9C_343/2022 08.03.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_343/2022  
 
 
Urteil vom 8. März 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichterinnen Moser-Szeless, Scherrer Reber, 
Gerichtsschreiberin Nünlist. 
 
Verfahrensbeteiligte 
1. A.________, 
2. B.________, 
beide vertreten durch Rechtsanwalt Manuel Bader, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz vom 17. Mai 2022 (II 2021 96 + 97). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Am 11. Juni 2014 wurde die C.________ AG mit Sitz in U.________ im Handelsregister des Kantons Zürich eingetragen. Ihr Zweck war der Betrieb eines Personalverleihs, die Personalvermittlung und Personalberatung, die Unternehmensberatung sowie die Erbringung von Marketingdienstleistungen. Präsident des Verwaltungsrates war B.________, Mitglied des Verwaltungsrates A.________ - beide zeichneten mit Einzelunterschrift. Per 17. November 2016 schied A.________ und per 1. Dezember 2016 B.________ aus der C.________ AG aus.  
Nach mehreren Sitzverlegungen, zuletzt nach V.________, wurde die C.________ AG am 27. März 2018 in Anwendung von Art. 153b der Handelsregisterverordnung vom 17. Oktober 2007 (HRegV; SR 221.411, in der bis 31. Dezember 2020 gültig gewesenen Fassung) von Amtes wegen als aufgelöst erklärt, weil die ihr zur Wiederherstellung des gesetzmässigen Zustandes in Bezug auf das Domizil angesetzte Frist fruchtlos abgelaufen war. Mit Verfügung vom 29. April 2019 ordnete der Einzelrichter des Bezirksgerichts W.________ die Liquidation der bereits aufgelösten C.________ AG an und stellte das Konkursverfahren mit Verfügung vom 22. Mai 2019 mangels Aktiven ein. Am 30. August 2019 wurde die C.________ AG aus dem Handelsregister gelöscht. 
 
A.b. Mit Verfügungen vom 12. Februar 2020 und 7. September 2020 verpflichtete die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich (nachfolgend: SVA Zürich) B.________ und A.________ als Solidarhafter zu einer Schadenersatzleistung von Fr. 820'992.65 bzw. 820'735.05 für entgangene Beiträge. Die hiergegen erhobenen Einsprachen wies die SVA Zürich mit Einspracheentscheiden vom 8. Juli 2021 ab.  
 
B.  
Das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz hiess die dagegen erhobenen Beschwerden nach Vereinigung der Verfahren mit Entscheid vom 17. Mai 2022 teilweise gut, hob die Einspracheentscheide vom 8. Juli 2021 im Sinne der Erwägungen auf und verpflichtete B.________ und A.________ als Solidarhafter dazu, der SVA Zürich für entgangene Beiträge einen Schadenersatz von Fr. 732'096.25 zu bezahlen. 
 
C.  
A.________ (Beschwerdeführer 1) und B.________ (Beschwerdeführer 2) erheben Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und stellen folgende Anträge: 
 
"1. Der Entscheid vom 17. Mai 2022 des Verwaltungsgerichts Schwyz sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass der Beschwerdeführer 1 keinen Schadenersatz zu leisten hat. 
2. Der Entscheid vom 17. Mai 2022 des Verwaltungsgerichts Schwyz sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass der Beschwerdeführer 2 keinen Schadenersatz zu leisten hat. 
3. Eventualiter sei der Entscheid vom 17. Mai 2022 des Verwaltungsgerichts Schwyz aufzuheben und die Sache sei zur Erstellung einer neuen Abrechnung und Neubeurteilung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. 
4. Subeventualiter sei der [Entscheid] vom 17. Mai 2022 des Verwaltungsgerichts Schwyz aufzuheben und der Schadenersatzbetrag herabzusetzen. 
[...] 
Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu gewähren." 
Die Beschwerdegegnerin beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Voraussetzungen der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten sind gegeben (Art. 82 lit. a, Art. 83 e contrario, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2, Art. 89 Abs. 1, Art. 90 und Art. 100 Abs. 1 BGG), insbesondere übersteigt der Streitwert die massgebliche Grenze von Fr. 30'000.- (Art. 85 Abs. 1 lit. a BGG; vgl. BGE 137 V 51 E. 4.3). Auf die Beschwerde ist somit einzutreten.  
 
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E. 1.2 mit Hinweisen; BGE 130 III 136 E. 1.4). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen). 
 
2.  
Strittig und zu prüfen ist, ob Bundesrecht verletzt wurde, indem die Vorinstanz die Beschwerdeführer als Solidarhafter dazu verpflichtet hat, der Beschwerdegegnerin Schadenersatz in der Höhe von Fr. 732'096.25 für in den Jahren 2015 und 2016 entgangene Beiträge zu leisten. 
 
3.  
 
3.1. Das kantonale Gericht hat hinsichtlich des Beitragsausstandes für das Jahr 2015 erwogen, es bestehe kein Anlass, an der Richtigkeit der Rechnung vom 10. Februar 2020, womit das Zustandekommen des Betrags von Fr. 338'031.20 aufgezeigt werde, zu zweifeln. Die Beschwerdeführer wiesen nur auf die Diskrepanz zum Kontoauszug vom 9. Dezember 2016 hin, bestritten den Betrag von Fr. 338'031.20 jedoch nicht substanziiert. Für das Jahr 2015 sei somit von einem Schaden von Fr. 338'031.20 auszugehen (vorinstanzliche Erwägung 4.4 S. 20).  
 
3.2. Die Beschwerdeführer rügen zu Recht Willkür im Zusammenhang mit der vorinstanzlichen Würdigung, wonach sie die Rechnung vom 10. Februar 2020 nicht substanziiert bestritten hätten. So hatten sie im Rahmen des kantonalen Beschwerdeverfahrens insbesondere geltend gemacht, dass die Abrechnung in keiner Weise nachvollziehbar sei. Diese stütze sich auf handschriftliche Berechnungen, Bemerkungen und Korrekturen, welche nicht nachvollzogen werden könnten. Dabei verwiesen die Beschwerdeführer ausdrücklich auf konkrete Stellen, die ihrer Ansicht nach nicht erklärt werden können (""Bereits in Rg. Gestellt" für Valuta vom 03.03.2016"; "Handschriftliches Durchstreichen von Beträgen zwischen dem 13.01.2017 und 26.03.2018"; Beschwerdeschriften vom 9. September 2021 Rz. 20 f. respektive Rz. 22 f. S. 6). Die Rechnungsposten betrafen unter anderem auch das Jahr 2015 und damit den gemäss Vorinstanz auf der Rechnung beruhenden Betrag von Fr. 338'031.20.  
 
3.3. Folge der willkürlichen Würdigung des kantonalen Gerichts ist die Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) der Beschwerdeführer, indem sich die Vorinstanz nicht mit deren Rügen auseinandergesetzt hat. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör als persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht verlangt namentlich, dass die Behörde die Vorbringen der vom Entscheid in ihrer Rechtsstellung betroffenen Person auch tatsächlich hört, sorgfältig und ernsthaft prüft und - soweit entscheidrelevant - in der Entscheidfindung berücksichtigt (BGE 135 III 670 E. 3.3.1; 129 I 232 E. 3.2; Urteil 2C_608/2021 vom 11. Mai 2022 E. 4.2.2 mit Hinweisen). Die Behörde hat die Pflicht, die Argumente und Verfahrensanträge der Partei entgegenzunehmen und zu beurteilen (BGE 124 I 241 E. 2 mit Hinweisen; Urteil 9C_78/2021 vom 26. März 2021 E. 2.1 mit Hinweisen).  
Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung der angefochtenen Verfügung. Es kommt mit anderen Worten nicht darauf an, ob die Anhörung im konkreten Fall für den Ausgang der materiellen Streitentscheidung von Bedeutung ist, d.h. die Behörde zu einer Änderung ihres Entscheids veranlasst wird oder nicht (BGE 126 V 130 E. 2b mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung kann eine nicht besonders schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs ausnahmsweise als geheilt gelten, wenn die betroffene Person die Möglichkeit erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern, die sowohl den Sachverhalt wie die Rechtslage frei überprüfen kann. Unter dieser Voraussetzung ist darüber hinaus - im Sinne einer Heilung des Mangels - selbst bei einer schwerwiegenden Verletzung des Gehörs von einer Rückweisung der Sache an die Verwaltung abzusehen, wenn und soweit die Rückweisung zu einem formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen Verzögerungen führen würde, die mit dem (der Anhörung gleichgestellten) Interesse der betroffenen Partei an einer beförderlichen Beurteilung der Sache nicht zu vereinbaren wären (BGE 137 I 195 E. 2.3.2; 136 V 117 E. 4.2.2.2; 132 V 387 E. 5.1; je mit Hinweisen; Urteil 9C_555/2020 vom 3. März 2021 E. 4.4.1 mit Hinweisen). Da Tat- und Rechtsfragen in den Verfahren betreffend AHVG letztinstanzlich nurmehr eingeschränkt überprüft werden (vgl. E. 1.2 hiervor), entfällt eine Heilung auf dieser Stufe rechtsprechungsgemäss, unbesehen davon, ob es sich um eine schwerwiegende oder nicht besonders schwerwiegende Verletzung handelt. 
 
3.4. Aufgrund des Dargelegten ist die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen. Dieses hat sich detailliert mit den gegen die Abrechnung vom 10. Februar 2020 (und damit unter anderem gegen den Beitragsausstand von Fr. 338'031.20 für das Jahr 2015) vorgebrachten Rügen zu befassen. Im Rahmen der Rückweisung wird es sich sodann auch vertieft mit den weiteren (insbesondere das Jahr 2016 betreffenden) Einwendungen auseinanderzusetzen haben. Hiernach wird es neu über einen allfälligen Schadenersatzanspruch gegenüber den Beschwerdeführern hinsichtlich der Jahre 2015 und 2016 zu entscheiden haben.  
 
4.  
 
4.1. Mit diesem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos.  
 
4.2. Hinsichtlich der Prozesskosten gilt die Rückweisung der Sache zu neuem Entscheid praxisgemäss als volles Obsiegen, unabhängig davon, ob sie beantragt und ob das entsprechende Begehren im Haupt- oder im Eventualantrag gestellt wird (BGE 141 V 281 E. 11.1; Urteil 9C_37/2022 vom 11. August 2022 E. 6.1). Dementsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführer haben Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz vom 17. Mai 2022 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 12'000.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich sowie D.________, unbekannter Wohnort, durch Publikation des Dispositivs im Bundesblatt mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 8. März 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Nünlist