1C_367/2023 28.07.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1C_367/2023  
 
 
Urteil vom 28. Juli 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Chaix, Merz, 
Gerichtsschreiberin Gerber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Bundesanwaltschaft, 
Guisanplatz 1, 3003 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Internationale Rechtshilfe in Strafsachen an das Fürstentum Liechtenstein; Herausgabe von Beweismitteln; unentgeltliche Rechtspflege, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Bundesstrafgerichts, Beschwerdekammer, vom 5. Juli 2023 (RR.2022.174). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Das Fürstliche Landgericht führt unter der Verfahrensnummer 11 UR.2021.193 strafrechtliche Vorerhebungen gegen die liechtensteinischen Staatsangehörigen B.________ und C.________ sowie gegen die in der Schweiz wohnhafte schweizerische Staatsangehörige A.________, unter anderem wegen des Verdachts der Untreue und der Geldwäscherei bzw. der Beihilfe dazu. 
In diesem Zusammenhang ersuchten die liechtensteinischen Behörden die Schweiz mit Rechtshilfeersuchen vom 26. Juli 2021 um die Durchführung einer Hausdurchsuchung, die Herausgabe von Bankunterlagen, den Erlass eines Verfügungsverbots und die Vernehmung von A.________ als Verdächtige. 
Das Bundesamt für Justiz delegierte am 2. August 2021 den Vollzug des Rechtshilfeersuchens an die Bundesanwaltschaft. Diese trat am 25. August 2021 auf das Rechtshilfeersuchen ein und ordnete gleichentags die entsprechenden Vollzugsmassnahmen an. Mit drei Schlussverfügungen vom 10. August 2022 ordnete sie die rechtshilfeweise Herausgabe der anlässlich der Hausdurchsuchung vom 30. September 2021 sichergestellten Daten, der Bankunterlagen sowie des Protokolls der Einvernahme vom 30. September 2021 an. 
 
B.  
Gegen alle drei Schlussverfügungen gelangte A.________ am 16. September 2022 mit Beschwerde an das Bundesstrafgericht. Dieses wies die Beschwerde am 5. Juli 2023 ab. 
 
C.  
Dagegen hat A.________ am 24. Juli 2023 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht erhoben. Sie beantragt, der angefochtene Entscheid sowie alle drei Schlussverfügungen der Bundesanwaltschaft vom 10. August 2022 seien aufzuheben; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Bundesanwaltschaft oder an die Vorinstanz zurückzuweisen. Überdies beantragt sie, ihr sei die unentgeltliche Rechtshilfe zu gewähren. 
 
D.  
Es wurden keine Vernehmlassungen eingeholt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein Endentscheid des Bundesstrafgerichts auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, d.h. einer öffentlich-rechtlichen Angelegenheit (Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. b, Art. 90 BGG). Dagegen ist die Beschwerde nur zulässig, wenn der Entscheid eine Auslieferung, eine Beschlagnahme, eine Herausgabe von Gegenständen oder Vermögenswerten oder eine Übermittlung von Informationen aus dem Geheimbereich betrifft und es sich um einen besonders bedeutenden Fall handelt (Art. 84 Abs. 1 BGG). 
 
1.1. Angefochten ist u.a. die Übermittlung von Bankunterlagen sowie von Daten, die auf dem Mobiltelefon und dem Laptop der Beschwerdeführerin gespeichert waren, die anlässlich der Hausdurchsuchung sichergestellt wurden. Dabei handelt es sich um Informationen aus dem Geheimbereich i.S.v. Art. 84 Abs. 1 BGG. Ob dies auch für das Einvernahmeprotokoll zutrifft, kann im Lichte der nachfolgenden Erwägungen offenbleiben.  
 
