7B_645/2023 13.10.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_645/2023  
 
 
Urteil vom 13. Oktober 2023  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichter Kölz, Hofmann, 
Gerichtsschreiber Stadler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Advokat Sandro Horlacher, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, 4051 Basel. 
 
Gegenstand 
Haftentlassung aus der Sicherheitshaft, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Appellationsgerichts Basel-Stadt, Präsidentin, 
vom 29. August 2023 (SB.2023.63). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Urteil vom 14. Juni 2023 sprach das Strafgericht Basel-Stadt A.________ wegen sexueller Nötigung zum Nachteil von B.________ (geb. 23. April 2005), Schändung, Vergewaltigung und mehrfach versuchter Nötigung zum Nachteil von C.________ (geb. 7. Oktober 2003), Vergewaltigung zum Nachteil von D.________ (geb. 11. März 2008) sowie Sachbeschädigung zum Nachteil des Untersuchungsgefängnisses Waaghof (Einschlagen einer Panzerglasscheibe seiner Zelle mit einem Schemel) schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren, davon 18 Monate bedingt, unter Einrechnung der Untersuchungs- und Sicherheitshaft seit dem 15. September 2022 sowie zu einer Landesverweisung von 10 Jahren, einzutragen im SIS. Gegen dieses Urteil hat A.________ Berufung angemeldet und erklärt. 
 
B.  
Mit Beschluss ebenfalls vom 14. Juni 2023 ordnete das Strafgericht für die vorläufige Dauer von 12 Wochen wegen Fluchtgefahr Sicherheitshaft an. Am 21. August 2023 stellte A.________ beim Appellationsgericht Basel-Stadt ein Gesuch um Haftentlassung, eventualiter gegen Hinterlegung einer Kaution von Fr. 20'000.--. Die Präsidentin des Appellationsgerichts wies dieses Gesuch am 29. August 2023 wegen Flucht-, Kollusions- und Fortsetzungsgefahr ab und ordnete erneut Sicherheitshaft bis zu einem neuen Entscheid zum Zeitpunkt des Berufungsurteils an. 
 
C.  
A.________ wendet sich mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht und beantragt, der Entscheid des Appellationsgerichts sei aufzuheben und er sei gegen die Hinterlegung einer Kaution von Fr. 20'000.-- aus der Haft zu entlassen, eventualiter sei der angefochtene Entscheid zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
Das Appellationsgericht hat auf Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt hat sich nicht vernehmen lassen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid, mit dem ein Gesuch um Entlassung aus der Sicherheitshaft abgewiesen wurde. Dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG offen. Der Beschwerdeführer hat vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen und befindet sich, soweit aus den Akten ersichtlich, nach wie vor in Haft. Er ist deshalb nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten. 
 
2.  
Die Beschwerde an das Bundesgericht ist zu begründen (Art. 42 Abs. 1 BGG). In der Begründung ist in gedrängter Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt (Art. 42 Abs. 2 BGG; BGE 143 I 377 E. 1.2). Die Begründung muss sachbezogen sein und erkennen lassen, dass und weshalb nach Auffassung des Beschwerdeführers Recht verletzt ist (BGE 142 I 99 E. 1.7.1). Die beschwerdeführende Partei kann in der Beschwerdeschrift nicht bloss erneut die Rechtsstandpunkte bekräftigen, die sie im kantonalen Verfahren eingenommen hat, sondern hat mit ihrer Kritik an den als rechtsfehlerhaft erachteten Erwägungen der Vorinstanz anzusetzen (BGE 146 IV 297 E. 1.2 mit Hinweisen). Eine qualifizierte Begründungspflicht besteht, soweit die Verletzung von Grundrechten einschliesslich Willkür behauptet wird (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 148 IV 39 E. 2.3.5). Auf ungenügend begründete Rügen oder allgemeine appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 146 IV 114 E. 2.1; je mit Hinweisen). 
 
3.  
 
3.1. Nach Art. 221 Abs. 1 StPO sind Untersuchungs- und Sicherheitshaft unter anderem zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (lit. a; sog. Fluchtgefahr), Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen (lit. b; Kollusionsgefahr), oder durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (lit. c; Wiederholungsgefahr). An Stelle der Haft sind Ersatzmassnahmen anzuordnen, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art. 212 Abs. 2 lit. c und Art. 237 ff. StPO).  
Die Vorinstanz hat neben dem Vorliegen eines dringenden Tatverdachts sämtliche besondere Haftgründe gemäss lit. a-c von Art. 221 Abs. 1 StPO bejaht. Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts nicht. Er kritisiert jedoch die vorinstanzliche Annahme von Flucht-, Kollusions- sowie Wiederholungsgefahr als bundesrechtswidrig. Darüber hinaus macht er eine Verletzung des Beschleunigungsgebots geltend, indem die Vorinstanz auf die Prüfung der beantragten Kaution verzichtet habe. 
 
3.2.  
 
3.2.1. Die Annahme von Fluchtgefahr setzt ernsthafte Anhaltspunkte dafür voraus, dass die beschuldigte Person sich dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion durch Flucht entziehen könnte. Fluchtgefahr darf nicht schon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der Flucht in abstrakter Weise besteht. Es braucht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich die beschuldigte Person, wenn sie in Freiheit wäre, dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Im Vordergrund steht dabei eine mögliche Flucht ins Ausland, denkbar ist jedoch auch ein Untertauchen im Inland. Ob Fluchtgefahr besteht, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung aller wesentlichen Umstände zu beurteilen. Zu berücksichtigen sind insbesondere der Charakter der beschuldigten Person, ihre moralische Integrität, ihre finanziellen Mittel, ihre Verbindungen zur Schweiz, ihre Beziehungen zum Ausland und die Höhe der ihr drohenden Strafe. Die Schwere der drohenden Strafe darf als Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden, genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen (vgl. BGE 145 IV 503 E. 2.2; 143 IV 160 E. 4.3; je mit Hinweisen). Die Wahrscheinlichkeit einer Flucht nimmt in der Regel mit zunehmender Verfahrens- bzw. Haftdauer ab, da sich auch die Länge des allenfalls noch zu absolvierenden Strafvollzugs mit der bereits erstandenen prozessualen Haft, die auf die mutmassliche Freiheitsstrafe anzurechnen wäre (vgl. Art. 51 StGB), kontinuierlich verringert (BGE 143 IV 160 E. 4.3 mit Hinweis). Bei der Beurteilung der konkret drohenden (Rest-) Strafe ist im Haftprüfungsverfahren auch allfälligen bereits vorliegenden Gerichtsentscheiden über das Strafmass bzw. weitere Sanktionen Rechnung zu tragen (vgl. BGE 145 IV 503 E. 2.2).  
 
3.2.2. Das zuständige Gericht ordnet an Stelle der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen. Gemäss Art. 237 Abs. 2 lit. a StPO besteht als Ersatzmassnahme insbesondere die Möglichkeit der Zahlung einer Sicherheitsleistung. Eine Haftentlassung kommt nur in Frage, wenn die Kaution tatsächlich tauglich ist, die beschuldigte Person von einer Flucht abzuhalten (Urteil 1B_562/2022 vom 25. November 2022 E. 4.1.2; 1B_415/2022 vom 30. August 2022 E. 5.1 mit Hinweisen). Die Höhe der Kaution bemisst sich dabei nach der Schwere der vorgeworfenen Taten und den persönlichen Verhältnissen der beschuldigten Person (Art. 238 Abs. 2 StPO). Bei der Prüfung der Herkunft der für die Sicherheitsleistung herangezogenen finanziellen Mittel ist Vorsicht geboten (Urteil 1B_562/2022 vom 25. November 2022 E. 4.1.2; 1B_431/2022 vom 2. September 2022 E. 2.3 mit Hinweisen).  
Anstelle der beschuldigten Person können grundsätzlich auch Drittpersonen die Kaution leisten (vgl. Art. 240 Abs. 2 StPO). Diesfalls sind die finanziellen Möglichkeiten der Drittpersonen und die persönliche Beziehung der beschuldigten Person zu diesen Drittpersonen zu prüfen. Die Sicherheitsleistung muss so hoch angesetzt werden, dass sich die beschuldigte Person lieber dem Strafverfahren stellt, als den Drittpersonen den Verlust der Kaution zuzumuten (Urteile 1B_562/2022 vom 25. November 2022 E. 4.1.2; 1B_427/2022 vom 9. September 2022 E. 3.1; 1B_431/2022 vom 2. September 2022 E. 2.3; je mit Hinweisen). Das Gericht hat dabei auch zu prüfen, ob die Drittpersonen eine geleistete Kaution überhaupt zurückfordern würden (Urteil 1B_415/2022 vom 30. August 2022 E. 5.1 mit Hinweisen). Die beschuldigte Person hat ihre Vermögensverhältnisse und jene der Drittpersonen in nachvollziehbarer Weise offenzulegen. Verweigert sie ihre Kooperation und bleiben die finanziellen Verhältnisse undurchsichtig, scheidet eine Sicherheitsleistung aus, da sich deren Wirksamkeit nicht verlässlich beurteilen lässt (Urteile 1B_562/2022 vom 25. November 2022 E. 4.1.2; 1B_427/2022 vom 9. September 2022 E. 3.1; 1B_415/2022 vom 30. August 2022 E. 5.1; je mit Hinweisen). 
 
3.3. Die Vorinstanz hält in der angefochtenen Verfügung fest, dass sich seit dem Haftbeschluss des Strafgerichts vom 14. Juni 2023 in Bezug auf die Beurteilung des Haftgrundes der Fluchtgefahr keine Änderungen ergeben hätten. Überdies weist sie darauf hin, dass auch die Anordnung einer Landesverweisung durch das Strafgericht diesen Haftgrund noch weiter verstärke.  
Das Strafgericht begründet in seinem Beschluss vom 14. Juni 2023 die Fluchtgefahr namentlich damit, dass für den Beschwerdeführer angesichts der (mit Urteil vom selben Tag) angeordneten Sanktionen ein hoher Anreiz bestehe, sich dem Strafvollzug durch Flucht oder Untertauchen zu entziehen. Auch abgesehen davon sei seine Motivation am Verbleib in der Schweiz gering, zumal er über keine Einbindung in beruflicher und schulischer Hinsicht verfüge und auch seine familiären Verhältnisse in der Schweiz fragil seien. Mit all diesen Argumenten setzt sich der Beschwerdeführer nicht ansatzweise auseinander. Soweit sich seine Kritik gegen die vorinstanzliche Bejahung der Fluchtgefahr richtet, ist darauf nicht weiter einzugehen. 
 
3.4. Die Vorinstanz erwägt im Weiteren, dass sich als "flankierende Massnahme" zur Abwendung von Haft die Frage einer allfälligen Kaution nur dann stelle, wenn einzig der Haftgrund der Fluchtgefahr vorliege. Wie erwähnt bejaht sie in der Folge die Haftgründe der Kollusions- und Wiederholungsgefahr ebenso. Unbesehen davon, dass die Vorinstanz die Frage der vom Beschwerdeführer anbegehrten Kaution offenliess, ist nicht erkennbar, dass eine solche die Haftentlassung des Beschwerdeführers erlauben würde:  
Wie der Beschwerdeführer selber einräumt, ist er finanziell nicht in der Lage, die beantragte Kaution in der Höhe von Fr. 20'000.-- zu erbringen, weshalb seine Mutter angeboten habe, diese zu leisten. Indes legte und legt er deren Vermögensverhältnisse überhaupt nicht dar, womit sich die Wirksamkeit einer angeblich von seiner Mutter zu erbringenden Sicherheitsleistung a priori kaum beurteilen lässt. Hinzu kommt, dass gemäss dem staatsanwaltschaftlichen Antrag auf Abweisung des Haftentlassungsgesuchs vom 24. August 2023 das Verhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Mutter äusserst konfliktbehaftet ist, was zu mehreren Jugendstrafverfahren geführt haben soll, welche grösstenteils zufolge Rückzugs des Strafantrags eingestellt worden seien. Aufgrund der massiven und auch handgreiflichen Konflikte sei ein auf Dauer gerichteter gemeinsamer Wohnsitz offenbar nie möglich gewesen. Auch im strafgerichtlichen Beschluss vom 14. Juni 2023 ist die Rede davon, dass weder die Mutter noch der Stiefvater des Beschwerdeführers in der Lage schienen, stützend oder stärkend auf den Beschwerdeführer einzuwirken. Unter diesen Umständen scheint zweifelhaft, dass der Beschwerdeführer durch die fragliche Kaution (in der genannten Höhe) genügend an einer Flucht gehindert würde. Damit fällt eine Haftentlassung unter Anordnung von Ersatzmassnahmen ausser Betracht. Insoweit stösst auch die beschwerdeführerische Rüge der Verletzung des Beschleunigungsgebots ins Leere.  
 
 
3.5. Nach dem Gesagten kann offenbleiben, ob die Vorinstanz das Vorliegen von Kollusions- und Wiederholungsgefahr zu Recht bejaht hat. Im Übrigen ist weder ersichtlich noch dargetan, dass die Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit zu beanstanden wäre.  
 
4.  
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist dagegen gutzugeheissen, weil die Voraussetzungen nach Art. 64 Abs. 1 BGG erfüllt sind. Entsprechend werden für das bundesgerichtliche Verfahren keine Gerichtskosten erhoben (Art. 64 Abs. 1 BGG). Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse eine angemessene Entschädigung ausgerichtet (Art. 64 Abs. 2 BGG). Der Beschwerdeführer wird allerdings darauf hingewiesen, dass er der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er aufgrund einer Verbesserung seiner finanziellen Situation dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. 
 
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.  
 
2.2. Advokat Sandro Horlacher wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 2'000.-- entschädigt.  
 
3.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt und dem Appellationsgericht Basel-Stadt, Präsidentin, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 13. Oktober 2023 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Der Gerichtsschreiber: Stadler