6B_173/2023 26.05.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_173/2023  
 
 
Urteil vom 26. Mai 2023  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Bundesrichter Hurni, 
Gerichtsschreiberin Meier. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Kathrin Gruber, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, Postfach, 3001 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Versuchte schwere Körperverletzung; Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte; Hinderung einer Amtshandlung; Strafzumessung; Landesverweisung; Willkür; rechtliches Gehör, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer, vom 1. November 2022 (SK 22 34). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Urteil vom 28. Oktober 2021 stellte das Regionalgericht Bern-Mittelland das Strafverfahren gegen A.________ wegen Verleumdung ein. Von den Vorwürfen der versuchten schweren Körperverletzung, der mehrfachen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, der mehrfachen Hinderung einer Amtshandlung, der mehrfachen Drohung, der mehrfachen Beschimpfung sowie der Verunreinigung von fremdem Eigentum sprach es ihn frei. Es sprach ihn wegen Diebstahls schuldig und bestrafte ihn mit einer Freiheitsstrafe von 13 Tagen, als Zusatzstrafe zum Urteil des Regionalgerichts Berner Jura-Seeland vom 8. Dezember 2020. Zudem ordnete es eine stationäre therapeutische Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB an. Die Zivilklagen wies es ab. Gegen dieses Urteil erhob A.________ Berufung und die Generalstaatsanwaltschaft Anschlussberufung. 
 
B.  
Mit Urteil vom 1. November 2022 stellte das Obergericht des Kantons Bern die Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils hinsichtlich der Einstellung des Strafverfahrens wegen Verleumdung, der Freisprüche von den Vorwürfen der Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte zum Nachteil von B.________, der mehrfachen Hinderung einer Amtshandlung, der mehrfachen Drohung zum Nachteil von B.________, C.________ sowie D.________ und des Schuldspruchs wegen Diebstahls fest. Sodann verurteilte es A.________ wegen versuchter schwerer Körperverletzung, mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte zum Nachteil von E.________, F.________, G.________ sowie H.________, Hinderung einer Amtshandlung, versuchter Drohung, mehrfacher Beschimpfung und Verunreinigung von fremdem Eigentum. Es bestrafte ihn mit einer Freiheitsstrafe von drei Jahren, einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu Fr. 10.-- sowie einer Busse von Fr. 200.--. Zudem ordnete es eine Landesverweisung von A.________ für die Dauer von 20 Jahren sowie deren Ausschreibung im Schengener Informationssystem an. 
 
C.  
A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen sinngemäss, er sei von der versuchten schweren Körperverletzung, der mehrfachen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie der Hinderung einer Amtshandlung freizusprechen. Eventualiter sei die Strafe wegen mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie Hinderung einer Amtshandlung herabzusetzen. Zudem sei von einer Landesverweisung abzusehen. A.________ stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Nach Art. 54 Abs. 1 BGG wird das Verfahren vor dem Bundesgericht in einer der Amtssprachen geführt; in der Regel in der Sprache des angefochtenen Entscheids. Rechtsschriften sind ebenfalls in einer Amtssprache abzufassen (Art. 42 Abs. 1 BGG). Diese muss jedoch nicht mit der Sprache des vorinstanzlichen Verfahrens übereinstimmen. Der Beschwerdeführer verfasste seine Beschwerdeeingabe zulässigerweise in französischer Sprache. Das Verfahren wird jedoch in der Sprache des angefochtenen Entscheids und somit auf Deutsch geführt (Art. 54 Abs. 1 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 405 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 346 StPO, des Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie des Rechts auf ein faires Verfahren. Die Vorinstanz habe an der Berufungsverhandlung zuerst die Verteidigung und anschliessend die Staatsanwaltschaft plädieren lassen. Nach dem zweiten Parteivortrag sei der Verteidigung (nach demjenigen der Staatsanwaltschaft) kein weiterer Parteivortrag bzw. keine Stellungnahme gestattet und ihr nicht das letzte Wort gewährt worden.  
 
2.2.  
 
2.2.1. Die mündliche Berufungsverhandlung richtet sich nach den Bestimmungen über die erstinstanzliche Hauptverhandlung (Art. 405 Abs. 1 StPO). Nach Abschluss des Beweisverfahrens stellen und begründen die Parteien ihre Anträge. Die Parteivorträge finden in folgender Reihenfolge statt: Staatsanwaltschaft (Art. 346 Abs. 1 lit. a StPO), Privatklägerschaft (Art. 346 Abs. 1 lit. b StPO), Dritte, die von einer beantragten Einziehung betroffen sind (Art. 346 Abs. 1 lit. c StPO), die beschuldigte Person oder ihre Verteidigung (Art. 346 Abs. 1 lit. d StPO). Die Parteien haben das Recht auf einen zweiten Parteivortrag (Art. 346 Abs. 2 StPO). Eine Pflicht hierzu besteht nicht. Das Recht auf einen weiteren Vortrag steht der beschuldigten Person bzw. der Verteidigung nur zu, wenn der Staatsanwalt oder der Privatkläger ein zweites Mal plädiert haben. Dies ergibt sich daraus, dass nach der in Art. 346 Abs. 1 StPO festgelegten Reihenfolge der Parteivorträge die Verteidigung als letzte der Parteien plädiert und daher zu den Vorträgen der Staatsanwaltschaft und der Privatkläger Stellung nehmen kann (Urteil 6B_422/2017 vom 12. Dezember 2017 E. 5.3 mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung kann für das zweitinstanzliche Verfahren von der gesetzlich vorgesehenen Reihenfolge abgewichen werden, da diese nicht zwingend ist und es näher liegt, der die Berufung erklärenden Partei zunächst die Gelegenheit für die Begründung ihrer Einwände gegen das erstinstanzliche Urteil zu geben. Daraus erwachsen der beschuldigten Person keine Nachteile. Entscheidend ist dabei, dass dieser im Anschluss an den Parteivortrag der Staatsanwaltschaft und allfälliger Privatkläger die Gelegenheit eingeräumt wird, sich nochmals zu äussern (Urteil 6B_422/2017 vom 12. Dezember 2017 E. 5.4.1 mit Hinweisen).  
 
2.2.2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (vgl. Art. 29 Abs. 2 BV) verlangt, dass die Behörde die Vorbringen des vom Entscheid in seiner Rechtsstellung Betroffenen auch tatsächlich hört, prüft und in der Entscheidfindung berücksichtigt.  
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur und seine Verletzung führt grundsätzlich ungeachtet der materiellen Begründetheit der Beschwerde zu deren Gutheissung und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (BGE 144 I 11 E. 5.3; 143 IV 380 E. 1.4.1; je mit Hinweisen). Eine allfällige Verletzung des rechtlichen Gehörs kann im Verf ahren vor Bundesgericht geheilt werden, wenn ausschliesslich Rechtsfragen streitig sind, die das Bundesgericht mit freier Kognition beurteilen kann, und wenn dem Beschwerdeführer durch die Heilung kein Nachteil erwächst (BGE 147 IV 340 E. 4.11.3; je mit Hinweisen). Eine Heilung ist nach der Rechtsprechung selbst bei einer schwerwiegenden Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör möglich, wenn die Rückweisung zu einem formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen Verzögerungen führen würde, die mit dem Interesse der betroffenen Partei an einer beförderlichen Beurteilung der Sache nicht zu vereinbaren wären (BGE 147 IV 340 E. 4.11.3; 142 II 218 E. 2.8.1; je mit Hinweisen). 
 
2.3. Die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers beantragte im Rahmen der Vorfragen an der Berufungsverhandlung, es sei ihr bei den Parteivorträgen das letzte Wort zu gewähren, auch für den Fall, dass die Reihenfolge der Parteivorträge nicht dem Gesetz entspreche. Die Vorinstanz lehnte dies mit der Begründung ab, praxisgemäss plädiere zuerst der Berufungsführer, danach der Anschlussberufungsführer, dar aufhin folgten Replik und Duplik. Ein Recht der Verteidigung, zur Duplik erneut Stellung zu nehmen, bestehe nicht. Unter Umständen rechtfertige sich das, wenn in der Duplik wesentliche neue Aspekte vorgetragen würden. Es seien keine Umstände ersichtlich, von dieser Vorgehensweise abzuweichen. Das letzte Wort stehe dem Beschuldigten zu.  
Nach dem Beweisverfahren wurde der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers das Wort für den ersten Parteivortrag übergeben. Dagegen bringt der Beschwerdeführer zu Recht nichts vor (vgl. oben E. 2.2.1). Darauf folgend plädierte die Staatsanwältin. Alsdann replizierte die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers und duplizierte die Staatsanwältin. Anschliessend an die Duplik der Staatsanwältin ersuchte die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers um eine (weitere) Stellungnahme. Dies wurde ihr nicht gestattet, da - mit Verweis auf den obengenannten, diesbezüglich gefassten Beschluss - die Staatsanwältin keine wesentlichen neue Aspekte oder neue Tatsachen vorgebracht habe. 
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Staatsanwältin habe in ihrer Duplik die Argumentation des Beschwerdeführers in einer Weise falsch interpretiert, welche Anlass zur Richtigstellung gegeben habe. Zur Duplik der Staatsanwältin protokollierte die Vorinstanz knapp eine Seite. Die Staatsanwältin äusserte sich dabei insbesondere zur Glaubhaftigkeit von Aussagen, (umstrittenen) Sachverhaltskomplexen sowie zur Strafzumessung. Indem die Vorinstanz in der vorliegenden Konstellation für eine weitere Stellungnahme der Verteidigung wesentliche neue Aspekte oder neue Tatsachen verlangt, weicht sie - ohne sich damit auseinanderzusetzen - von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ab, welche eine solche Voraussetzung nicht vorsieht (vgl. oben E. 2.2.1). Das Vorgehen der Vorinstanz erweist sich als nicht rechtskonform und verletzt den (vorliegend durch das Bundesgericht nicht heilbaren) Anspruch auf rechtliches Gehör. Das Urteil ist aus diesem Grund aufzuheben. 
 
3.  
Nach dem Gesagten erübrigt es sich, auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers einzutreten. 
 
4.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Dem Kanton Bern sind keine Gerichtskosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Bern hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 BGG). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. Die Entschädigung wird praxisgemäss der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers ausgerichtet. 
Auf die Einholung von Vernehmlassungen kann verzichtet werden, da diese bundesgerichtliche Entscheidung sachlich keine präjudizierende Wirkung entfaltet und die Vorinstanz bei der Neubeurteilung das rechtliche Gehör gewähren wird (BGE 133 IV 293 E. 3.4.2 f.; Urteil 6B_1430/2021 vom 15. Februar 2023 E. 2 mit Hinweisen). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 1. November 2022 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Bern hat der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers, Rechtsanwältin Kathrin Gruber, eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 26. Mai 2023 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Die Gerichtsschreiberin: Meier