8C_739/2023 21.05.2024
Avis important:
Les versions anciennes du navigateur Netscape affichent cette page sans éléments graphiques. La page conserve cependant sa fonctionnalité. Si vous utilisez fréquemment cette page, nous vous recommandons l'installation d'un navigateur plus récent.
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_739/2023  
 
 
Urteil vom 21. Mai 2024  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterin Viscione, Bundesrichter Métral, 
Gerichtsschreiber Wüest. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
handelnd durch ihre Eltern und diese vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Klein, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (vorinstanzliches Verfahren), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 28. September 2023 (VBE.2023.155). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die im Mai 2017 geborene A.________ wurde am 13. Oktober 2021 von ihren Eltern wegen eines Diabetes Typ 1 bei der Invalidenversicherung zum Bezug einer Hilflosenentschädigung angemeldet. Die IV-Stelle des Kantons Aargau veranlasste in der Folge eine Abklärung an Ort und Stelle (Abklärungsbericht vom 13. Juli 2022). Mit Verfügung vom 17. Februar 2023 lehnte sie einen Leistungsanspruch der Versicherten ab. 
 
B.  
Dagegen liess A.________ Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau erheben. Nachdem ihr die Vernehmlassung der IV-Stelle zur Kenntnisnahme zugestellt worden war, beantragte A.________ in ihrer Replik die Durchführung einer Instruktionsverhandlung mit Befragung ihrer Eltern und eventualiter einer öffentlichen Verhandlung im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Mit Urteil vom 28. September 2023 wies das Versicherungsgericht die Beschwerde - ohne Durchführung einer öffentlichen Verhandlung - ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, es seien das Urteil des Versicherungsgerichts vom 28. September 2023 sowie die Verfügung der IV-Stelle vom 17. Februar 2023 aufzuheben und es sei letztere anzuweisen, ihr auf den frühestmöglichen Zeitpunkt hin eine Hilflosenentschädigung auszurichten. Eventualiter sei die Sache zu weiteren Abklärungen an die IV-Stelle zurückzuweisen. Subeventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zur Durchführung einer Instruktionsverhandlung mit Befragung der Eltern, allenfalls zur Durchführung einer öffentlichen Verhandlung im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK, zurückzuweisen. 
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. 
 
2.  
Die Beschwerdeführerin rügt in formeller Hinsicht, der vorinstanzliche Verzicht auf eine öffentliche Verhandlung verstosse gegen Art. 6 Ziff. 1 EMRK
 
2.1. Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Die Öffentlichkeit des Verfahrens soll dazu beitragen, dass die Garantie auf ein "faires Verfahren" tatsächlich umgesetzt wird (BGE 142 I 188 E. 3.1.1 und 3.3). Das kantonale Gericht, welchem es primär obliegt, die Öffentlichkeit der Verhandlung zu gewährleisten (BGE 136 I 279 E. 1; 122 V 47 E. 3), hat bei Vorliegen eines klaren und unmissverständlichen Parteiantrags grundsätzlich eine öffentliche Verhandlung durchzuführen (BGE 136 I 279 E. 1; SVR 2014 UV Nr. 11 S. 37, 8C_273/2013 E. 1.2; je mit Hinweisen). Ein während des ordentlichen Schriftenwechsels gestellter Antrag gilt dabei als rechtzeitig (BGE 134 I 331 E. 2.3; SVR 2020 IV Nr. 55 S. 188, 8C_751/2019 E. 3.3 mit Hinweisen; vgl. zum Ganzen: SVR 2023 UV Nr. 18 S. 57, 8C_352/2022 E. 2.1 mit Hinweisen).  
 
2.2. Von einer ausdrücklich beantragten öffentlichen Verhandlung kann abgesehen werden, wenn der Antrag der Partei als schikanös erscheint oder auf eine Verzögerungstaktik schliessen lässt und damit dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit des Verfahrens zuwiderläuft oder sogar rechtsmissbräuchlich ist. Gleiches gilt, wenn sich ohne öffentliche Verhandlung mit hinreichender Zuverlässigkeit erkennen lässt, dass eine Beschwerde offensichtlich unbegründet oder unzulässig ist. Als weiteres Motiv für die Verweigerung einer beantragten öffentlichen Verhandlung fällt die hohe Technizität der zur Diskussion stehenden Materie in Betracht, was etwa auf rein rechnerische, versicherungsmathematische oder buchhalterische Probleme zutrifft, wogegen andere dem Sozialversicherungsrecht inhärente Fragestellungen materiell- oder verfahrensrechtlicher Natur wie die Würdigung medizinischer Gutachten in der Regel nicht darunterfallen. Schliesslich kann das kantonale Gericht von einer öffentlichen Verhandlung absehen, wenn es auch ohne eine solche aufgrund der Akten zum Schluss gelangt, dass dem materiellen Rechtsbegehren der die Verhandlung beantragenden Partei zu entsprechen ist (BGE 136 I 279 E. 1 mit Hinweis auf BGE 122 V 47 E. 3b/ee und 3b/ff.; vgl. zum Ganzen: SVR 2023 UV Nr. 18 S. 57, 8C_352/2022 E. 2.2 mit Hinweisen).  
 
3.  
 
3.1. Das kantonale Gericht begründete den Verzicht auf eine öffentliche Verhandlung damit, das Begehren sei erst am 28. April 2023 und damit nach abgeschlossenem Schriftenwechsel - mithin nicht rechtzeitig - gestellt worden.  
 
3.2. Die Beschwerdeführerin hielt in ihrer Beschwerde an das Versicherungsgericht fest, sie behalte sich das Recht vor, nach Vorlage der Beschwerdeantwort eine öffentliche Verhandlung nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK zu beantragen. Die Vorinstanz stellte dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin die Beschwerdeantwort der IV-Stelle am 21. April 2023 zur Kenntnisnahme zu. Mit Eingabe vom 28. April 2023 ersuchte die Beschwerdeführerin um Durchführung einer Instruktionsverhandlung und eventualiter einer öffentlichen Verhandlung im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK.  
 
3.3. Gemäss Art. 29 Abs. 1 und 2 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK (in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen sowie strafrechtliche Anklagen) haben die Parteien eines Gerichtsverfahrens Anspruch auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren, unter Beachtung des Grundsatzes der Waffengleichheit. Diese Garantien umfassen das Recht, von allen bei Gericht eingereichten Stellungnahmen Kenntnis zu erhalten und sich dazu äussern zu können. Dies gilt unabhängig davon, ob die Eingaben neue und/oder wesentliche Vorbringen enthalten. Es ist Sache der Parteien zu beurteilen, ob eine Entgegnung erforderlich ist oder nicht (Replikrecht; BGE 138 I 484 E. 2.1 mit Hinweisen). Zur Wahrung des Replikrechts genügt es, dass den Parteien die Eingaben zur Information (Kenntnisnahme, Orientierung) zugestellt werden, soweit von ihnen - namentlich von anwaltlich Vertretenen oder Rechtskundigen - erwartet werden kann, dass sie dazu unaufgefordert Stellung nehmen (vgl. BGE 138 I 484 E. 2.4; Urteil 1C_338/2020 vom 19. Januar 2021 E. 2.3). Ferner ist das Gericht nach einer Zustellung zur Kenntnisnahme gehalten, während einer angemessenen Zeitspanne mit dem Entscheid zuzuwarten. Welche Wartezeit ausreichend ist, hängt vom Einzelfall ab. Bejaht wird in aller Regel eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, wenn das Gericht "nur wenige Tage" nach der Mitteilung entscheidet (BGE 137 I 195 E. 2.6). In einer allgemeinen Formulierung hielt das Bundesgericht fest, dass jedenfalls vor Ablauf von zehn Tagen nicht, hingegen nach zwanzig Tagen sehr wohl von einem Verzicht auf das Replikrecht ausgegangen werden dürfe (Urteil 8C_309/2023 vom 13. November 2023 mit Hinweisen).  
 
3.4. Zwar kann von einem klaren und unmissverständlichen Antrag auf eine öffentliche Verhandlung im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht gesprochen werden, wenn ein entsprechender Antrag in der Beschwerdeschrift lediglich vorbehalten wird (vgl. SVR 2012 KV Nr. 9 S. 29, 9C_357/2011 E. 1.2). Vorliegend stellte die Beschwerdeführerin aber in ihrer wenige Tag nach Eingang der Vernehmlassung der IV-Stelle erstatteten Replik einen solchen unmissverständlichen Antrag. Entgegen der Sichtweise der Vorinstanz war dieser nicht verspätet. Im Urteil 9C_71/2021 vom 20. September 2021 hatte das Bundesgericht einen Fall zu entscheiden, in dem die Vorinstanz dem Beschwerdeführer die Beschwerdeantwort der Verwaltung mit dem Hinweis zustellte, sie erachte den Schriftenwechsel als abgeschlossen; allfällige Bemerkungen seien bis zu einem bestimmten Termin einzureichen. Der Beschwerdeführer beantragte innert dieser Frist die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung. Das Bundesgericht hielt fest, der Antrag sei im Rahmen des ihm gewährten Replikrechts während des ordentlichen Schriftenwechsels und somit rechtzeitig gestellt worden (E. 4.1 des zitierten Urteils). Im hier zu beurteilenden Fall wies das kantonale Gericht die Beschwerdeführerin zwar nicht auf ihr Replikrecht hin. Ein solches stand ihr aber zweifellos auch ohne entsprechenden Hinweis zu (vgl. E. 3.3 hiervor; vgl. auch Urteil 9C_680/2014 vom 15. Mai 2015 E. 2.2, wonach [erst] mit dem Verzicht auf das Replikrecht das Ende des ordentlichen Schriftenwechsels einhergeht). Für die Frage der Rechtzeitigkeit des Antrags auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung kann es nun aber keinen Unterschied machen, ob die Beschwerdeführerin auf ihr Replikrecht hingewiesen worden ist oder nicht. Entscheidend ist vorliegend einzig, dass die Beschwerdeführerin ihr Replikrecht umgehend wahrgenommen und dabei gleichzeitig - wie in ihrer Beschwerdeschrift angekündigt - um Durchführung einer öffentlichen Verhandlung ersuchte. Mithin ist von einer rechtzeitigen Antragstellung auszugehen.  
 
3.5. Andere Gründe, die einen Verzicht auf die (rechtzeitig) beantragte öffentliche Verhandlung hätten rechtfertigen können (vgl. E. 2.2 hiervor), nannte die Vorinstanz keine und sind auch nicht ersichtlich.  
 
4.  
Indem das kantonale Gericht von der beantragten öffentlichen Verhandlung abgesehen hat, wurde dieser in Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleisteten Verfahrensgarantie (vgl. auch Art. 30 Abs. 3 BV und Art. 61 lit. a ATSG) nicht Rechnung getragen. Da die Rüge einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör formeller Natur ist (BGE 144 IV 302 E. 3.1 mit Hinweisen), führt dies zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids und zur Rückweisung der Sache an die Vorinstanz, ohne dass die Angelegenheit vom Bundesgericht materiell geprüft wird (statt vieler: Urteile 8C_710/2022 vom 6. März 2023 E. 3.2; 9C_186/2022 vom 13. September 2022 E. 1.2; je mit Hinweisen). Auf die Rüge der unzulässigen antizipierten Beweiswürdigung ist daher nicht einzugehen. Die Vorinstanz wird nach Durchführung der verlangten öffentlichen Verhandlung über die Beschwerde materiell neu zu befinden haben (vgl. SVR 2023 UV Nr. 18 S. 57, 8C_352/2022 E. 3.5). Da sich die Beschwerdeführerin dabei auch zum Merkblatt des PD Dr. med. B.________ wird äussern können, braucht hier auch auf die von der Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang gerügte Gehörsverletzung nicht eingegangen zu werden. 
 
5.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat der Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 28. September 2023 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 21. Mai 2024 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Wüest