8C_618/2022 11.10.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_618/2022  
 
 
Urteil vom 11. Oktober 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine, 
Gerichtsschreiber Grünenfelder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Kerstin Friedrich, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau, Rechtsdienst, Promenadenstrasse 8, 8510 Frauenfeld, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Arbeitslosenversicherung (Vermittlungsfähigkeit), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau 
vom 5. Oktober 2022 (VV.2021.300/E). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1982 geborene A.________, ausgebildeter Wirtschaftsinformatiker, meldete sich Anfang Januar 2021 zum Bezug von Arbeitslosenentschädigungen an. Infolge einer schweren Erkrankung mit notfallmässiger Hospitalisierung am 27. April 2021, mehreren Operationen und anschliessender stationärer Rehabilitation vom 28. Mai bis 8. Juni 2021 konnte er eine per Anfang Juni 2021 zugesagte Stelle bei der B.________ AG nicht antreten. Nachdem A.________ im Juli 2021 dem Aufgebot zum Besuch eines Standortbestimmungs- und Bewerbungskurses unter Einreichung eines ärztlichen Zeugnisses nicht nachgekommen war, veranlasste das Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau (AWA) eine vertrauensärztliche Abklärung der Vermittlungsfähigkeit (Bericht vom 12. August 2021). Mit Verfügung vom 26. August 2021 verneinte es diese hinsichtlich der Zeitspanne vom 9. Juni bis am 11. August 2021; daran anschliessend, ab dem 12. August 2021, sei A.________ zu 50 % vermittelbar gewesen. Auf dessen Einsprache hin hielt das AWA an der Vermittlungsunfähigkeit vom 9. Juni bis 11. August 2021 fest; die 50%ige Vermittlungsfähigkeit befristete es neu bis am 23. August 2021 und bejahte diese schliesslich ab dem 24. August 2021 ganz (Einspracheentscheid vom 26. November 2021). 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde des A.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 5. Oktober 2022 ab. 
 
C.  
A.________ lässt mit innert Frist ergänzter Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, in Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids sei die Vermittlungsfähigkeit vom 9. Juni bis am 23. August 2021 vollumfänglich zu bejahen. Eventualiter sei die Angelegenheit zwecks Neubeurteilung bzw. Vornahme weiterer Abklärungen an die Vorinstanz oder die Verwaltung zurückzuweisen. 
Das AWA und das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die vorinstanzlich bestätigte Verneinung der Vermittlungsfähigkeit des Beschwerdeführers vom 9. Juni bis 11. August 2021 bzw. deren nur teilweise Bejahung vom 12. bis 23. August 2021 (zu 50 %) vor Bundesrecht stand halten.  
 
2.2. Das kantonale Gericht hat die rechtlichen Grundlagen und die Rechtsprechung betreffend die Anspruchsvoraussetzung der Vermittlungsfähigkeit (Art. 8 Abs. 1 lit. f und Art. 15 Abs. 1 AVIG; BGE 146 V 210 E. 3.1 f.), den Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1 und 61 lit. c ATSG) sowie hinsichtlich des im Sozialversicherungsrecht massgeblichen Beweisgrads der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 146 V 51 E. 5.1) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.  
 
3.  
Die Vorinstanz hat die vertrauensärztliche Einschätzung des Dr. med. C.________ vom 12. August 2021 übernommen, wonach der Beschwerdeführer ab diesem Datum zu 50 % arbeitsfähig gewesen sei. Davon ausgehend hat sie im Wesentlichen erkannt, die geltend gemachte volle Arbeits- und Vermittlungsfähigkeit bereits nach Austritt aus der Klinik D.________, am 8. Juni 2021 erscheine nicht überwiegend wahrscheinlich, sei es doch ab dem 12. August 2021 wohl kaum zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands gekommen. Gegen eine Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers vom 9. Juni bis 11. August 2021 spreche zudem, dass dieser nach eigenen Angaben bis Ende August 2021 aus gesundheitlichen Gründen kein öffentliches Verkehrsmittel habe benützen können. Damit fehle es an der für die Vermittlungsfähigkeit erforderlichen Mobilität. Fraglich erscheine überdies die subjektive Vermittlungsbereitschaft, nachdem sich der Beschwerdeführer in Bezug auf die Vermittlungsfähigkeit nicht auf die bisher ausgeübten IT-Tätigkeiten im Homeoffice beschränken dürfe. Ausserdem habe er selber stets auf die Jobzusage der B.________ AG hingewiesen, welche ihn nach einer im Herbst 2021 noch bevorstehenden Operation nach wie vor unbedingt anstellen wolle. Gestützt darauf hat das kantonale Gericht den Einspracheentscheid vom 26. November 2021 bestätigt. 
 
