9C_644/2023 10.06.2024
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_644/2023  
 
 
Urteil vom 10. Juni 2024  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Scherrer Reber, 
Gerichtsschreiberin Nünlist. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Ausgleichskasse Arbeitgeber Basel, Viaduktstrasse 42, 4051 Basel, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Advokat Dr. Marco Biaggi, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 16. Februar 2023 (AH.2021.7). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1960 geborene A.________ hat vier Kinder, der jüngste Sohn ist am 17. Januar 2000 geboren. Nachdem seine Ehefrau am 21. März 2020 verstorben war, meldete sich A.________ am 7. Dezember 2020 zum Bezug einer Witwerrente an. Die Ausgleichskasse Arbeitgeber Basel (nachfolgend: Ausgleichskasse) wies den Anspruch mit Verfügung vom 26. Mai 2021 ab, was sie mit Einspracheentscheid vom 22. Juli 2021 bestätigte. 
 
B.  
Die gegen den Einspracheentscheid vom 22. Juli 2021 erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt mit Urteil vom 16. Februar 2023 gut, hob den Einspracheentscheid auf und sprach A.________ ab April 2020 eine Witwerrente zu. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Ausgleichskasse die Aufhebung des Urteils vom 16. Februar 2023. 
Der Beschwerdegegner beantragt, das vorinstanzliche Urteil sei zu schützen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) beantragt die Gutheissung der Beschwerde. Der Beschwerdegegner nimmt am 26. Mai 2024 letztmals Stellung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die (weiteren) Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 145 V 57 E. 1; 144 V 280 E. 1). 
 
1.1. Die Beschwerde ist nicht kassatorischer, sondern reformatorischer Natur. Daher darf sich die beschwerdeführende Partei grundsätzlich nicht darauf beschränken, die Aufhebung des angefochtenen Urteils zu beantragen, sondern es ist in der Beschwerdeschrift ein präziser Antrag zur Sache zu stellen (BGE 133 III 489 E. 3.1; Urteil 9C_291/2017 vom 20. September 2018 E. 1.1). Das Begehren umschreibt den Umfang des Rechtsstreits und sollte so formuliert werden, dass es bei Gutheissung zum Urteil erhoben werden kann. Ein blosser Aufhebungsantrag genügt nach dem Gesagten (von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen) grundsätzlich nicht. Bei der Beurteilung, ob ein genügender Antrag vorliegt, stellt das Gericht indessen nicht nur auf die förmlich gestellten Anträge ab; das Begehren kann sich vielmehr auch aus der Begründung ergeben (Urteil 9C_741/2017 vom 31. August 2018 E. 2.1 mit Hinweisen).  
 
1.2. Aus der Beschwerdebegründung geht hervor, dass der Beschwerdegegner nach Auffassung der Beschwerdeführerin keinen Anspruch auf eine Witwerrente hat. Auf die Beschwerde ist insoweit einzutreten.  
 
2.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
3.  
 
3.1. Strittig und zu prüfen ist, ob Bundesrecht verletzt wurde, indem das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt dem Beschwerdegegner ab April 2020 eine Witwerrente zugesprochen hat.  
 
3.2.  
 
3.2.1. Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente haben Witwen oder Witwer, sofern sie im Zeitpunkt der Verwitwung Kinder haben. Der Anspruch erlischt mit der Wiederverheiratung, dem Tod der Witwe oder des Witwers und - im Fall von Witwern, nicht aber von Witwen - wenn das letzte Kind das 18. Altersjahr vollendet hat (Art. 23 Abs. 1 und Abs. 4, Art. 24 Abs. 2 AHVG).  
 
3.2.2. Mit Urteil 78630/12 B.________ gegen Schweiz vom 11. Oktober 2022 (nachfolgend: Urteil 78630/12) entschied die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), dass durch Art. 24 Abs. 2 AHVG Witwer diskriminiert werden, indem ihre Hinterlassenenrente, anders als jene von Witwen, mit der Volljährigkeit des jüngsten Kindes erlischt. Er stellte in diesem Zusammenhang eine Verletzung von Art. 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest.  
Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist daher zwecks Herstellung eines konventionskonformen Zustandes in vergleichbaren Konstellationen fortan darauf zu verzichten, die Witwerrente allein aufgrund der Volljährigkeit des jüngsten Kindes aufzuheben (vgl. BGE 143 I 50 E. 4.1 und 4.2; 143 I 60 E. 3.3; vgl. auch die Urteile 9C_491/2023 vom 3. April 2024 E. 2.2, 9C_281/2022 vom 28. Juni 2023 E. 3 und 9C_481/2021 E. 2.1 f.). 
 
