9C_379/2022 23.08.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_379/2022  
 
 
Urteil vom 23. August 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, Bundesrichter Beusch, 
Gerichtsschreiber Traub. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Rémy Wyssmann, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Solothurn, 
Allmendweg 6, 4528 Zuchwil, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 14. Juli 2022 (VSBES.2021.100). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ (geb. 1992), ehemals Bauspenglerin, wurde wegen Rückenbeschwerden in der Zeit von Februar 2014 bis Juli 2017 zur Hochbauzeichnerin EFZ umgeschult. Nach erfolgreichem Abschluss dieser Ausbildung hielt die IV-Stelle des Kantons Solothurn mit Verfügung vom 15. Dezember 2017 fest, es bestehe kein Anspruch auf weitere Leistungen der Invalidenversicherung (berufliche Massnahmen, Invalidenrente). 
Am 30. April 2019 erlitt A.________ einen Unfall. Im Hinblick auf dessen gesundheitliche Folgen meldete sie sich erneut zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle holte bei der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) SMAB AG, St. Gallen, ein interdisziplinäres Gutachten (Fachrichtungen Neurologie, Orthopädie, Psychiatrie und Innere Medizin) ein (Expertise vom 23. Februar 2021). Mit Verfügung vom 25. Mai 2021 lehnte die IV-Stelle den Leistungsanspruch ab. Kurz zuvor, am 8. April 2021, hatte die Versicherte einen erneuten Unfall erlitten. 
 
B.  
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wies die gegen die Verfügung vom 25. Mai 2021 erhobene Beschwerde ab, sprach keine Parteientschädigung zu und belegte die Beschwerdeführerin mit Verfahrenskosten von Fr. 1'000.-. Zudem überwies es die Akten an die IV-Stelle, damit diese "im Zusammenhang mit dem Unfallereignis vom 8. April 2022 [richtig: 8. April 2021] weitere Abklärungen tätigt" (Urteil vom 14. Juli 2022). 
 
C.  
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben, die Sache "zur Gutheissung der kantonalen Beschwerde", zur Zusprache einer Parteientschädigung für das kantonale Beschwerdeverfahren und zur Verlegung der Verfahrenskosten zu Lasten der IV-Stelle an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese sei zudem anzuweisen, die Sache an die Verwaltung zurückzuweisen, damit diese den Gesundheitszustand der Versicherten erneut abkläre und anschliessend über den Renten- und Eingliederungsanspruch neu entscheide. Eventuell sei die Sache zur ergänzenden Sachverhaltsabklärung und neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerdeführerin wendet sich nicht gegen die inhaltlichen Befunde des interdisziplinären Gutachtens vom 23. Februar 2021, gestützt auf welche - vom angefochtenen Entscheid bestätigt - die IV-Stelle einen Anspruch auf Rente sowie auf berufliche Massnahmen im Nachgang zum Unfall vom 30. April 2019 verneint hat. Die Beschwerde bezieht sich auf verschiedene verfahrensbezogene Aspekte. 
 
2.  
 
2.1. Im kantonalen Beschwerdeverfahren rügte die Beschwerdeführerin, die IV-Stelle verletze das bei der Vergabe von polydisziplinären Gutachten geltende Zufallsprinzip (Art. 72bis Abs. 2 IVV; BGE 137 V 210) und damit ihren Anspruch auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Das Zufallsprinzip werde unterlaufen, unter anderem weil die MEDAS für die Administrativbegutachtung vier Sachverständige vorgesehen habe, die für drei weitere Gutachterstellen tätig seien.  
Die Vorinstanz hält dazu fest, die Verwaltung habe die bei der Vergabe von Aufträgen geltenden Verfahrensbestimmungen (vgl. Art. 44 ATSG; Kreisschreiben des Bundesamtes für Sozialversicherungen [BSV] über das Verfahren in der Invalidenversicherung [KSVI]) eingehalten. Die Beschwerdeführerin habe es unterlassen, die Ausstandsgründe rechtzeitig vorzubringen resp. die Überschneidungen in der personellen Besetzung fristgemäss vor der Begutachtung zu beanstanden. Das Recht auf Anrufung der betreffenden Verfahrensgarantien sei somit verwirkt. Daran ändere nichts, dass die Beschwerdeführerin erst nach erfolgter Begutachtung anwaltlich vertreten gewesen sei. Auf die Rüge sei nicht einzutreten. 
 
2.2. Die Beschwerdeführerin gibt erneut zu bedenken, dass sie vor der Begutachtung anwaltlich nicht vertreten gewesen sei. Sie selbst sei juristischer Laie und die rechtliche Tragweite der Zusammensetzung der Gutachter sei ihr nicht bekannt gewesen. Ausserdem gehe es hier nicht um ein personenbezogenes Ausstandsbegehren im Sinn von Art. 36 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 44 Abs. 2 ATSG, sondern um eine strukturell mangelhafte Besetzung der Sachverständigen. Damit würden Korrektive missachtet, die für prozessuale Chancengleichheit ("Waffengleichheit") zwischen versicherter Person und Versicherungsträger sorgen sollten. Dies müsse auch noch im Beschwerdeverfahren gerügt werden können. Die Rüge sei nicht verspätet.  
 
2.3. Wesentlicher Sinn und Zweck einer Vergabe der MEDAS-Begutachtungsaufträge nach dem Zufallsprinzip (BGE 137 V 210 E. 3.1) ist es, Faktoren zu neutralisieren, die die gutachterliche Beurteilung in Einzelfällen sachfremd beeinflussen könnten. Die mit dem beanstandeten Vorgehen (vier nominierte Sachverständige, die gleichzeitig für drei weitere Gutachterstellen tätig sind) verbundene höhere Wahrscheinlichkeit, auf bestimmte Sachverständige zu treffen, wahrt den Anspruch, dass die gutachterliche Beurteilung frei von wirtschaftlichen Abhängigkeiten erfolgen soll. Die hier praktizierte Einsetzung der Gutachter durch die beauftragte MEDAS macht das Zufallsprinzip nicht wirkungslos. Sollten die gerügten personellen Überschneidungen aus anderen Gründen problematisch sein, wäre dies aufsichtsrechtlich anzugehen.  
Weil die Rüge mithin in der Sache unbegründet ist, kann die Frage, ob sie verspätet geltend gemacht wurde und deswegen verwirkt ist, offen bleiben. 
 
3.  
Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz habe die gerichtliche Untersuchungspflicht nach Art. 61 lit. c ATSG verletzt. Das kantonale Gericht habe die Beschwerde zwar abgewiesen, aber die Sache mit Blick auf die Folgen eines neuen Unfalls vom 8. April 2021 gleichwohl zur Abklärung an die IV-Stelle zurückgewiesen. Dabei habe es erwogen, dieser Unfall habe sich noch vor der strittigen Verfügung vom 25. Mai 2021 ereignet, sei indes aufgrund des noch nicht abgelaufenen Wartejahrs (vgl. Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG) noch nicht zu berücksichtigen. Das Sachgericht müsse alle relevanten medizinischen und sonstigen Tatsachen mit Auswirkung auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit berücksichtigen, die sich im massgeblichen Beurteilungszeitraum ereignet hätten. Die Vorinstanz habe den Beginn des Wartejahrs zur zeitlichen Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis erklärt. Dieser Zeitpunkt habe bis zum angefochtenen Urteil mangels vollständiger Abklärung der medizinischen Faktenlage noch gar nicht bestimmt werden können; namentlich seien die einschlägigen Akten der Suva nicht beigezogen worden. 
Die Vorinstanz hat den praxisgemäss mit Datum der strittigen Verfügung abzuschliessenden Beurteilungszeitraum (BGE 144 V 210 E. 4.3.1) nicht modifiziert. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern die Entwicklung des Sachverhalts vom Unfalldatum (8. April 2021) bis zum 25. Mai 2021 bereits Grundlage für allfällige Leistungsansprüche sein könnte. Dementsprechend gab es für die Vorinstanz im Rahmen des aktuellen Verfahrens diesbezüglich auch nichts Weiteres abzuklären. Die Pflicht zur vollständigen Abklärung des Sachverhalts bezieht sich auf die im aktuellen Verfahren festzulegenden Rechtsfolgen. Die Vorinstanz hat, wie von der IV-Stelle beantragt, das Dossier zur weiteren Bearbeitung (unter Einschluss der Suva-Akten) richtigerweise an die Verwaltung überwiesen. Dies ermöglicht eine umfassende Abklärung des Sachverhalts und der möglichen Leistungsansprüche nach dem Unfall vom 8. April 2021 in einem neuen Verfahren. Der Untersuchungsgrundsatz ist nicht verletzt. 
 
4.  
 
4.1. Wie erwähnt, überwies die Vorinstanz die Akten an die IV-Stelle, damit sie bezüglich des Unfallereignisses vom 8. April 2021 die mit Stellungnahme vom 11. Januar 2022 in Aussicht gestellten weiteren Abklärungen tätige.  
Ausgehend davon rügt die Beschwerdeführerin die Auferlegung von Gerichtskosten und die Verweigerung einer Parteientschädigung als bundesrechtswidrig. Der vorinstanzliche Kostenentscheid verletze Art. 61 lit. g ATSG, Art. 69 Abs. 1bis IVG und die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Verlegung der Verfahrenskosten und der Parteientschädigungen, namentlich den Grundsatz, wonach eine Rückweisung für ergänzende Abklärungen, wie im angefochtenen Urteil (E. 8.2) verfügt, als vollständiges Obsiegen gelte. Ihre Rechtsstellung werde verbessert, weil die IV-Stelle neu abklären müsse. Dies sei bei den Kostenfolgen entsprechend zu berücksichtigen. 
 
4.2. Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zur weiteren Abklärung und Entscheidung (mit noch offenem Ausgang) gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen, unabhängig davon, ob sie beantragt oder ob das Begehren im Haupt- oder Eventualantrag gestellt wird (BGE 137 V 210 E. 7.1). Dieser Grundsatz gilt ausdrücklich auch für das kantonale Beschwerdeverfahren (BGE 137 V 57 E. 2.1; Urteil 8C_304/2018 vom 6. Juli 2018 E. 4.3.1).  
Vorausgesetzt ist jedoch, dass sich diese Rückweisung im Rahmen des in der strittigen Verfügung behandelten und gerichtlich überprüften Gegenstands hält. Bezugnehmend auf ein während des Beschwerdeverfahrens gemeldetes neues Unfallereignis vom 8. April 2021 erwägt die Vorinstanz, im aktuellen Verfahren seien ausschliesslich bis zum Erlass der strittigen Verfügung vom 25. Mai 2021 eingetretene Sachverhalte zu berücksichtigen (vgl. oben E. 3). Allein gestützt auf die bisher vorliegenden medizinischen Berichte könne nicht entschieden werden, ob durch den Unfall vom 8. April 2021 eine relevante Verschlechterung des Gesundheitszustands mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit eingetreten sei. Im zu beurteilenden Zeitraum bis zur angefochtenen Verfügung vom 25. Mai 2021 könne jedenfalls noch kein Rentenanspruch entstanden sein. Auch ein Anspruch auf berufliche Massnahmen habe in der kurzen Zeit noch nicht entstehen können; für eine erneute Umschulung beispielsweise müsste sich der Gesundheitszustand erst einmal stabilisiert haben. Demzufolge sei der Anspruch auf eine Invalidenrente und auf berufliche Massnahmen für den zu beurteilenden Zeitraum (bis 25. Mai 2021) abzuweisen (angefochtenes Urteil E. 8.1). 
Diese Ausführungen der Vorinstanz beziehen sich auf einen neuen Sachverhalt (Unfall vom 8. April 2021), dessen Auswirkungen auf allfällige Leistungsansprüche in einem neuen Verfahren zu beurteilen sein werden. In diesem Sinn handelt es sich um eine Überweisung der Akten zur (erstmaligen) Beurteilung und gerade nicht um eine Rückweisung, die nach der zitierten Rechtsprechung kostenrechtlich als vollständiges Obsiegen zu werten wäre. Eine Rückweisung in diesem Sinn liegt beispielsweise vor, wenn ein Gericht feststellt, der beurteilte Sachverhalt sei unvollständig und deshalb anhand weiterer Abklärungen zu ergänzen. Um eine solche Konstellation geht es hier nicht. Der vorinstanzliche Kostenentscheid - der ausschliesslich beurteilten Punkten Rechnung tragen darf - ist deshalb nicht zu beanstanden.  
 
5.  
Im Hinblick auf das Eventualbegehren der Beschwerdeführerin, die Sache sei zur ergänzenden Sachverhaltsabklärung und neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen, ist auf E. 8.2 des angefochtenen Urteils zu verweisen. Dort merkt die Vorinstanz an, die Beschwerdegegnerin werde - nach Beizug der Suva-Akten - u.a. zu entscheiden haben, ob ein beantragtes handchirurgisches Gutachten einzuholen sei. 
 
 
6.  
Die Beschwerde ist abzuweisen. Diesem Prozessausgang entsprechend trägt die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 23. August 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Traub