4.  
 
4.1. Wie der Beschwerdeführer zu Recht einwendet, bestätigte einzig der vom Beschwerdegegner beauftragte Vertrauensarzt eine Arbeitsfähigkeit von 50 % ab dem 12. August 2021. Richtig ist auch, dass sich dieser hinsichtlich der hier hauptsächlich strittigen Periode vom 8. Juni bis am 11. August 2021 nicht, respektive nur ungenau äusserte. So hielt er lediglich fest, die Arbeitsunfähigkeit bestehe ab dem 27. April 2021 und werde wahrscheinlich bis im Dezember 2021 oder im Januar 2022 anhalten. Nähere Angaben, ob und weshalb der Beschwerdeführer vor dem 12. August 2021 klar weniger als zu 50 % arbeitsfähig gewesen sein soll, finden sich im vertrauensärztlichen Bericht vom 12. August 2021 keine. Demgegenüber äusserten sich die Ärzte der Klinik D.________ immerhin insoweit zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers, als dieser nach der erfolgreichen Rehabilitation vor Ort bei gutem Allgemeinzustand in sein häusliches Umfeld habe entlassen werden können (Austrittsbericht vom 7. Juni 2021). Der Hausarzt, Dr. med. E.________ attestierte in der Folge schon ab dem 8. Juni 2021 eine Arbeitsfähigkeit von 100 % (vgl. hausärztliches Zeugnis vom 8. Juni 2021). Diesen echtzeitlichen ärztlichen Angaben wird im vertrauensärztlichen Bericht vom 12. August 2021 in keiner Weise Rechnung getragen. Vielmehr lässt Dr. med. C.________ die entscheidende Frage nach dem Ausmass der Einschränkung vor dem 12. August 2021 und dem auf dieser Grundlage beruhenden zeitlichen Verlauf der Arbeitsfähigkeit (weitgehend) unbeantwortet. Nicht ansatzweise zu ersehen ist insbesondere, inwiefern sich die im vertrauensärztlichen Bericht thematisierten Einschränkungen durch das Dünndarmstoma vor dem 12. August 2021 allenfalls stärker auf die Arbeits- bzw. Vermittlungsfähigkeit ausgewirkt haben sollen als danach. Mit anderen Worten erweist sich die vertrauensärztliche Beurteilung vom 12. August 2021 in wesentlichen Punkten als unvollständig.  
 
4.2. Hinzu kommt, dass auch den späteren Akten verschiedene Anhaltspunkte zu entnehmen sind, welche für eine wenigstens teilweise Arbeitsfähigkeit ab Juni 2021 sprechen. Rückblickend auf den Zeitpunkt des Austritts bestätigten die behandelnden Ärzte der Klinik D.________ denn auch ausdrücklich, nach Beendigung der Rehabilitation sei bei gebessertem Allgemeinzustand (auch) ein beruflicher Wiedereinstieg mit beispielsweise leichter Bürotätigkeit möglich gewesen (Nachtrag vom 7. Dezember 2021). Dass damit nur die bisherigen IT-Tätigkeiten im Homeoffice gemeint wären, ist nicht zu erkennen. Den Angaben der Physiotherapeutin F.________ welche den Beschwerdeführer nach eigenen Angaben bereits seit dem 11. Juni 2021 behandelt hatte, ist Ähnliches zu entnehmen. Demnach könne nicht annähernd nachvollzogen werden, weshalb der Beschwerdeführer (für leichte Bürotätigkeiten) seit dem 8. Juni 2021 nicht arbeitsfähig gewesen sein sollte (Bericht vom 3. September 2021). Da sich diese Angaben eindeutig auf den hier interessierenden Zeitraum ab Juni 2021 beziehen und der Beschwerdeführer dannzumal bei den berichtenden Fachpersonen in Behandlung stand, können daraus - entgegen der im angefochtenen Entscheid vertretenen Sichtweise - durchaus Rückschlüsse auf den relevanten medizinischen Sachverhalt gezogen werden (vgl. BGE 121 V 361 E. 1b; SVR 2022 ALV Nr. 17 S. 57, 8C_503/2021 E. 4.1). Soweit die Vorinstanz in diesem Zusammenhang beweiswürdigend darauf verwiesen hat, behandelnde Ärzte würden in Zweifelsfällen mitunter eher zu Gunsten ihrer Patienten aussagen, entbindet dies nicht von der Pflicht zu einer korrekten Beweiswürdigung (statt vieler: BGE 135 V 465 E. 4.6).  
 
