9C_526/2021 03.10.2022
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_526/2021  
 
 
Urteil vom 3. Oktober 2022  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin N. Möckli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
handelnd durch seine Mutter B.________, 
und diese vertreten durch Protekta Rechtsschutz-Versicherung AG, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (medizinische Massnahmen), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 30. August 2021 (200 21 148 IV). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 2006 geborene A.________ meldete sich im August 2020 bei der Invalidenversicherung zum Bezug von medizinischen Massnahmen mit Hinweis auf ein Geburtsgebrechen (Ziffer 163 des Anhangs zur Verordnung vom 9. Dezember 1985 über die Geburtsgebrechen, GgV, SR 831.232.21; "Trichterbrust, sofern Operation notwendig ist") an. In der Folge tätigte die IV-Stelle Bern medizinische Abklärungen. Gestützt auf die Einschätzungen des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) stellte die Verwaltung dem Versicherten vorbescheidsweise die Abweisung der Kostengutsprache für medizinische Massnahmen in Aussicht, da der erforderliche Schweregrad nicht erfüllt und eine Operation nicht notwendig sei. Daran hielt die IV-Stelle nach erneuter Rücksprache mit dem RAD mit Verfügung vom 19. Januar 2021 fest. 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern ab (Urteil vom 30. August 2021). 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils sei die IV-Stelle zur Kostenübernahme für die medizinischen Massnahmen zur Behandlung der Trichterbrust zu verpflichten. Eventualiter sei die Sache für die Vornahme weiterer medizinischer Abklärungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde, derweil das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie feststellte, die Trichterbrust des Beschwerdeführers bedürfe keiner Operation und einen Anspruch auf medizinische Massnahmen durch die Invalidenversicherung verneinte.  
 
2.2. Das kantonale Gericht, auf dessen Erwägungen verwiesen wird, hat die massgeblichen rechtlichen Grundlagen zutreffend wiedergegeben. Es betrifft dies insbesondere die Bestimmungen und Grundsätze zum Anspruch auf medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen (Art. 3 Abs. 2 ATSG, Art. 12 f. IVG; Art. 2 GgV), zur Rechtsprechung hinsichtlich der Operationsnotwendigkeit (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 693/02 vom 10. Februar 2003 E. 3.1; BGE 142 V 58 E. 3.2 f.) und zum Beweiswert medizinischer Berichte (BGE 143 V 124 E. 2.2.2; 134 V 231 E. 5.1; 124 V 351 E. 3a). Ebenfalls zutreffend sind die vorinstanzlichen Ausführungen zu den Voraussetzungen hinsichtlich des Beweiswerts von Aktengutachten, die auch für Berichte und Stellungnahmen der Regionalen Ärztlichen Dienste gelten (vgl. Urteil 9C_647/2020 vom 26. August 2021 E. 4.2 mit Hinweisen). Zu ergänzen ist, dass bei der Entscheidung eines Versicherungsfalls ohne Einholung eines externen Gutachtens bereits geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit an den versicherungsinternen ärztlichen Feststellungen genügen, damit ergänzende Abklärungen vorzunehmen sind (BGE 145 V 97 E. 8.5 mit Hinweisen).  
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz erwog, mit den RAD-Berichten lägen überzeugende und schlüssige fachärztliche Beurteilungen aus kinder- und jugendmedizinischer, orthopädisch-chirurgischer und internistischer Sicht vor, welche vollen Beweis erbringen würden. Die RAD-Ärzte hätten in den entsprechenden medizinischen Disziplinen einen Facharzttitel. Namentlich verfüge Dr. med. C.________ als Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates auch über die Befähigung für den fraglichen operativen Eingriff. Die Berichte der behandelnden Ärzte stellten den Beweiswert der RAD-Beurteilungen nicht in Frage.  
 
3.2. Der Beschwerdeführer bringt dagegen vor, die RAD-Ärzte verfügten nicht über die fachliche Kompetenz, die Operationsnotwendigkeit zu beurteilen. Die RAD-Ärzte beriefen sich auf veraltete Literatur und missinterpretierten die wissenschaftlichen Berichte. Der Beschwerdeführer verweist hinsichtlich der massgeblichen Kriterien für eine chirurgische Behandlung insbesondere auf die Einschätzung des Prof. Dr. med. D.________, Facharzt für Chirurgie und Thoraxchirurgie, Spital E.________, vom 1. Februar 2021, welche zeige, dass die Beschwerdegegnerin und die Vorinstanz die psychosozialen Aspekte vernachlässigt habe sowie fälschlicherweise von einer Trichterbrust ohne Störung der Herz- und Lungenfunktion und ohne Minderung der körperlichen Belastbarkeit ausgegangen sei. Zudem sei ausser Acht gelassen worden, dass eine Trichterbrust mit zunehmendem Alter in fast allen Fällen zu einer Befundzunahme führe, für die operative Korrektur aber nur ein kurzes Zeitfenster zur Verfügung stehe.  
 
3.3. Die Beschwerdegegnerin verweist in erster Linie auf die ihrer Meinung nach zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Urteil und ergänzend auf das Urteil 9C_16/2021 vom 15. März 2021, in dem sich das Bundesgericht ausführlich mit der Thematik der Trichterbrust auseinandergesetzt und die kantonalgerichtlichen Schlussfolgerungen aufgrund der vorgenommenen Abklärungen geschützt habe. Ferner stellt die Beschwerdegegnerin unter Beilage einer - nicht zulässigen (Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE 143 V 19 E. 1.2) - Stellungnahme des RAD vom 8. September 2022 in Abrede, dass es in fast allen Fällen zu einer Beschwerdezunahme mit zunehmendem Alter komme.  
 
4.  
 
4.1. Beim Beschwerdeführer besteht unbestrittenermassen eine ausgeprägte, zentrale Trichterbrust (Haller-Index 4.2). Wie sich aus den Berichten der behandelnden Ärzte ergibt, leidet der Beschwerdeführer unter dieser körperlichen Auffälligkeit.  
 
4.2. Die Vorinstanz hat die verschiedenen medizinischen Berichte der behandelnden Ärzte und des RAD im angefochtenen Urteil zusammengefasst wiedergegeben. Diese zeigen, dass hier eine Tangierung der Lungenfunktion und des Herzens aufgrund der Deformation durch die Trichterbrust im Fokus steht und zwischen den Einschätzungen der RAD-Ärzte und der behandelnden Medizinern Differenzen bestehen. Die RAD-Ärzte vertreten die Auffassung, dass keine massgebliche Herzkompression und Einschränkung der Lungenfunktion vorliegen und die belastungsabhängige Symptomatik unspezifisch sei. Demgegenüber gehen Prof. Dr. med. D.________ und Prof. Dr. med. F.________, Facharzt für Kardiologie und Allgemeine Innere Medizin, davon aus, dass relevante Befunde bestehen. Letzteres wird durch die Berichte über die Magnetresonanztomographie (MR Thorax nativ) vom 17. August 2020 und die transthorakale Echokardiographie vom 17. August 2020 insofern gestützt, als sich aspektmässig eine Trichterbrust-Deformität mit Kompression des rechten Herzens und ein Abfall des O2-Pulses sowie Plateau des VO2 unter Belastung als möglicher Hinweis auf eine Kompromittierung des rechten Ventrikels durch die Trichterbrust mit Reduktion des Schlagvolumens der rechten Herzkammer (RV) zeigten.  
Das kantonale Gericht misst den Einschätzungen des RAD Beweiswert zu und ist der Ansicht, die Berichte der behandelnden Ärzte würden die RAD-Beurteilungen nicht in Zweifel ziehen. Die Begründung hierzu vermag jedoch nicht zu überzeugen. Zunächst ist der Vorhalt der Vorinstanz, Prof. Dr. med. D.________ sei advokatisch aufgetreten und habe politisch argumentiert, nicht gerechtfertigt. Vielmehr steht auch einem behandelnden (Fach-) Arzt zu, seine fachärztliche Meinung kundzutun. Entsprechend verfängt die kantonalgerichtliche Erwägung nicht, der Einschätzung des Prof. Dr. med. D.________ sei von Vornherein ein reduzierter Beweiswert (bzw. eine reduzierte Aussagekraft) zuzurechnen. Die vorinstanzliche Entkräftung der Beurteilung der behandelnden Ärzte erschöpft sich zudem im Wesentlichen darin, dass die Vorinstanz aufgrund der Stellungnahmen des RAD eine verminderte Herz- und Lungenfunktion verneint. Sie kann jedoch den Widerspruch zwischen den verschiedenen medizinischen Meinungen nicht auflösen. Nachdem keiner der involvierten RAD-Ärzte auf kardiale Abklärungen spezialisiert ist und es nicht um die Beurteilung eines feststehenden medizinischen Sachverhalts geht, bleibt somit insbesondere unklar, ob eine Kompression des Herzens durch die Trichterbrust besteht und dies - allenfalls in Zusammenschau mit weiteren Faktoren wie der geklagten Symptomatik und einer Lungenfunktion, die gemäss Prof. Dr. med. D.________ an der Schwelle des Sollwertes sei (anders: Stellungnahme des Prof. Dr. med. G.________, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, RAD, vom 17. September 2020) - eine Indikation zur Operation beim Beschwerdeführer begründet. 
Entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin liegt hier somit eine andere Konstellation als im Urteil 9C_16/2021 vom 15. März 2021 (E. 3.2) vor, als dass nicht nur divergierende Einschätzungen, sondern aufgrund dessen auch Zweifel an den Beurteilungen des RAD bestehen. Zur Abklärung des massgebenden medizinischen Sachverhalts und der Frage, ob eine (somatische) Operationsindikation zur Behandlung einer Trichterbrust vorliegt, sind daher ergänzende gutachterliche Abklärungen erforderlich. In diesem Rahmen wird auch zu beurteilen sein, inwieweit die vom Beschwerdeführer bzw. von Prof. Dr. med. D.________ vorgebrachten psychosozialen Beeinträchtigungen, die jedenfalls nicht (allein) die Notwendigkeit einer Operation im Sinne von Ziff. 163 GgV zu begründen vermögen (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts I 693/02 vom 10. Februar 2003 E. 3.3), zu berücksichtigen sind. 
 
5.  
Nach dem Dargelegten ist die Angelegenheit zu weiterer Abklärung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. 
 
6.  
Die Rückweisung der Sache zu erneutem Entscheid gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten sowie der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG, unabhängig davon, ob sie beantragt und ob das entsprechende Begehren im Haupt- oder im Eventualantrag gestellt wird (BGE 141 V 281 E. 11.1 mit Hinweis). Entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG), die dem Beschwerdeführer überdies eine angemessene Parteientschädigung zu entrichten hat (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Die Sache wird zur Neuverlegung der Gerichtskosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern zurückgewiesen (Art. 68 Abs. 5 BGG). 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 30. August 2021 und die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 19. Januar 2021 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Gerichtskosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern zurückgewiesen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 3. Oktober 2022 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Möckli