3.2.3. Das erkannte auch das BSV in seinen Mitteilungen Nr. 460 vom 21. Oktober 2022 an die AHV-Ausgleichskassen und EL-Durchführungsstellen (abrufbar unter: https://www.bsv.admin.ch/bsv/de/home/sozialversicherungen/ahv/grundlagen-gesetze/witwerrente.html; zuletzt besucht am 3. Juni 2024). Diese sehen für folgende Personen eine Übergangsregelung vor (Mitteilungen S. 2) :  
 
- Witwer mit minderjährigen Kindern, deren Rente zum Zeitpunkt des rechtskräftigen Urteils (11. Oktober 2022) bereits ausbezahlt wird. Darunter fallen auch die Fälle, für welche die Anmeldung nach dem 11. Oktober 2022 eingereicht wird. Für den Anspruch auf eine Witwerrente über das 18. Altersjahr des Kindes hinaus, ist massgebend, dass das Kind am 11. Oktober 2022 das 18. Altersjahr noch nicht vollendet hatte; 
- Nicht geschiedene Ehemänner mit Kindern, die nach dem 11. Oktober 2022 verwitwen, d.h. deren Leistungsanspruch infolge eines Todesfalls entsteht, der nach diesem Datum eintritt. Massgebend ist, dass der Witwer im Zeitpunkt der Verwitwung eines oder mehrere Kinder hat; das Alter des Kindes ist (wie bei Witwen) unerheblich; 
- Witwer mit Kindern, die die Rentenaufhebungsverfügung angefochten haben und deren Fall am 11. Oktober 2022 hängig ist; 
- Männer, deren Anspruch auf eine Witwerrente gestützt auf Artikel 23 Absatz 5 AHVG wiederauflebt, sofern das jüngste Kind, welches Anspruch auf die Witwerrente gab, am 11. Oktober 2022 das 18. Altersjahr noch nicht vollendet hat. 
Für diese Personen werden die Witwerrenten gemäss Artikel 23 AHVG gewährt und über das 18. Altersjahr des Kindes hinaus ausbezahlt. Die Leistungen sind also nicht mehr zeitlich befristet und erlöschen nur bei Tod, Wiederverheiratung oder Entstehung des Anspruchs auf eine höhere AHV-Altersrente bzw. IV-Rente. 
 
4.  
 
4.1. Das kantonale Gericht hat im Wesentlichen erwogen, die Situation des Beschwerdegegners habe mit dem Tod seiner Ehefrau in den Auswirkungen der Situation im Urteil 78630/12 entsprochen, weshalb die beiden Konstellationen gleichgesetzt werden könnten. Begründet hat die Vorinstanz dies insbesondere mit dem Eintritt eines Versorgerschadens durch den Wegfall des Erwerbseinkommens der verstorbenen Ehefrau, der den Beschwerdegegner (wie auch Herrn B.________) mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert habe. Um den finanziellen Bedürfnissen der Familie nachzukommen, habe der Beschwerdegegner sein Familienleben entsprechend anpassen müssen. Die Verneinung des Anspruchs auf eine Witwerrente habe sich somit auf die Organisation des Familienlebens des Beschwerdegegners ausgewirkt. Es sei daher auch hier von einer Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK auszugehen.  
Es erscheine sachgerecht, auch vorliegend zur Herstellung eines konventionskonformen Zustandes und im Hinblick auf eine einheitliche und rechtsgleiche Behandlung der Versicherten, die Übergangsregelung des BSV anzuwenden, nachdem vergleichbare Konstellationen gegeben seien. Gemäss der Übergangsregelung bestehe bei am 11. Oktober 2022 hängigen Einspracheverfahren betreffend Rentenaufhebungsverfügungen neu ein unbefristeter Anspruch auf eine Witwerrente. Dies gelte rechtsprechungsgemäss auch für das Beschwerdeverfahren, denn eine neue Praxis sei im Grundsatz sofort und überall anwendbar. Sie gelte nicht nur für künftige, sondern für alle im Zeitpunkt der Änderung noch hängige Fälle. Vorliegend sei das hiesige Beschwerdeverfahren am 21. [recte: 11.] Oktober 2022 noch hängig gewesen und der Einspracheentscheid vom 22. Juli 2021 zu diesem Zeitpunkt damit noch nicht rechtskräftig gewesen. Unter Berücksichtigung des Vorerwähnten sei dem Beschwerdegegner deshalb ab April 2020 eine Witwerrente zuzusprechen. 
 
4.2. Es ist - weder mit Blick auf die Erwägungen im angefochtenen Urteil noch auf die Vorbringen des Beschwerdegegners - ersichtlich, inwiefern die Konstellation beim Beschwerdegegner vergleichbar sein soll mit derjenigen, die dem Urteil 78630/12 zugrunde lag: Wie die Vorinstanz richtig erwogen hat (vorinstanzliche Erwägung 4.2. S. 6), geht es im Geltungsbereich von Art. 8 EMRK darum, dass die Rente das Familienleben fördern soll, indem sie es dem verwitweten Elternteil ermöglicht, sich voll und ganz um seine Kinder zu kümmern, wenn dies zuvor die Aufgabe des verstorbenen Elternteils war, oder sich in jedem Fall mehr um die Kinder kümmern zu können, ohne sich mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert zu sehen, die ihn zwingen würden, eine Berufstätigkeit auszuüben. Es wird eine direkte Verbindung zwischen der Leistungserbringung durch die Ausgleichskasse und der Förderung des Familienlebens verlangt. Die Massnahmen müssen eine Auswirkung auf die Organisation des Familienlebens haben (vgl. Urteil 78630/12 Rz. 66 ff. S. 21 ff.). Inwiefern die Situation des Beschwerdegegners diesbezüglich im Todeszeitpunkt seiner Ehefrau vergleichbar gewesen sein soll, mit derjenigen von Herrn B.________, erhellt nicht: Herr B.________ war im Zeitpunkt des Todes seiner Ehefrau rund 41 Jahre alt und hatte zwei Kleinkinder zu betreuen (vgl. Urteil 78630/12, Sachverhalt). Der Konnex zwischen der Auszahlung der Witwerrente und der Organisation des Familienlebens lag vor, weil die Witwerrente es dem damaligen Beschwerdeführer ermöglichte, seine Erwerbstätigkeit aufzugeben, um sich vollzeitlich der Kinderbetreuung zu widmen. Demgegenüber war der jüngste Sohn des hiesigen Beschwerdegegners im Zeitpunkt des Todes seiner Mutter 20 Jahre alt und befand sich in der Ausbildung zum Kaufmann mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis B-Profil. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern für den Beschwerdegegner eine Notwendigkeit bestanden haben soll, seine Erwerbstätigkeit zwecks Betreuung seines Sohnes zu reduzieren oder gar aufzugeben. Die Verweigerung der Witwerrente hatte damit entgegen der Vorinstanz keine Auswirkungen auf die Organisation des Familienlebens. Der Schutzbereich von Art. 8 EMRK ist nicht tangiert. Der Verweis des kantonalen Gerichts auf den Versorgerschaden (vorinstanzliche Erwägung 4.3. S. 7) zielt hier ins Leere. Sodann hatte Herr B.________ zuvor eine Witwerrente bezogen; Gegenstand des Urteils 78630/12 waren insbesondere die Auswirkungen des Wegfalls. Der Beschwerdegegner war dagegen gar nie in den Genuss einer Witwerrente gekommen.  
Im Weiteren ist ebenfalls nicht ersichtlich, inwiefern der Beschwerdegegner aufgrund der seitens des BSV eingeführten Übergangsregelung (E. 3.2.3 hiervor) Anspruch auf eine Witwerrente haben könnte. Auch in diesem Zusammenhang ist relevant, dass er zu keinem Zeitpunkt Bezüger einer Witwerrente war. Seine Kinder waren am 11. Oktober 2022 alle bereits volljährig, und er verwitwete vor dem 11. Oktober 2022. Die vorinstanzlichen Erwägungen verletzen Recht. Die Beschwerde ist begründet. 
 
5.  
 
5.1. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdegegner die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der obsiegenden Beschwerdeführerin steht keine Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 3 BGG).  
 
5.2. Was das vorangegangene Verfahren anbelangt, so ändert dieses Urteil nichts an dessen Kostenlosigkeit; die Sache ist aber zur Neuverlegung der Parteientschädigung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 67 und Art. 68 Abs. 5 BGG).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 16. Februar 2023 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid der Ausgleichskasse Arbeitgeber Basel vom 22. Juli 2021 bestätigt. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt zurückgewiesen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 10. Juni 2024 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Nünlist