8C_703/2023 22.05.2024
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_703/2023  
 
 
Urteil vom 22. Mai 2024  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Métral, 
Gerichtsschreiberin Polla. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
handelnd durch seine Mutter und diese vertreten durch 
Advokatin Isabelle Emmel, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Intensivpflegezuschlag), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 14. September 2023 (VBE.2023.115). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Der 2006 geborene A.________ leidet an angeborenen cerebralen Lähmungen gemäss Ziff. 390 des Anhangs zur Verordnung über Geburtsgebrechen (GgV). Am 29. September 2010 wurde er bei der Invalidenversicherung zum Bezug von medizinischen Massnahmen und am 23. Oktober 2010 zum Bezug einer Hilflosenentschädigung angemeldet. Die IV-Stelle des Kantons Aargau erteilte Kostengutsprache für medizinische Massnahmen und sprach A.________ mit Verfügung vom 14. April 2011 eine Entschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades für die Zeit vom 1. August 2010 bis 31. März 2013 zu. Einen Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag verneinte sie. Nach einer erneuten Abklärung an Ort und Stelle (Abklärungsbericht vom 9. Oktober 2012) sprach ihm die IV-Stelle mit Verfügung vom 26. November 2012 revisionsweise eine Entschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades für die Zeit vom 1. November 2012 bis 31. Oktober 2014 zu.  
 
A.b. Ein Gesuch um Erhöhung der Hilflosenentschädigung von A.________ wies die IV-Stelle mit Verfügung vom 27. Mai 2015 ab. Die dagegen geführte Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 8. Dezember 2015 insoweit gut, als es die Sache zur weiteren Abklärung an die IV-Stelle zurückwies.  
 
A.c. Nach einer erneuten Abklärung an Ort und Stelle (Bericht vom 6. April 2016) sprach ihm die IV-Stelle mit Verfügung vom 2. September 2016 eine Entschädigung aufgrund mittlerer Hilflosigkeit für die Zeit vom 1. August 2014 bis 1. August 2018 zu und bejahte den Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag von vier Stunden. Ende 2016 traten nächtliche Epilepsieanfälle auf, die als Geburtsgebrechen Ziff. 387 (angeborene Epilepsie) anerkannt wurden. Die IV-Stelle sprach A.________ am 17. Februar 2017 auch diesbezüglich medizinische Massnahmen zu. Anlässlich der im Jahr 2018 durchgeführten Revision nach erfolgter Abklärung an Ort und Stelle Bericht vom 13. Dezember 2018 bestätigte die IV-Stelle einen unveränderten Anspruch auf Hilflosenentschädigung und Intensivpflegezuschlag (Verfügung vom 2. April 2019).  
 
A.d. Im Rahmen der im August 2021 eingeleiteten Revision führte die IV-Stelle wiederum eine Abklärung an Ort und Stelle durch (Abklärungsbericht vom 24. Juni 2022; ergänzende Stellungnahme vom 12. Januar 2023 und verfügte am 24. Januar 2023 einen Anspruch auf eine Entschädigung wegen Hilflosigkeit schweren Grades ab 1. August 2021 und einen unveränderten Intensivpflegezuschlag für einen Betreuungsaufwand von vier Stunden.  
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht mit Urteil vom 14. September 2023 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, unter Aufhebung des Urteils vom 14. September 2023 sei ihm ein Intensivpflegezuschlag für einen invaliditätsbedingten Mehraufwand von sechs anstelle der bisherigen vier Stunden zuzusprechen. 
Nach Beizug der kantonalen Akten verzichtet das Bundesgericht auf einen Schriftenwechsel. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Der (schwere) Grad der Hilflosigkeit ist unbestritten. Streitig ist hingegen, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem sie den Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag für einen täglichen invaliditätsbedingten Betreuungsaufwand von sechs anstelle der angerechneten vier Stunden verneint hat.  
 