4.3. Wenn das kantonale Gericht eine Vermittlungsunfähigkeit vom 9. Juni bis 11. August 2021 letztlich (auch) damit begründet hat, dass der Beschwerdeführer bis am 31. August 2021 aus gesundheitlicher Sicht laut hausärztlicher Bescheinigung nicht in der Lage gewesen sei, öffentliche Verkehrsmittel zu benützen (vgl. Attest vom 14. Juli 2021), überzeugt dies gleichfalls nicht. Dazu steht schon im Widerspruch, dass bereits ab 12. August 2021 - also obwohl sich der Beschwerdeführer nach wie vor nicht mit dem öffentlichen Verkehr fortbewegen konnte - laut Dr. med. C.________ eine 50%ige Vermittlungsfähigkeit gegeben gewesen sein soll. Wird in der Beschwerde geltend gemacht, im Falle eines unterschriebenen Arbeitsvertrags hätte der Beschwerdeführer ein Auto gemietet oder geleast, so trifft zwar zu, dass er von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machte, als es um den Besuch des vom Beschwerdegegner vorgesehenen Bewerbungs- und Standortkurses ging. Dennoch erscheint es nicht gerechtfertigt, ihm allein deshalb - oder weil er bereits über eine Jobzusage seitens der B.________ AG verfügte - die (subjektive) Vermittlungsbereitschaft abzusprechen. Denn dafür müssten praxisgemäss wiederholte Verfehlungen in unterschiedlichen Situationen belegt sein (vgl. Urteil 8C_246/2014 vom 24. Juni 2014 E. 3.2), was hier unbestrittenermassen nicht der Fall ist. Die vorinstanzliche Schlussfolgerung, vom 9. Juni bis 11. August 2021 sei überwiegend wahrscheinlich von einer gänzlichen Unvermittelbarkeit des Beschwerdeführers auszugehen, erweist sich somit insgesamt als rechtsfehlerhaft.  
 
4.4. Zusammenfassend beruht der angefochtene Entscheid auf einem in medizinischer Hinsicht offensichtlich unrichtig (unvollständig) festgestellten Sachverhalt. Dies stellt eine Verletzung der Beweiswürdigungsregeln und des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 und 61 lit. c ATSG) dar. Es rechtfertigt sich daher, die Sache zur Einholung ergänzender medizinischer Auskünfte an den Beschwerdegegner zurückzuweisen. Dieser hat eine (ergänzende) vertrauensärztliche Stellungnahme einzuholen, welche den Krankheitsverlauf im zeitlichen Längsschnitt zu beachten hat und sich unter Berücksichtigung der erwähnten medizinischen Akten über die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers seit dem 9. Juni 2021 ausspricht. Gestützt darauf wird die Verwaltung die Vermittlungsfähigkeit für die strittige Zeitperiode festzulegen und neu zu verfügen haben. Auf die weiteren Vorbringen in der Beschwerde braucht bei diesem Ergebnis nicht weiter eingegangen zu werden.  
 
5.  
Die Rückweisung der Sache an den Beschwerdegegner zu neuer Verfügung gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 Satz 1 sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG, unabhängig davon, ob sie beantragt oder ob das entsprechende Begehren im Haupt- oder im Eventualantrag gestellt wird (BGE 146 V 28 E. 7; 132 V 215 E. 6.1; Urteil 8C_424/2022 vom 10. Januar 2023 E. 6.1). Die Gerichtskosten sind daher dem unterliegenden Beschwerdegegner aufzuerlegen. Dieser hat dem Beschwerdeführer ferner eine Parteientschädigung auszurichten. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 5. Oktober 2022 und der Einspracheentscheid des Amtes für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau vom 26. November 2021 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an das Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.  
Der Beschwerdegegner hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 11. Oktober 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder