden Hilfsarbeiten altersunabhängig nachgefragt. Auch nehme die Bedeutung der Dienstjahre im privaten Sektor ab, je niedriger das Kompetenzniveau sei. In dem vom Beschwerdeführer angerufenen BGE 148 V 174 habe sich das Bundesgericht ausführlich mit der Rechtsprechung zum Tabellenlohnabzug befasst und eine diesbezüglich diskutierte Praxisänderung mit einlässlicher Begründung abgelehnt. Schliesslich vermöge der Beschwerdeführer die verbliebene Arbeitsfähigkeit ganztags, mithin vollschichtig umzusetzen, sodass auch in diesem Kontext kein Anlass für einen Abzug bestehe. Insgesamt sei der von der Beschwerdegegnerin vorgenommene Abzug von 10 % nicht zu beanstanden. Es bestehe kein Anlass, richterlich in das Ermessen der Verwaltung einzugreifen.  
 
5.2.3. Zusammenfassend gelangte das kantonale Gericht zum Ergebnis, ab Juni 2021 habe ein den Anspruch auf eine Invalidenrente ausschliessender Invaliditätsgrad von 37 % bestanden.  
 
5.3.  
 
5.3.1.  
 
5.3.1.1. Der Beschwerdeführer macht zunächst geltend, in Bezug auf die Anwendung der Tabellenlöhne der LSE und dem dazugehörigen Korrekturinstrument des leidensbedingten Abzugs sei auf die öffentliche Beratung des Bundesgerichts zum Urteil BGE 148 V 174 zu verweisen. Es habe die kantonalen Vorinstanzen darauf aufmerksam gemacht, bei der Anwendung der Tabellenlöhne müsse von diesem notwendigen Korrektiv Gebrauch gemacht werden. Dies habe das kantonale Gericht nicht getan, sondern sich vielmehr damit begnügt, die standardisierten allgemeinen Textbausteine zum leidensbedingten Abzug wiederzugeben. Damit habe es seinen Ermessensspielraum missbräuchlich nicht ausgeübt.  
 
5.3.1.2. Das Bundesgericht ist in BGE 148 V 174 E. 9.2.3 zusammenfassend zum Schluss gelangt, die bisherige Rechtsprechung für eine möglichst realitätsgerechte Bestimmung des Invaliditätsgrades mittels eines Einkommensvergleichs im Sinne von Art. 16 ATSG orientiere sich, sofern keine konkreten Lohndaten vorhanden sind, subsidiär an den Zentral- beziehungsweise Medianwerten der LSE, die den ausgeglichenen Arbeitsmarkt abbilden. Als Korrekturinstrumente für eine einzelfallgerechte gegenüber einer standardisierten Betrachtung stehen die Möglichkeiten eines Abzugs vom Tabellenlohn gemäss BGE 126 V 75 sowie der Parallelisierung der Vergleichseinkommen (mit Hinweis auf BGE 141 V 1 E. 5.4 mit Hinweisen) zur Verfügung. Inwieweit die Vorinstanz diesen Grundsatz verletzt haben soll, ist nicht ersichtlich.  
 
5.3.2.  
 
5.3.2.1. Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, das kantonale Gericht habe in Verletzung von Bundesrecht den Abzug gemäss BGE 126 V 75 vom standardisierten Bruttolohn zu Unrecht auf nur 10 % eingeschätzt.  
 
5.3.2.2. Die Frage nach der Höhe des im konkreten Fall grundsätzlich angezeigten Abzuges vom Tabellenlohn ist eine Ermessensfrage. Deren Beantwortung ist letztinstanzlicher Korrektur nur zugänglich, wo das kantonale Gericht das Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also bei Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung (vgl. zu diesen Rechtsbegriffen BGE 137 V 71 E. 5.1 mit Hinweisen; BGE 132 V 393 E. 3.3). Der Beschwerdeführer beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die ihn seiner Auffassung nach in der Arbeitsfähigkeit erheblich einschränkenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu wiederholen. Diese sind jedoch, wie das kantonale Gericht zutreffend festgehalten hat, im ärztlich beurteilten Zumutbarkeitsprofil bereits enthalten. Jedenfalls wird nicht dargetan, inwiefern die vorinstanzliche Einschätzung des Abzugs gemäss BGE 126 V 75 bundesrechtswidrig sein soll. Die Beschwerde ist in allen Teilen abzuweisen.  
 
6.  
Die Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer als unterliegender Partei aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 16. Mai 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Maillard 
 
Der Gerichtsschreiber: Grunder