 
2.2. Gemäss Art. 42 ter Abs. 3 IVG in der ab 1. Januar 2018 in Kraft stehenden Fassung (vgl. AS 2017 5987 f.) wird die Hilflosenentschädigung für Minderjährige, die zusätzlich intensive Betreuung brauchen, um einen Intensivpflegezuschlag erhöht; dieser Zuschlag wird nicht gewährt bei einem Aufenthalt in einem Heim. Der monatliche Intensivpflegezuschlag beträgt bei einem invaliditätsbedingten Betreuungsaufwand von mindestens acht Stunden pro Tag 100 %, bei einem solchen von mindestens sechs Stunden pro Tag 70 % und bei einem solchen von mindestens vier Stunden pro Tag 40 % des Höchstbetrages der Altersrente nach Art. 34 Abs. 3 und 5 AHVG. Der Zuschlag berechnet sich pro Tag. Der Bundesrat regelt im Übrigen die Einzelheiten.  
Laut Art. 36 Abs. 2 IVV haben Minderjährige mit einem Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung, die eine intensive Betreuung brauchen und sich nicht in einem Heim aufhalten, zusätzlich zur Hilflosenentschädigung Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag nach Art. 39 IVV. Gemäss dieser Bestimmung liegt eine intensive Betreuung im Sinne von Art. 42 ter Abs. 3 IVG bei Minderjährigen vor, wenn diese im Tagesdurchschnitt infolge Beeinträchtigung der Gesundheit zusätzliche Betreuung von mindestens vier Stunden benötigen (Abs. 1). Anrechenbar als Betreuung ist der Mehrbedarf an Behandlungs- und Grundpflege im Vergleich zu nicht behinderten Minderjährigen gleichen Alters. Nicht anrechenbar ist der Zeitaufwand für ärztlich verordnete medizinische Massnahmen, welche durch medizinische Hilfspersonen vorgenommen werden, sowie für pädagogisch-therapeutische Massnahmen (Abs. 2). Bedarf eine minderjährige Person infolge Beeinträchtigung der Gesundheit zusätzlich einer dauernden Überwachung, so kann diese als Betreuung von zwei Stunden angerechnet werden. Eine besonders intensive behinderungsbedingte Überwachung ist als Betreuung von vier Stunden anrechenbar (Abs. 3).  
 
2.3. Zu betonen ist, dass der Intensivpflegezuschlag nach Art. 42 ter Abs. 3 IVG und Art. 39 IVV keine selbstständige Leistungsart ist, sondern den Anspruch auf Hilflosenentschädigung voraussetzt (Art. 36 Abs. 2 IVV). Art. 39 IVV beruht im Unterschied zu Art. 37 IVV nicht auf einer funktionellen, beziehungsweise qualitativen, sondern auf einer zeitlichen Betrachtungsweise, indem gefragt wird, wieviel Zeit infolge Beeinträchtigung der Gesundheit für die zusätzliche Betreuung im Vergleich zu einem nicht behinderten Minderjährigen gleichen Alters insgesamt notwendig ist. Dabei meint der in Art. 42 ter Abs. 3 IVG verwendete Begriff der Betreuung sowohl die Hilfe bei der Behandlungs- und Grundpflege gemäss Abs. 2 als auch die zusätzliche Überwachung nach Abs. 3 von Art. 39 IVV (SVR 2014 IV Nr. 14 S. 55, 9C_666/2013 E. 8.2; Urteil 8C_572/2022 vom 21. Juni 2023 E. 4.3.1 mit Hinweis ).  
 
2.4. Im Kreisschreiben des BSV über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH; nachfolgend in der hier anwendbaren, seit dem 1. Januar 2021 geltenden Fassung zitiert) werden die in Art. 39 Abs. 2 und 3 IVV geregelten Tatbestände konkretisiert (vgl. zur Bedeutung von Verwaltungsweisungen BGE 145 V 84 E. 6.1.1; 142 V 442 E. 5.2).  
 
3.  
Die Vorinstanz hat dem Abklärungsbericht vom 24. Juni 2022 (samt ergänzender Stellungnahme vom 12. Januar 2023 Beweiskraft beigemessen und den Anspruch auf einen höheren Intensivpflegezuschlag verneint. Dabei ermittelte die zuständige Abklärungsperson einen täglichen invaliditätsbedingten Betreuungsaufwand von vier Stunden und 20 Minuten ab August 2021 und ab August 2022 von vier Stunden und 50 Minuten. 
 
4.  
 
4.1. Der Beschwerdeführer wendet sich insbesondere gegen die Verneinung einer besonders intensiven, dauernden Überwachung.  
 
4.2. Die Vorinstanz, wie zuvor die IV-Stelle, hat den Bedarf an persönlicher Überwachung im Umfang von täglich zwei Stunden bejaht. Fraglich bleibt, ob eine besonders intensive Überwachung geboten ist. Eine solche wäre gemäss Art. 39 Abs. 3 IVV mit täglich vier anstatt mit lediglich zwei Stunden zu veranschlagen, was einen höchstmöglichen Intensivpflegezuschlag begründen würde.  
 
4.3. Eine besonders intensive dauernde Überwachung liegt nach Rz. 8079 KSIH vor, wenn von der Betreuungsperson überdurchschnittlich hohe Aufmerksamkeit und ständige Interventionsbereitschaft gefordert wird. Dies bedeutet, dass sich die Betreuungsperson permanent in unmittelbarer Nähe der versicherten Person aufhalten muss, da eine kurze Unachtsamkeit mit überwiegender Wahrscheinlichkeit lebensbedrohliche Folgen hätte oder zu einer massiven Schädigung von Personen und Gegenständen führen würde. Aufgrund der geforderten Eins zu eins-Überwachung/Betreuung kann sich die Betreuungsperson kaum anderen Aktivitäten widmen. Zudem müssen zum Schutz der versicherten Person und ihrer Umgebung bereits geeignete Massnahmen zur Schadenminderung getroffen worden sein, wobei es diesbezüglich nicht zu einer unzumutbaren Situation der Umgebung kommen darf.  
 
