8C_113/2023 21.08.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_113/2023  
 
 
Urteil vom 21. August 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Métral, 
Gerichtsschreiber Jancar. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Advokatin Andrea Mengis, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Hilfsmittel, Treppenlift), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 10. Januar 2023 (VBE.2022.295). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1989 geborene A.________ leidet an einer spastischen cerebralen Bewegungsstörung (Ziff. 390-GgV-Anhang) und bezieht deswegen diverse Leistungen der Invalidenversicherung. Am 12. März 1998 leistete die IV-Stelle des Kantons Aargau Kostengutsprache für einen Treppenlift im Elternhaus. Am 10. Mai 2021 ersuchte der Versicherte die IV-Stelle um eine Modernisierung bzw. - alternativ - um eine Ersetzung dieses Treppenlifts. Mit Verfügung vom 20. Juni 2022 wies die IV-Stelle dieses Begehren ab. 
 
B.  
Die hiergegen von A.________ erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 10. Januar 2023 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, in Aufhebung des kantonalen Urteils sei im Rahmen der Hilfsmittelversorgung Kostengutsprache für die Revision des beantragten Treppenlifts zu erteilen. Eventuell sei die Sache zu weiteren Abklärungen an die IV-Stelle zurückzuweisen. Vor Bundesgericht sei dem Versicherten die unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen. 
Die IV-Stelle verzichtet auf eine Vernehmlassung, wobei sie auf Beschwerdeabweisung schliesst. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) beantragt, die Sache sei an die IV-Stelle zur Prüfung der Kostenübernahme oder -beteiligung im Rahmen des Verhältnismässigkeitsprinzips zurückzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2). 
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Rechtsfrage ist, ob die rechtserheblichen Tatsachen vollständig festgestellt und ob der Untersuchungsgrundsatz bzw. die Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG beachtet wurden. Bei der konkreten Beweiswürdigung geht es um Sachverhaltsfragen (nicht publ. E. 1 des Urteils BGE 142 V 342, veröffentlicht in SVR 2016 IV Nr. 41 S. 131). 
 
2.  
 
2.1. Streitig ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt hat, indem es - mit der IV-Stelle - das Gesuch des an einer angeborenen spastischen cerebralen Bewegungsstörung (Ziff. 390 GgV-Anhang) leidenden Beschwerdeführers um Kostengutsprache für die Modernisierung bzw. den Ersatz des bestehenden Treppenlifts im elterlichen Wohnhaus abschlug. Dabei steht das Vorliegen eines Revisionsgrundes ausser Frage.  
 
2.2. Am 1. Juli 2020 trat die neue Fassung der Verordnung des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) vom 29. November 1976 über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (HVI) samt HVI-Anhang (SR 831.232.51) in Kraft. Bei der Beurteilung von Dauersachverhalten wird im Sozialversicherungsrecht auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der strittigen Verfügung eingetretenen Sachverhalt abgestellt. Auf zeitlich offene Dauersachverhalte ist grundsätzlich bis zum Inkrafttreten einer Rechtsänderung das alte Recht, nachher das neue Recht anwendbar (BGE 147 V 308 E. 5.1 mit Hinweisen). Für den hier zu beurteilenden Fall bedeutet das, dass der Hilfsmittelanspruch nach Massgabe der neuen, ab 1. Juli 2020 geltenden Verordnungsbestimmungen zu prüfen ist (BGE 147 V 308 E. 5.1).  
 
2.3. Die Vorinstanz hat die rechtlichen Grundlagen und die Rechtsprechung betreffend den Anspruch auf Hilfsmittel im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 3 lit. d, Art. 21 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 14 IVV; BGE 131 V 9 E. 3.4.2, 130 V 163 E. 3.1.1) und denjenigen auf Abgabe von Treppenliften im Besonderen (Ziff. 14.05 HVI-Anhang) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt betreffend die Revision von Dauerleistungen (Art. 17 Abs. 2 ATSG) sowie die Bedeutung der Grundrechte und der verfassungsmässigen Grundsätze bei der Auslegung sozialversicherungsrechtlicher Leistungsnormen sowie bei der Ermessenshandhabung (BGE 147 V 312 E. 6.3.1, 140 I 77 E. 5.3, 134 I 105 E. 6, 126 V 334 E. 2d, 120 V 1 E. 2a). Darauf wird verwiesen.  
 
3.  
 
3.1. Die im vorliegenden Fall betroffene Eingliederungsmassnahme fällt unter Ziff. 14.05 HVI-Anhang, die unter dem Titel "Hebebühnen, Treppenlifte und Rampen sowie Beseitigung oder Änderung von baulichen Hindernissen im und um den Wohn-, Arbeits-, Ausbildungs- und Schulungsbereich " wörtlich wie folgt lautet: "Hebebühnen, Treppenlifte und Rampen sowie Beseitigung oder Änderung von baulichen Hindernissen im und um den Wohn-, Arbeits-, Ausbildungs- und Schulungsbereich: Für Versicherte, die ohne einen solchen Behelf ihren Aufenthaltsort nicht verlassen können. Der Anspruch besteht nicht bei Aufenthalt im Heim. Die Abgabe von Hebebühnen, Treppenliften und Rampen erfolgt leihweise".  
 
3.2.  
 
3.2.1. Vorinstanz und Verwaltung stützten sich auf den Ausschluss in Ziff. 14.05 HVI-Anhang, da der Beschwerdeführer in einem Heim lebe. Dort werde die erforderliche, zweckmässige und wirtschaftlich angemessene Versorgung sichergestellt. Da kein Anspruch auf eine optimale Versorgung bestehe, sei es - wie schon im Urteil 9C_640/2015 vom 6. Juli 2016 bundesgerichtlich beurteilten Fall - irrelevant, dass der Beschwerdeführer ausserhalb des Wohnheims am meisten Zeit bei seinen Eltern verbringe, solange er nicht dort lebe. Deshalb und weil kein Anspruch auf optimale Versorgung bestehe, bewege sich der in Ziff. 14.05 HVI-Anhang vorgesehene Ausschluss der Abgabe eines Treppenlifts bei Heimaufenthalt im Rahmen von Art. 21 IVG.  
 
3.2.2. Der Beschwerdeführer wirft Vorinstanz und Verwaltung vor, nicht geprüft zu haben, ob er ohne die behinderunsgerechte Erschliessung des Wohnhauses der Eltern sein Grundrecht auf Familie und Achtung des Familienlebens (Art. 14 BV und Art. 8 EMRK) noch in zumutbarer Weise ausüben könne. Unter anderem macht er im Wesentlichen geltend, der Aufenthalt im Haus seiner Eltern sei ohne das beantragte Hilfsmittel nicht mehr möglich. So könne er die Toilette im Erdgeschoss nicht benützen, weil sie nicht rollstuhlgängig sei und wegen der engen Platzverhältnisse auch nicht umgebaut werden könne, wobei ein Umbau deutlich teurer käme als die beantragte Liftanpassung. Besuche tagsüber bei den Eltern wären demnach ohne behinderungsgerechten Zugang zum Obergeschoss auf eine minimale Zeit beschränkt; verunmöglicht wäre hingegen das Übernachten, da es im Erdgeschoss nur Küche und Wohn-/Esszimmer gebe. Die Vorinstanz habe übersehen, dass er seinen Lebensmittelpunkt weiterhin bei den Eltern habe, weil er sich dort am besten erholen könne und den Kontakt mit den anderen Angehörigen zu Hause pflege. Die Kosten-Nutzen-Abwägung habe in seinem Fall besonderes Gewicht. So habe er nach seinem Umzug ins Heim nicht nur einen neuen Wartungsvertrag für den zu Hause installierten Treppenlift erhalten. Die Kosten für die Modernisierung dieser Anlage (Fr. 7'600.-) bewegten sich zudem etwa im gleichen Rahmen wie die 2019 (lange nach dem Umzug ins Heim) von der IV-Stelle erteilte Kostengutsprache für eine neue WC-Dusch- und Trockenanlage; ohne Treppenlift könne er das speziell erschlossene Obergeschoss des Elternhauses nicht mehr erreichen.  
 
3.2.3. Das BSV geht - ohne expliziten Bezug auf rechtliche Anspruchsgrundlagen und ohne Anerkennung einer präjudiziellen Wirkung - von einem Grenzfall aus. Dabei streicht es hervor, dass es nicht um einen Antrag um Neuversorgung, sondern um die Revision des vor 25 Jahren durch die IV-Stelle finanzierten Treppenlifts gehe, wobei der Beschwerdeführer nur mit dessen Hilfe die ebenfalls von der IV-Stelle entgoltenen Hilfsmittel im elterlichen Haus (bspw. Elektrobett, WC-, Dusch- und Trockenanlage) erreichen bzw. sinnvoll nutzen könne. Dabei werde glaubhaft dargetan, dass der Beschwerdeführer ohne den Lift nicht in der Lage wäre, bei den Eltern zu übernachten oder die Toilette zu nutzen; ein Aufenthalt bei den Eltern - für den Beschwerdeführer im Hinblick auf seine Kontakte essenziell - wäre ohne Lift in der Praxis verunmöglicht.  
 
3.3. Das vom Beschwerdeführer beantragte Hilfsmittel findet sich zwar auf der einschlägigen Liste, doch besteht in seinem Fall wegen des Heimaufenthaltes ein genereller Leistungsausschluss. Dass dieser Ausschluss offensichtlich den dem Verordnungsgeber in Art. 21 IVG auferlegten Rahmen sprengen oder sonstwie ausserhalb des nach dieser Bestimmung Zulässigen liegen würde (vgl. BGE 131 V 9 E. 3.4.3), ist nicht ersichtlich und wird beschwerdeweise auch gar nicht behauptet. Zum andern bestehen jedoch mit Art. 13 Abs. 1 und Art. 14 BV sowie mit Art. 8 EMRK grundrechtliche Schutzpositionen hinsichtlich der Wahrung des Familienlebens (vgl. E. 3.4.2 f. von SVR 2009 IV Nr. 49 S. 149 ff., 8C_315/2008; vgl. ferner BGE 134 I 105 E. 6), das seinerseits durch die Leistungsverweigerung zwar nicht verunmöglicht, aber doch eingeschränkt bzw. erschwert wird (vgl. in Bezug auf Eltern und erwachsene Kinder bei zusätzlichen Elementen einer Abhängigkeit: Martin Nettesheim, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer [Hrsg], EMRK, 5. Aufl. 2023, N. 61 zu Art. 8 EMRK, mit Hinweis; Mark E. Villiger, Handbuch der EMRK, 3. Aufl. 2020, Rz. 678 bei Fn. 110).  
Ob dies für sich allein hier eine Leistungszusprache im Sinne verfassungskonformer Auslegung (unter den gegebenen Umständen wider den Wortlaut der Liste) rechtfertigen würde, scheint fraglich, kann aber offenbleiben. Denn abgesehen davon, dass es in diesem Zusammenhang an vorinstanzlichen Feststellungen fehlt über die konkreten Verhältnisse vor Ort wie auch hinsichtlich der im Rahmen des Zumutbaren bestehenden Möglichkeiten, sich anderweitig zu organisieren, mangelt es an jeglichen Erhebungen zur Art und Weise des familiären Zusammenlebens des Beschwerdeführers mit seinen Eltern, insbesondere in Bezug auf Häufigkeit und Dauer seiner Besuche. Dazu kommt, dass das strittige Hilfsmittel der Selbstsorge (vgl. BGE 144 V 319 E. 4.6.3) in Zusammenhang mit einer in der Vergangenheit offenbar bereits erbrachten Hilfsmittelversorgung zu sehen ist, die ohne Erhalt bzw. Anpassung des früher zugesprochenen Treppenlifts nutzlos würde, wie auch das BSV zu bedenken gibt. Dieser besondere Fallaspekt soll hier mit Blick auf die gebotene Verhältnismässigkeit nebst der Schadenminderungspflicht in die Abwägung zwischen den grundrechtlich geschützten Positionen des Beschwerdeführers und dem Anliegen der Einfachheit und Zweckmässigkeit - auch unter grundrechtlichem Aspekt besteht kein Anspruch auf eine bestmögliche Eingliederung (vgl. BGE 144 V 319 E. 4.6.2 mit Hinweisen) - einbezogen werden. Dafür ist die Sache, gemäss dem Antrag des BSV, an die Verwaltung zurückzweisen. 
 
4.  
Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu erneuter Abklärung gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten und der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (BGE 141 V 281 E. 11.1, 137 V 210 E. 7.1). Die unterliegende IV-Stelle hat die Gerichtskosten zu tragen und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1, Art. 68 Abs. 2 BGG). Sein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ist somit gegenstandslos. Zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des kantonalen Verfahrens ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 67 und Art. 68 Abs. 5 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 10. Januar 2023 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 20. Juni 2022 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers, Advokatin Andrea Mengis, für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 21. August 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Jancar