8C_766/2023 06.05.2024
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_766/2023  
 
 
Urteil vom 6. Mai 2024  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione, 
Gerichtsschreiber Grunder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Marco Unternährer, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Helsana Unfall AG, 
Recht & Compliance, Postfach, 8081 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (Integritätsentschädigung), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 5. November 2023 (5V 23 167). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1959 geborene A.________ war bei der B.________ AG als Mitarbeiter Kurierdienst angestellt und dadurch bei der Helsana Unfall AG (im Folgenden: Helsana) obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen versichert. Daneben war er als Goldschmied selbstständig erwerbstätig. Am 3. April 2019 prallte er mit seinem Fahrrad in das Heck eines Autos. Er zog sich eine mediale Schenkelhalsfraktur links sowie ein Flexions-Stauchungstrauma an der oberen Brustwirbelsäule (BWS) mit Berstungsfraktur des Brustwirbelkörpers (BWK) 3 mit relevanter ossärer Spinalkanaleinengung und Rotationskomponente zu. Diese Verletzungen wurden im Spital C.________ chirurgisch versorgt (vgl. Operations- und Austrittsberichte vom 5. und 10. April 2019). Nach dem Spitalaufenthalt trat A.________ am 13. April 2019 die stationäre Rehabilitation in der RehaClinic D.________ an. Wegen eines subakut raumfordernden und infizierten Hämatoms mit akuter lagerungsabhängiger temporärer Paraplegie wurde er am 26. April 2019 im Spital C.________ erneut operiert (Austrittsbericht vom 8. Mai 2019). Anschliessend setzte er die Rehabilitation im Zentrum für Rehabilitation E.________ fort. 
Die Helsana erbrachte die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung; Taggeld) und holte zur Klärung der weiteren Leistungsansprüche die auf orthopädischen, psychiatrischen, neurologischen und neuropsychologischen Untersuchungen beruhende Expertise der MEDAS Zentralschweiz, Interdisziplinäre medizinische Gutachterstelle, vom 28. Oktober 2021 ein. A.________ liess unter anderem den Bericht des behandelnden Dr. med. F.________, Spezialarzt für Neurologie, vom 31. August 2022 ins Verwaltungsverfahren einbringen. Die Helsana sprach ihm mit Verfügung vom 29. September 2022 eine Invalidenrente aufgrund eines Invaliditätsgrades von 50 % sowie eine Integritätsentschädigung auf Basis eines Integritätsschadens von 10 % zu. Der Versicherte erhob Einsprache, welche die Helsana mit Entscheid vom 12. Mai 2023 abwies. 
 
B.  
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit der A.________ den Bericht des Dr. med. F.________ vom 30. Mai 2023 auflegen liess, wies das Kantonsgericht Luzern mit Urteil vom 5. November 2023 ab. 
 
 
C.  
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten den Bericht des Dr. med. F.________ vom 23. November 2023 auflegen und beantragen, unter Aufhebung des kantonalen Urteils sei ihm eine Integritätsentschädigung aufgrund einer Integritätseinbusse von 45 % zuzusprechen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur zusätzlichen neurologischen, psychiatrischen und neuropsychologischen Begutachtung an die Helsana zurückzuweisen. Zudem beantragt er, ihm seien sämtliche Kosten, die durch die zusätzlichen Abklärungen bei Dr. med. F.________ entstanden seien, zu erstatten. 
Die Helsana schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).  
 
1.2. Der Bericht des Dr. med. F.________ vom 23. November 2023 stellt, entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers, klar ein unzulässiges neues Beweismittel im Sinn von Art. 99 Abs. 1 BGG dar (BGE 148 I 160 E. 1.7; Urteil 8C_107/2024 vom 1. März 2024 E. 1). Dieses Dokument ist daher bei der Beurteilung der Streitsache ausser Acht zu lassen.  
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist in erster Linie, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie - der Beschwerdegegnerin folgend - den Integritätsschaden des Beschwerdeführers auf 10 % festsetzte.  
 
2.2. Die Vorinstanz hat die rechtlichen Grundlagen über den Anspruch auf Integritätsentschädigung (Art. 24 Abs. 1, Art. 25 Abs. 1 UVG; Art. 36 UVV; BGE 124 V 29) und die Rechtsprechung zum Beweiswert von Arztberichten (BGE 135 V 465 E. 4.4, 134 V 231 E. 5.1, 125 V 351 E. 3a) richtig dargelegt. Gleiches gilt zur Praxis, wonach die Suva-Tabellen zur "Integritätsentschädigung gemäss UVG" für das Gericht nicht verbindlich sind; soweit sie jedoch lediglich Richtwerte enthalten, mit denen die Gleichbehandlung aller Versicherten gewährleistet werden soll, sind sie mit dem Anhang 3 zur UVV vereinbar (BGE 124 V 29 E. 1c; Urteil 8C_734/2019 vom 23. Dezember 2019 E. 2 mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.  
 
