8C_199/2022 25.11.2022
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_199/2022  
 
 
Urteil vom 25. November 2022  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione, 
Gerichtsschreiberin Huber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Beatrice Gurzeler, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 17. Februar 2022 (200 21 651 IV). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1984 geborene A.________ meldete sich am 23. März 2020 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nachdem die IV-Stelle Bern mit Vorbescheid vom 24. Juni 2020 das Nichteintreten auf das Leistungsbegehren wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht in Aussicht gestellt hatte, reichte der zuständige Sozialdienst die geforderten Informationen und Unterlagen ein. Am 30. Juli 2020 teilte die IV-Stelle A.________ mit, dass sie mangels Aussicht auf Erfolg keine Eingliederungsmassnahmen durchführen werde. In der Folge ordnete die Verwaltung eine psychiatrische Begutachtung bei Dr. med. B.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, an (Expertise vom 28. Mai 2021) und verneinte nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren gestützt auf die Ergebnisse dieser Begutachtung einen Rentenanspruch (Verfügung vom 9. August 2021). 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Urteil vom 17. Februar 2022 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________ die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils sowie die Rückweisung der Sache an das kantonale Gericht zu weiteren Abklärungen. Eventualiter sei ihr eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. 
Das Bundesgericht hat die vorinstanzlichen Akten eingeholt. Ein Schriftenwechsel ist nicht durchgeführt worden. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). 
Die dem hier angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar (BGE 148 V 174 E. 4.1). 
 
3.  
 
3.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die vorinstanzlich bestätigte Leistungsablehnung vor Bundesrecht standhält.  
 
3.2. Das kantonale Gericht legte die rechtlichen Grundlagen und die Rechtsprechung betreffend die Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), die Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG), die Voraussetzungen des Rentenanspruchs (Art. 28 IVG) und die Invaliditätsbemessung (Art. 16 ATSG) richtig dar. Gleiches gilt in Bezug auf die Rechtsprechung zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit bei psychischen Erkrankungen (BGE 145 V 215 E. 5.1; 143 V 418 E. 7; 141 V 281 E. 4.1) sowie zur Beweiswürdigung und zum Beweiswert medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 143 V 124 E. 2.2.2; 125 V 351 E. 3a). Darauf wird verwiesen.  
 
4.  
Die Vorinstanz mass dem Gutachten des Dr. med. B.________ vom 28. Mai 2021 Beweiswert zu. Sie stellte gestützt darauf fest, dass die Beschwerdeführerin an einer Abhängigkeitsstörung von verschiedenen "psychischen Substanzen" (Polytoxikomanie) leide, wobei eine vollständige Arbeitsfähigkeit mit einer Leistungseinschränkung von maximal 20 % bestehe. Dabei liess das kantonale Gericht offen, ob diese Arbeitsfähigkeitsschätzung des Gutachters auch aus rechtlicher Sicht zu überzeugen vermöge und die Durchführung eines strukturierten Beweisverfahrens gemäss BGE 145 V 215 überhaupt vorzunehmen sei. Dies begründete es damit, dass das Wartejahr bei einer 20%igen Leistungseinschränkung in der angestammten Tätigkeit nicht erfüllt werden könne. Ein Anspruch auf eine Invalidenrente sei somit von vornherein ausgeschlossen. Die Vorinstanz gelangte zum Ergebnis, selbst wenn ein Einkommensvergleich durchgeführt würde, resultierte daraus ein rentenausschliessender Invaliditätsgrad, da sowohl das Validen- als auch das Invalideneinkommen auf der gleichen Basis zu ermitteln wären. Ein Abzug vom Tabellenlohn rechtfertige sich im vorliegenden Fall nicht. 
 
5.  
 