4.4. Zur besonders intensiven Überwachung hat die Vorinstanz festgestellt, gefährliche Gegenstände könnten im Rahmen der Schadenminderungspflicht weggeschlossen werden, offene Steckdosen mit entsprechenden Sticks gesichert werden, was dem Eigenbedarf der Eltern und Geschwister nach den entsprechenden Steckdosen nicht entgegen stehe. Gehe es doch dabei hauptsächlich um die Sicherung der Steckdosen im Zimmer des Beschwerdeführers sowie in den allgemein zugänglichen Räumen, wobei hinsichtlich letzteren eine jeweilige Entsicherung vor Gebrauch keinen unzumutbaren Mehraufwand für die übrigen Familienmitglieder bedeute. Der Tumbler sei von der Stromzufuhr getrennt worden, auch könne die Türe zur Waschküche abgeschlossen werden. Die Problematik der Eigen- und Fremdgefährdung bestehe gemäss Abklärungsergebnis in erster Linie ausser Haus, weshalb eine persönliche Überwachung im Rahmen einer ständigen Präsenz und einer erhöhten Aufmerksamkeit, bzw. die Notwendigkeit, den Beschwerdeführer im öffentlichen Raum, in Gesellschaft, strikte an der Hand zu führen und zu begleiten, von der Abklärungsperson - korrekterweise - als erforderlich erachtet worden. Zu Hause habe sich der Beschwerdeführer anlässlich des Besuchs der Abklärungsperson über längere Zeit alleine und unbeaufsichtigt aufhalten können (mit einer gegen den Willen der Mutter gefundenen Kamera). Sporadisch habe seine Schwester auf Aufforderung der Mutter nach ihm geschaut. Im Verlauf habe sich der Beschwerdeführer ebenfalls im Wohnzimmer aufgehalten und sich in der Hängematte ein Hörspiel angehört. Es treffe daher nicht zu, dass sich die Mutter permanent in unmittelbarer Nähe des Beschwerdeführers aufhalten müsse und sich kaum anderen Aktivitäten widmen könne.  
 
4.5.  
 
4.5.1. Diese Feststellungen der Vorinstanz sind nicht willkürlich und bleiben daher verbindlich. Wie der Beschwerdeführer selbst einräumt, wurde der Aufwand einer persönlichen Überwachung aufgrund seiner geschilderten Unberechenbarkeit anerkannt. Dass er über einen längeren Zeitraum nicht sich selber überlassen werden kann, ist ebenfalls unbestritten wie auch der Umstand, dass jemand im Haus in seiner Nähe bleiben muss, etwa auf dem gleichen Stockwerk, um nötigenfalls eingreifen zu können. Die Notwendigkeit ständiger Präsenz und einer erhöhten Aufmerksamkeit wurde anerkannt und im Umfang von täglich zwei Stunden angerechnet. Nach den willkürfreien vorinstanzlichen Feststellungen genügt aber eine Überwachung in regelmässigen Abständen, um wenn nötig eingreifen zu können. Dass schon bei einer kurzen Unachtsamkeit regelmässig mit lebensbedrohlichen Folgen oder mit einer massiven Schädigung von Personen oder Gegenständen gerechnet werden müsste, ergibt sich aus den Schilderung der Mutter im Abklärungsbericht nicht. Dass der Bericht vom 24. Juni 2022 auf einer unvollständigen Protokollierung beruhen würde, wird nicht vorgebracht, sondern vielmehr die korrekte Sachverhaltsdarstellung durch die Abklärungsperson bestätigt. Dieser erfüllt demnach die beweisrechtlichen Anforderungen an einen Abklärungsbericht an Ort und Stelle (BGE 140 V 543 E. 3.2.1; 133 V 450 E. 11.1.1; 130 V 61 E. 6.1 f.).  
 
4.5.2. Soweit der Beschwerdeführer eine gesundheitliche Verschlechterung geltend macht, indem er auf zwei im Februar und September 2023 erlittene epileptische Anfälle verweist, liegt diese Entwicklung ausserhalb der mit Erlass der Verfügung vom 24. Januar 2023 in zeitlicher Hinsicht begrenzten richterlichen Überprüfungsbefugnis (BGE 143 V 409 E. 2.1; 134 V 392 E. 6.).  
Die Vorinstanz hat im Lichte von Rz. 8079 KSIH und der Rechtsprechung (vgl. SVR 2022 IV Nr. 14 S. 45, 9C_332/2021 E. 4.1-4.3) somit kein Bundesrecht verletzt, wenn sie eine besonders intensive invaliditätsbedingte Überwachung verneint hat. Damit hat es beim angefochtenen Urteil sein Bewenden. 
 
5.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 22. Mai 2024 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Polla