3.  
 
3.1.  
 
3.1.1. Das kantonale Gericht erwog, die polydisziplinäre Expertise der MEDAS Zentralschweiz vom 28. Oktober 2021 sei voll beweiskräftig. Der psychiatrische Sachverständige verneine eine dauernde erhebliche Schädigung der geistigen und psychischen Integrität. Auch aus neurologischer Sicht liege kein Integritätsschaden vor. Laut der ergänzenden Stellungnahme des orthopädischen Gutachters vom 1. Juni 2022 sei die Integritätseinbusse aufgrund der Wirbelsäulenverletzung auf 10 % einzuschätzen. Er habe im Teilgutachten angegeben, der Beschwerdeführer übe die Tätigkeit als Kurierfahrer mit einem Pensum von 50 % wieder vollumfänglich aus. Im Bereich der oberen Extremität und der oberen Wirbelsäule (BWS) bestehe eine erhebliche Einschränkung, so dass freihändige Arbeiten und Überkopfarbeiten schon nach kurzer Zeit zu brennenden Schmerzen führten. Dadurch ergebe sich eine Einschränkung der Feinmotorik, die als Goldschmied jedoch unabdingbar sei. Aus diesem Grund sei die Arbeitsfähigkeit in diesem Beruf erheblich eingeschränkt.  
 
3.1.2. Sodann hielt die Vorinstanz fest, die ins Verwaltungsverfahren eingebrachte Beurteilung des Dr. med. F.________ vom 31. August 2022 genüge den Anforderungen der Rechtsprechung an eine beweiskräftige Entscheidgrundlage offenkundig nicht. Auf seine additive Einschätzung der Integritätseinbusse von 45 % könne daher nicht abgestellt werden.  
 
3.1.3. Weiter erwog das kantonale Gericht, auch die "Replik" des Dr. med. F.________ vom 30. Mai 2023 vermöge keine begründeten Zweifel an der gutachterlichen Einschätzung des Integritätsschadens zu wecken. Entgegen dessen Auffassung sei das neurologische Teilgutachten nicht in sich widersprüchlich. Es sei unerheblich, dass der Sachverständige die Kopfschmerzen als "am ehesten" zervikogen als Folge der muskulären Verspannung im Bereich der oberen BWS und HWS, somit eigentlich als posttraumatisch bezeichnet habe. Massgebend sei vielmehr, dass er diesen Schmerzen - bei nicht ausgewiesener Hirnverletzung - nicht eine derartige Bedeutung zugemessen habe, um daraus auf eine dauernde und erhebliche Beeinträchtigung im Sinn eines Integritätsschadens zu schliessen. Denn die Kopfschmerzen träten circa einmal pro Woche auf, zögen vom Nacken in den Hinterkopf, dauerten maximal ein paar Stunden und müssten nicht medikamentös behandelt werden.  
Sodann nehme der neurologische Sachverständige, so die Vorinstanz weiter, entgegen den Darlegungen des Dr. med. F.________, Stellung zu den geltend gemachten neuropsychologischen Einschränkungen. Er bezeichne diese - bei fehlender Hirnverletzung - als unspezifisch (mithin nicht neurologisch bedingt) und am ehesten reaktiv (im Rahmen der psychiatrischen Befunde). Auch im psychiatrischen Teilgutachten würden die unplausiblen neuropsychologischen Testergebnisse in die Beurteilung einbezogen und gewürdigt. Die nicht validen Resultate könnten nicht auf psychiatrische Ursachen zurückgeführt werden. 
Die Vorinstanz fuhr fort, der neurologische Experte beschreibe einen unauffälligen Stand und Normalgang. Einzig beim Strich-, Fersen- und Zehengang hätten sich ungerichtete Unsicherheiten ergeben, die nicht in einer neurologischen Ursache gründeten. 
Dr. med. F.________ diagnostiziere, so das kantonale Gericht weiter, zwar eine posttraumatische Belastungsstörung, er setze sich indessen mit keinem Wort mit der gegenteiligen Auffassung des neurologischen Sachverständigen auseinander. Zudem nehme er nicht Stellung zu der für das Vorliegen eines psychischen Integritätsschadens vorausgesetzten aussergewöhnlichen Schwere des Unfallereignisses. Im Übrigen sei Dr. med. F.________ kein psychiatrischer Facharzt. 
 
3.1.4. Abschliessend hielt das kantonale Gericht fest, der orthopädische Sachverständige habe den Integritätsschaden anhand der Suva-Tabellen 7 (Wirbelsäulenaffektionen) und 2 (Funktionsstörungen an den unteren Extremitäten) eingeschätzt. Der Beschwerdeführer sei nach dem Flexions-Stauchungstrauma der oberen BWS mit Berstungsfraktur des BWK 3 aktuell nie mehr ganz schmerzfrei. Auf einer Skala von 1 - 10 seien diese Schmerzen bei 5 einzustufen. Zudem sei der Beschwerdeführer in seinen Alltagsaktivitäten eingeschränkt, freihändiges Arbeiten gehe nicht mehr, da sofort brennende Schmerzen und Kopfschmerzen aufträten. Ebenso seien Verrichtungen über Kopf nicht mehr möglich. Zusammenfassend liege ein Integritätsschaden von 10 % vor.  
 
3.2.  
 
3.2.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Sachverständigen der MEDAS hätten den Umstand, dass die operative Behandlung der Fraktur an der BWS eine Rückenmarksblutung mit zusätzlichen Konsequenzen nach sich gezogen habe, absolut unvollständig untersucht und beurteilt. Der neurologische Gutachter habe keine periphere Elektroneurografie veranlasst, die jedoch bei einer derart zentral nervösen Läsion zwingend hätte vorgenommen werden müssen. Dr. med. F.________ habe einen elektroneurografisch objektiverbaren Befund für eine Leitungsstörung im Bereich des Rückenmarks festgestellt. Unverständlicherweise sei das kantonale Gericht auf diesen gewichtigen Aspekt nicht eingegangen.  
 
3.2.2. Dieses Vorbringen ist nicht stichhaltig. Die Vorinstanz hielt dazu fest, es sei unklar, was Dr. med. F.________ aus den Ergebnissen seiner polyneurografischen Testungen ableiten wolle. Denn zum einen beruhe der von den Sachverständigen der MEDAS diagnostizierte Verdacht auf eine Polyneuropathie auf lege artis erhobenen Befunden. Zum anderen sei nicht erkennbar, was der Umstand, dass Dr. med. F.________ diese Diagnose gerade nicht zu bestätigen vermocht habe, an der Beurteilung der Experten, es liege aus neurologischer Sicht kein Integritätsschaden vor, ändern sollte. Diesbezüglich bringe der Beschwerdeführer denn auch nichts vor.  
 
3.2.3. Mit Bezug auf die übrigen Rügen ist festzustellen, dass die Beschwerdeschrift den Anforderungen von Art. 42 Abs. 1 Satz 1 BGG nicht genügt, wonach in gedrängter Form dazulegen ist, inwiefern das angefochtene Urteil Recht verletzt. Der Beschwerdeführer begnügt sich im Wesentlichen damit, den zur Beurteilung der Streitsache nicht zu berücksichtigenden Bericht des Dr. med. F.________ vom 23. November 2023 Wort für Wort zu wiederholen. Auf die Beschwerde ist daher nicht näher einzugehen. Nur am Rande sei bemerkt, dass der Beschwerdeführer insbesondere nicht aufzeigt, inwieweit das Unfallereignis vom 3. April 2019 aus psychiatrischer Sicht von aussergewöhnlicher Schwere gewesen sei, sodass deswegen allenfalls eine posttraumatische Belastungsstörung angenommen werden könnte (vgl. BGE 124 V 29 E. 5c/bb und 6c; vgl. auch Tabelle 19 zur Bemessung der Integritätsentschädigung der Suva bei psychischen Folgen von Unfällen). Es mag zutreffen, dass Dr. med. F.________ in Deutschland auch in Psychiatrie fachärztlich ausgebildet worden war. Indessen äusserte er sich zu diesem entscheidwesentlichen Punkt nicht. Insgesamt ist nicht ersichtlich, inwieweit divergierende medizinische Fragen zu klären sind. Die Beschwerde ist hinsichtlich der Bemessung des Integritätsschadens abzuweisen.  
 
4.  
 
4.1. Zu prüfen ist schliesslich das Rechtsbegehren des Beschwerdeführers, die Kosten der Abklärungen des Dr. med. F.________ seien der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen. Die Vorinstanz erwog hiezu, gemäss Art. 45 Abs. 1 ATSG habe der Versicherungsträger die Kosten von Abklärungen zu übernehmen, wenn diese für die Beurteilung des Anspruchs unerlässlich gewesen sind oder Bestandteil nachträglich zugesprochener Leistungen gebildet haben. Die Auskünfte des Dr. med. F.________ beruhten im Wesentlichen auf den Angaben des Beschwerdeführers und nicht auf objektiv erhärteten Annahmen. Sie seien für die Begründung der Streitsache nicht entscheidwesentlich gewesen. Damit seien die Voraussetzungen, um die Kosten der vom Beschwerdeführer veranlassten Abklärungen der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen, nicht gegeben.  
 
4.2. Der Beschwerdeführer legt nicht dar, inwieweit diese vorinstanzlichen Erwägungen bundesrechtswidrig sein sollen. Dies ist auch nicht ersichtlich, weshalb sich die Beschwerde auch in diesem Punkt als unbegründet erweist.  
 
5.  
Der Beschwerdeführer hat als unterliegende Partei die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 6. Mai 2024 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Grunder