8C_263/2022 08.09.2022
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_263/2022  
 
 
Urteil vom 8. September 2022  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiberin N. Möckli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dieter Studer, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, 
St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 9. März 2022 (VV.2021.176/E). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1970 geborene A.________ ist ausgebildeter Mechaniker und arbeitete seit dem 1. August 2004 als Mitarbeiter in der Werkzeugverwaltung bei der B.________ AG. Im September 2019 meldete er sich wegen Nacken-, Rücken, Schulter-, Arm-, Hand- und Knieproblemen sowie einer Depression bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau tätigte daraufhin verschiedene Abklärungen, insbesondere holte sie bei den behandelnden Ärzten Berichte ein und unterbreitete die Akten dem Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) zur Stellungnahme. Gestützt darauf verneinte die Verwaltung nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom 10. Juni 2021 einen Leistungsanspruch. 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau ab (Entscheid vom 9. März 2022). 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihm Kostenvergütung und ein Taggeld für die Umschulung zum Berufschauffeur bei der C.________ AG vom 24. Februar 2021 bis 28. September 2021 zuzusprechen. 
Die IV-Stelle schliesst unter Verweis auf ihre Verfügung und den vorinstanzlichen Entscheid auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet derweil auf eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2 mit Hinweis). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Strittig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz zu Recht entschieden hat, dass der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf eine Umschulung zulasten der Beschwerdegegnerin hat.  
 
2.2. Im angefochtenen Entscheid werden die gesetzlichen Bestimmungen zu den Begriffen der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG), der drohenden Invalidität (Art. 1novies IVV [SR 831.201]) und der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) sowie zur Ermittlung des Invaliditätsgrades nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28a Abs. 1 IVG in der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung i.V.m. Art. 16 ATSG) zutreffend dargelegt. Ebenfalls richtig sind die vorinstanzlichen Ausführungen zum Anspruch auf eine Umschulung (Art. 17 IVG), der grundsätzlich einen Invaliditätsgrad von 20 % voraussetzt (vgl. BGE 139 V 399 E. 5.3 mit Hinweis). Darauf wird verwiesen.  
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz stellte in einer Gesamtschau der Aktenlage fest, es sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer nach Ablauf des Wartejahres im September 2020 mindestens in einer angepassten, vorwiegend sitzenden Tätigkeit vollständig arbeitsfähig sei. Der damit noch erzielbare Lohn (Invalideneinkommen) sei gestützt auf die Tabellenlöhne der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Lohnstrukturerhebung (LSE) zu ermitteln und belaufe sich für Männer in einfachen und repetitiven Tätigkeiten auf Fr. 68'906.11. Umstände, die einen Abzug davon rechtfertigten, seien nicht ersichtlich. Aus dem Vergleich mit dem Valideneinkommen resultiere ein Invaliditätsgrad von 15,71 %. Damit sei der für eine Umschulung geforderte Mindestinvaliditätsgrad von 20 % beim Beschwerdeführer, bei dem es sich um keinen jungen Versicherten mit entsprechend langer verbleibender Aktivitätsdauer handle (Urteil 8C_808/2017 vom 11. Januar 2018), nicht erfüllt. Zudem bestünden keine Anhaltspunkte, dass ein Mindestinvaliditätsgrad von 20 % drohe.  
 
3.2. Der Beschwerdeführer wirft dem kantonalen Gericht hinsichtlich der Feststellung zur Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit eine unvollständige und damit den Untersuchungsgrundsatz verletzende Sachverhaltsermittlung vor. Ferner habe es die Vorinstanz unterlassen, die Voraussetzungen für Eingliederungsmassnahmen schlüssig zu beurteilen. Sie begründe nicht hinreichend, weshalb er bei einer angepassten Tätigkeit keine mindestens 20%ige Erwerbseinbusse hinnehmen müsse, zumal er sogar mit der nun absolvierten Umschulung zum Chauffeur ein um 16,5 % tieferes Einkommen im Vergleich zum Valideneinkommen habe. Das kantonale Gericht begründe auch nicht, weshalb kein behinderungsbedingter Abzug zu gewähren sei. Der Beschwerdeführer fordert einen solchen von 10 %. Er verweist dabei auf seinen beeinträchtigten Schlaf, seine zu den Befunden passenden (somatischen) Beschwerden, die chronische Depression sowie auf die psychopharmakologische Behandlung und sein Alter.  
 
4.  
Soweit der Beschwerdeführer in verschiedener Hinsicht vorbringt, eine hinreichende Begründung fehle im vorinstanzlichen Entscheid, ist darauf hinzuweisen, dass es genügt, wenn darin die wesentlichen Faktoren hinlänglich festgestellt und gewürdigt werden, sodass der Entscheid gegebenenfalls sachgerecht angefochten werden kann (BGE 146 II 335 E. 5.1 mit Hinweisen). Inwiefern der angefochtene Entscheid diesen Anforderungen nicht genügen soll, begründet der Beschwerdeführer nicht substanziiert (vgl. Art. 106 Ab. 2 BGG), womit sich weitere Erwägungen in dieser Hinsicht erübrigen. 
 
5.  
 
5.1. Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers hat das kantonale Gericht offengelassen, ob dieser in der angestammten Tätigkeit noch arbeitsfähig ist. Darin ist keine unvollständige, den Untersuchungsgrundsatz verletzende, Sachverhaltsermittlung zu erblicken, falls mit der Vorinstanz ein Leistungsanspruch aufgrund der Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit verneint werden kann. Denn die Abklärungspflicht (Art. 43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG) bezieht sich nur auf den im Rahmen des streitigen Rechtsverhältnisses rechtserheblichen Sachverhalt. Das heisst auf jene Tatsachen, von deren Vorliegen es abhängt, ob über einen streitigen Anspruch so oder anders zu entscheiden ist (BGE 146 V 240 E. 8.1).  
 
5.2. Der Beschwerdeführer bemängelt mit Blick auf sein Alter, seine berufliche Ausbildung zum Mechaniker und seine Tätigkeit auf diesem Beruf, dass das kantonale Gericht von genügend realistischen Betätigungsmöglichkeiten im Rahmen von leichten, sitzenden Hilfsarbeiten ohne besondere Anforderungen und Qualifikationen ausgegangen sei. Dem ist die zutreffende vorinstanzliche Erwägung entgegenzuhalten, dass sich die Erwerbsmöglichkeiten nach dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt beurteilen und dieser ein breites Spektrum an Tätigkeiten umfasst, mithin auch leichte, sitzende Hilfsarbeiterarbeiten (vgl. statt vieler: Urteil 8C_725/2020 vom 22. Dezember 2022 E. 4.4.2). Zu denken ist beispielsweise an keine Ausbildung erfordernde einfache Überwachungs-, Prüf- und Kontrolltätigkeiten oder einfache Montagearbeiten. Nichts zu seinen Gunsten kann der Beschwerdeführer aus dem Hinweis auf sein Alter und seine bisherige Erwerbstätigkeit als Mechaniker ableiten. Denn die Erwerbsfähigkeit des im Verfügungszeitpunkt rund 51 Jahre alten Beschwerdeführers ist ohne Weiteres auf dem Weg der Selbsteingliederung noch verwertbar (vgl. BGE 145 V 209 E. 5.1; 138 V 457 E. 3.2; je mit Hinweisen).  
 
5.3. In einem nächsten Schritt ist zu prüfen, ob das von der Vorinstanz bestimmte Invalideneinkommen Bundesrecht verletzt.  
 
5.3.1. Gemäss der Rechtsprechung ist für die Festsetzung des Invalideneinkommens primär von der beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in der die versicherte Person konkret steht. Übt sie nach Eintritt der Invalidität eine Erwerbstätigkeit aus, bei der - kumulativ - besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben sind und anzunehmen ist, dass sie die ihr verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft, und erscheint zudem das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als Soziallohn, gilt grundsätzlich der tatsächlich erzielte Verdienst als Invalidenlohn. Ist kein solches Erwerbseinkommen gegeben, namentlich weil die versicherte Person nach Eintritt des Gesundheitsschadens keine oder jedenfalls keine ihr an sich zumutbare neue Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, können gemäss Rechtsprechung die Tabellenlöhne der LSE herangezogen werden (BGE 148 V 174 E. 6.2 und E. 9.2.3 mit Hinweisen).  
Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage von statistischen Lohndaten wie namentlich der LSE ermittelt, ist der so erhobene Ausgangswert gemäss der Rechtsprechung allenfalls zu kürzen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können und die versicherte Person je nach Ausprägung deswegen die verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann. Der Abzug soll aber nicht automatisch erfolgen. Er ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen und darf 25 % nicht übersteigen (BGE 148 V 174 E. 6.3 und E. 9.2.3 mit Hinweisen). 
 
5.3.2. Das Arbeitsverhältnis des Beschwerdeführers wurde am 28. Mai 2020 von seiner damaligen Arbeitgeberin per 31. August 2020 gekündigt. In der Folge hat er bis zum Erlass der angefochtenen Verfügung vom 10. Juni 2021 keine Erwerbstätigkeit aufgenommen. Vor diesem Hintergrund ist mit Blick auf die Rechtsprechung nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz das Invalideneinkommen anhand der Tabellenlöhne ermittelte. Der Beschwerdeführer kann aus dem nach der angefochtenen Verfügung abgeschlossenen Arbeitsvertrag vom 14. Januar 2022 nichts zu seinen Gunsten ableiten, denn der Entscheid der Verwaltung markiert in verfahrensmässiger Hinsicht den Endzeitpunkt des sachverhaltlich relevanten Geschehens (vgl. BGE 144 I 11 E. 4.3; Urteil 8C_413/2021 vom 29. September 2021 E. 4.2 mit Hinweisen).  
 
5.3.3. Soweit der Beschwerdeführer einen leidensbedingten Abzug von 10 % mit Blick die Beeinträchtigung seines Schlafes durch die Rückenschmerzen, die chronische Depression und deren psychopharmakologische Behandlung fordert, kann ihm nicht gefolgt werden. Denn diese Umständen führen gemäss dem vorinstanzlichen Entscheid zu keinen massgeblichen Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit. Es wird auf die nicht bestrittenen vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen verwiesen, wonach der Beschwerdeführer mindestens hinsichtlich einer angepassten, vorwiegend sitzenden Tätigkeit voll arbeitsfähig sei und die psychischen Beschwerden ihn nicht relevant beeinträchtigten. Dazu festzuhalten ist, dass diese Annahme mit Blick auf die RAD-Einschätzungen und die diese Beurteilungen bestätigenden Berichte des Zentrums D.________ vom 6. und 25. August 2020 als wohlwollend erscheint. Weiter ist mit der Vorinstanz festzuhalten, dass aufgrund der leidensbedingten Einschränkungen keine Umstände ersichtlich sind, die einen Abzug rechtfertigen. Denn der Tabellenlohn im Kompetenzniveau 1 umfasst auch eine Vielzahl von leichten Tätigkeiten, womit den gesundheitlichen Beeinträchtigungen Rechnung getragen ist (vgl. statt vieler: Urteile 8C_799/2021 vom 3. März 2022 E. 4.3.2 mit Hinweisen). Ebenso wenig vermag das Alter einen leidensbedingten Abzug zu begründen. Denn dem 1970 geborenen Beschwerdeführer stand im Verfügungszeitpunkt noch eine längere Aktivitätsdauer bevor und im Bereich der Hilfsarbeiten muss sich ein etwas fortgeschrittenes Alter auf dem hypothetischen ausgeglichenen Arbeitsmarkt praxisgemäss nicht zwingend lohnsenkend auswirken, da gerade Hilfsarbeiten auf dem massgebenden ausgeglichenen Stellenmarkt altersunabhängig nachgefragt werden (BGE 146 V 16 E. 7.2.1 mit Hinweisen; vgl. auch Urteil 8C_393/2020 vom 21. September 2020 E. 4.2). Die Nichtgewährung eines Abzugs vom statistischen Wert ist somit nicht bundesrechtswidrig.  
 
5.4. Aufgrund des Dargelegten ist festzuhalten, dass der von der Vorinstanz berechnete Invaliditätsgrad von gerundet 16 % kein Bundesrecht verletzt und das kantonale Gericht gestützt darauf zu Recht einen Anspruch auf eine Umschulung verneinte. Die Beschwerde ist abzuweisen.  
 
6.  
Dem unterliegenden Beschwerdeführer sind die Gerichtskosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 8. September 2022 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Möckli