1.2. Ein besonders bedeutender Fall liegt nach Art. 84 Abs. 2 BGG "insbesondere" vor, wenn Gründe für die Annahme bestehen, dass elementare Verfahrensgrundsätze verletzt worden sind oder das Verfahren im Ausland schwere Mängel aufweist. Das Gesetz enthält eine nicht abschliessende, nur beispielhafte Aufzählung von möglichen besonders bedeutenden Fällen. Darunter fallen nicht nur Beschwerdesachen, die Rechtsfragen von grundsätzlicher Tragweite aufwerfen, sondern auch solche, die aus anderen Gründen besonders bedeutsam sind (BGE 145 IV 99 E. 1.1 mit Hinweisen).  
Art. 84 BGG bezweckt die wirksame Begrenzung des Zugangs zum Bundesgericht im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. Bei der Beantwortung der Frage, ob ein besonders bedeutender Fall gegeben ist, steht dem Bundesgericht ein weiter Ermessensspielraum zu. Gerade im Bereich der sogenannten "kleinen" (akzessorischen) Rechtshilfe kann ein besonders bedeutender Fall nur ausnahmsweise angenommen werden (BGE 145 IV 99 E. 1.2 mit Hinweisen). 
 
1.3. Die besondere Bedeutung des Falles ist in der Beschwerdeschrift darzulegen; hierfür gilt eine qualifizierte Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 2 Satz 2 BGG; MARC FORSTER, in: Basler Kommentar zum BGG, 3. Aufl., 2018, Art. 84 N. 33). Vorliegend kommt die Beschwerdeführerin dieser Obliegenheit nicht nach:  
In Ziff. I. ("Formelles") beschränkt sie sich auf die Wiedergabe der in Art. 84 Abs. 2 BGG genannten Voraussetzungen für einen besonders bedeutenden Fall, ohne konkret aufzuzeigen, inwiefern elementare Verfahrensgrundsätze verletzt worden seien oder das Verfahren im Ausland schwere Mängel aufweise. 
Zwar erhebt sie anschliessend (unter II. "Materielles") verschiedene Vorwürfe gegen die liechtensteinischen Behörden (u.a. Verletzung des Grundsatzes "ne bis in idem"; unterlassene Information über die Wiederaufnahme des Verfahrens, ungenügender Rechtsschutz); der Bundesanwaltschaft wirft sie vor, unter Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes keine Abklärungen dazu vorgenommen zu haben. Sie begründet jedoch nicht näher, weshalb diese Vorwürfe einen besonders bedeutenden Fall i.S.v. Art. 84 Abs. 2 BGG begründen sollen. Es ist nicht Aufgabe des Bundesgerichts, die Beschwerde nach möglichen Motiven für die Annahme eines besonders bedeutenden Falles zu durchsuchen, sondern dies muss gemäss Art. 42 Abs. 2 BGG von der beschwerdeführenden Person dargelegt werden. 
 
1.4. Selbst wenn man jedoch davon ausgeht, dass eine Verletzung elementarer Verfahrensgrundsätze im ausländischen Verfahren geltend gemacht wird, nämlich des Grundsatzes "ne bis in idem" gemäss Art. 4 Abs. 1 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK [SR 0.101.07] und der Garantie einer wirksamen Beschwerdemöglichkeit gemäss Art. 13 EMRK, genügt dies nicht, um einen besonders bedeutenden Fall zu begründen. Vielmehr bedürfte es konkreter Anhaltspunkte für eine derartige Verletzung (vgl. BGE 145 IV 99 E. 1.4; 133 IV 125 E. 1.4 S. 129; je mit Hinweisen). Daran fehlt es vorliegend.  
 
1.4.1. Die Beschwerdeführerin beruft sich auf die Einstellung der gegen sie gerichteten Vorerhebungen mit Beschluss der Liechtensteinischen Staatsanwaltschaft vom 27. Mai 2020 und macht geltend, die Fortsetzung des Strafverfahrens (ohne förmliche Wiederaufnahme) verletze das Verbot der doppelten Strafverfolgung. Dagegen stehe ihr nach liechtensteinischem Recht keine wirksame Beschwerdemöglichkeit zu, weil die Verletzung des Grundsatzes "ne bis in idem" erst gegen den Endentscheid im zweiten strafrechtlichen Verfahren erhoben werden könne.  
 
1.4.2. Gemäss Art. 4 ZP 7 EMRK darf niemand wegen einer Straftat, wegen der er oder sie bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden (Abs. 1). Nicht ausgeschlossen ist die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsache vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist (Abs. 2).  
Grundsätzlich ist es Sache der Gerichte des ersuchenden Staates zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen eine frühere Verfahrenseinstellung zu einem Strafklageverbrauch führt, bzw. unter welchen (formellen und materiellen) Voraussetzungen ein eingestelltes Strafverfahren wieder aufgegriffen werden kann. Die Rechtshilfe wird nur verweigert, wenn der Strafanspruch im ersuchenden Staat eindeutig nicht mehr ausgeübt werden kann (Urteil 1A.56/2000 vom 17. April 2000 E. 5c mit Hinweisen). Dies ist bei Verfahrenseinstellungen, die aus Gründen der Opportunität oder aus Mangel an Beweisen erfolgen, nicht der Fall, weshalb diese praxisgemäss kein Rechtshilfehindernis darstellen (BGE 110 Ib 385 E. 2b; Urteile 1A.282/2005 vom 30. April 2007 E. 3.3, in: RtiD 2007 II 105; 1A.30/2003 vom 25. Februar 2003, E. 5; ROBERT ZIMMERMANN, La coopération judiciaire internationale en matière pénale, 5. Aufl., 2019, Rz. 663 S. 719/720, mit weiteren Nachweisen). Dass die Verfahrenseinstellung vorliegend aus anderen (materiell-rechtlichen) Gründen erfolgt sei, wird von der Beschwerdeführerin nicht geltend gemacht. 
 
1.4.3. Diese reicht vor Bundesgericht mehrere liechtensteinische Gerichtsentscheide ein, welche den Antrag der Mitbeschuldigten B.________ auf Einstellung der strafrechtlichen Vorerhebungen im Verfahren 11 UR.2021.193 (das dem vorliegenden Rechtshilfeersuchen zugrunde liegt) wegen Verletzung des Grundsatzes "ne bis in idem" materiell behandeln. Der Antrag wurde vom Obersten Gerichtshof (als dritter gerichtlicher Instanz) abgewiesen, weil der geltend gemachte Einstellungsbeschluss lediglich polizeiliche Vorerhebungen und noch kein Strafverfahren betroffen habe; dies stehe der formlosen Fortsetzung bzw. der Einleitung eines Strafverfahrens gemäss § 281 Abs. 1 der liechtensteinischen Strafprozessordnung vom 18. Oktober 1988 (StPO/FL) nicht entgegen und stelle keine endgültige Entscheidung i.S.v. Art. 4 ZP 7 EMRK dar (mit Hinweis auf den Entscheid des EGMR Müller gegen Österreich vom 18. September 2008, Nr. 28034/04, §§ 33-35).  
Damit ist erstellt, dass Beschuldigte nach liechtensteinischem Recht sehr wohl die Möglichkeit haben, sich mit Rechtsmitteln gegen die formlose Fortsetzung oder Wiederaufnahme eines zuvor eingestellten Verfahrens zur Wehr zu setzen, und zwar nicht erst nach Abschluss des zweiten Strafverfahrens. Weshalb dies für die Beschwerdeführerin nicht gelten sollte, ist weder dargelegt noch ersichtlich. 
Zwar ist der Staatsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein als Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 29. August 2022 auf die Individualbeschwerde gegen den Beschluss des Obersten Gerichtshofs nicht eingetreten, weil es am Eintretenserfordernis der "Enderledigung" fehle. Dies bedeutet indessen nur, dass keine vierte gerichtliche Instanz angerufen werden kann, nicht aber, dass insgesamt keine wirksame Beschwerdemöglichkeit bestünde. 
 
2.  
Nach dem Gesagten ist auf die Beschwerde nicht einzutreten. 
Da die Beschwerde aussichtlos erscheint, ist der Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG) und sind der Beschwerdeführerin die Gerichtsgebühren aufzuerlegen (Art. 66 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesstrafgericht, Beschwerdekammer, und dem Bundesamt für Justiz, Fachbereich Rechtshilfe, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 28. Juli 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Die Gerichtsschreiberin: Gerber