5.1. In erster Linie zieht die Beschwerdeführerin den Beweiswert der Expertise des Dr. med. B.________ vom 28. Mai 2021 in Zweifel. Sie moniert, es sei dem Gutachter nicht gelungen, nachvollziehbar darzulegen, weshalb insbesondere mit Blick auf den sehr schweren Verlauf und die Dekonditionierung durch die Suchterkrankung eine Arbeitsfähigkeit von 100 % vorliegen solle. Diese Rüge zielt ins Leere. So hat der Psychiater zwar berichtet, dass die Beschwerdeführerin unter einem schweren Verlauf einer Abhängigkeitsstörung verschiedener psychotroper Substanzen leide (Polytoxikomanie) und entsprechend ein ausgeprägter Erkrankungsfall vorliege. Er hat darüber hinaus aber auch festgehalten, dass aktuell keine irreversiblen psychischen Veränderungen, etwa durch kognitive Einschränkungen, aufgefallen seien. Auch die somatischen Probleme betreffend frühere Thrombosen oder die Hepatitis seien symptomatisch behandelbar und nicht irreversibel beeinträchtigend. Die Frage nach der Arbeitsfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit hat er entsprechend dahingehend beantwortet, dass eine solche der Beschwerdeführerin grundsätzlich im Umfang von mindestens acht Stunden pro Tag zumutbar sei. Was die Beschwerdeführerin davon abhalte, eine Arbeit auszuüben, könne er kaum sagen. Als wichtigster Punkt sei hier die andauernde Dekonditionierung und die soziale Entwicklung über Jahrzehnte zu nennen.  
Das kantonale Gericht hat willkürfrei erkannt, dass Dr. med. B.________ überzeugend das Bestehen einer Persönlichkeitsstörung mit Krankheitswert verneint habe. Gemäss dem Gutachter sei kein längerer Zeitraum auszumachen, während dem die Beschwerdeführerin gänzlich frei vom Konsumverhalten psychotroper Substanzen gelebt habe. Inwiefern es diesen gutachterlichen Ausführungen an Schlüssigkeit fehlen soll, vermag die Beschwerdeführerin nicht aufzuzeigen. 
 
5.2. Die Beschwerdeführerin rügt, Dr. med. B.________ gehe davon aus, dass eine Abhängigkeit einem Entzug ohne Weiteres zugänglich sei und juristisch abverlangt werden müsse. Dies mag als allgemeine Aussage zutreffend sein. Das kantonale Gericht ist allerdings auf die Entzugsfrage im vorliegenden Fall eingegangen und hat willkürfrei festgestellt, dass Dr. med. B.________ für seine Arbeitsfähigkeitsschätzung keinen Entzug vorausgesetzt habe. So hat er konstatiert, dass sich die Beschwerdeführerin aktuell in einem geordneten und luziden "Zustandsbild" befinde und eine erneute Entzugsbehandlung nicht angezeigt sei.  
 
5.3. Die Vorinstanz hat erwogen, dass das psychiatrische Gutachten in Kenntnis der Vorakten und der Geschichte inklusive des auffallenden Verhaltens der Beschwerdeführerin in der Jugend sowie der zahlreichen Klinikaufenthalte erstattet worden sei. Im Weiteren ist sie zum Schluss gelangt, dass sowohl die Berichte der Klinik C.________, insbesondere diejenigen über die verschiedenen Entzugsaufenthalte, als auch der Bericht der Psychiatrischen Dienste D.________ vom 1. Juli 2015 kein Indiz enthalten würden, das gegen die Zuverlässigkeit der gutachterlichen Einschätzung spräche. Mit ihren pauschalen Vorbringen, die Expertise des Dr. med. B.________ sei diskrepant zu den genannten fachärztlichen Beurteilungen, vermag die Beschwerdeführerin nicht aufzuzeigen, inwiefern die vorinstanzlichen Feststellungen offensichtlich unrichtig oder sonstwie bundesrechtswidrig sein sollen.  
 
5.4. Im Lichte des Gesagten erhellt, dass das kantonale Gericht die Beweiskraft der Expertise vom 28. Mai 2021 zu Recht bejaht hat. Das Ergebnis der vorinstanzlichen Beweiswürdigung und insbesondere die Feststellungen betreffend die Arbeitsfähigkeit sind nicht offensichtlich unrichtig und darum für das Bundesgericht verbindlich (E. 1 oben). In diesem Sinne besteht kein Anlass für eine Rückweisung an das kantonale Gericht zu weiteren Abklärungen. Zu den übrigen Erwägungen der Vorinstanz (Wartejahr und Invaliditätsbemessung) bringt die Beschwerdeführerin nichts vor, weshalb darauf nicht weiter einzugehen ist. Die Beschwerde ist unbegründet.  
 
6.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 25. November 2022 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber