9C_584/2023 25.04.2024
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_584/2023  
 
 
Urteil vom 25. April 2024  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, Beusch, 
Gerichtsschreiber Nabold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch B.________, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 22. Juni 2023 (IV.2021.00496). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1978 geborene A.________ bezieht seit 2012 eine ganze Rente der Invalidenversicherung und seit Januar 2018 eine Entschädigung für eine Hilflosigkeit leichten Grades. Nachdem sie um Ausrichtung eines Assistenzbeitrages und Erhöhung der Hilflosenentschädigung ersucht hatte, stellte ihr die IV-Stelle des Kantons Zürich mit Vorbescheid vom 9. November 2020 für die Zeit ab 1. Oktober 2020 die Zusprache eines Assistenzbeitrages in der Höhe von monatlich durchschnittlich Fr. 1'863.85 und die Ablehnung des Gesuchs um Erhöhung der Hilflosenentschädigung in Aussicht. Auf Einwand der Versicherten hin tätigte die IV-Stelle weitere Abklärungen; mit Verfügung vom 22. Juni 2021 sprach sie der Versicherten ab 1. Oktober 2020 eine Entschädigung für eine Hilflosenentschädigung mittleren Grades zu. Zudem sprach sie ihr mit Verfügung vom 23. Juni 2021 ab 1. Oktober 2020 einen an die Erhöhung der Hilflosenentschädigung angepassten Assistenzbeitrag in der Höhe von monatlich durchschnittlich Fr. 1'817.05 zu. 
 
B.  
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 22. Juni 2023 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, es sei die Sache unter Aufhebung des kantonalen Gerichtsurteils zu neuer Entscheidung über den Anspruch auf Assistenzbeiträge an die Beschwerdegegnerin, eventuell an das kantonale Gericht zurückzuweisen. Gleichzeitig stellt A.________ ein (sinngemässes) Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. 
In ihrem Schreiben vom 17. Oktober 2023 hält A.________ an ihren Anträgen fest. Eine weitere Eingabe erfolgte am 17. April 2024. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Rechtsuchende beantragt in ihrer Beschwerdeschrift lediglich, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Dieser rein kassatorische Antrag genügt grundsätzlich nicht (vgl. Urteil 9C_141/2021 vom 8. Juli 2021 E. 1 mit weiteren Hinweisen). Aus dem Gesamtzusammenhang der Beschwerdeschrift ergibt sich jedoch, dass die Beschwerdeführerin die Zusprache eines höheren Assistenzbeitrages verlangt; ein solches Begehren ist ohne Weiteres zulässig. Auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist demnach einzutreten. 
 
2.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
3.  
Streitig und zu prüfen ist zunächst, ob die Vorinstanz Recht im Sinne von Art. 95 BGG verletzte, als sie den Anspruch der Beschwerdeführerin auf einen höheren als den von der Beschwerdegegnerin zugestandenen Assistenzbeitrag verneinte. 
 
4.  
Soweit die Beschwerdeführerin vorbringt, die Vorinstanz habe die ihr obliegende Begründungspflicht verletzt, ist daran zu erinnern, das aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV die Verpflichtung der Behörde folgt, ihren Entscheid zu begründen. Dabei ist es nicht erforderlich, dass sie sich mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt. Vielmehr kann sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen Punkte beschränken. Die Begründung muss so abgefasst sein, dass sich der Betroffene über die Tragweite des Entscheids Rechenschaft geben und ihn in voller Kenntnis der Sache an die höhere Instanz weiterziehen kann. In diesem Sinne müssen wenigstens kurz die Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde hat leiten lassen und auf die sich ihr Entscheid stützt (BGE 136 I 184 E. 2.2.1, 136 I 229 E. 5.2). Die Vorinstanz hat in ihrem Entscheid die Überlegungen dargelegt, welche sie bewogen haben, die Beschwerde der Versicherten abzuweisen. Dass sie dabei die Auffassung der Beschwerdeführerin nicht teilt, stellt keine Verletzung der Begründungspflicht bzw. des rechtlichen Gehörs dar (Art. 29 Abs. 2 BV resp. Art. 61 lit. h ATSG); eine solche liegt nicht vor. 
 
5.  
 
5.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die hier angefochtene Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar.  
 
5.2. Anspruch auf einen Assistenzbeitrag haben gemäss Art. 42quater Abs. 1 IVG Versicherte denen eine Hilflosenentschädigung der IV nach Art. 42 Abs. 1-4 IVG ausgerichtet wird, die zu Hause leben und die volljährig sind. Grundlage für die Berechnung des Assistenzbeitrags ist nach Art. 42sexies Abs. 1 IVG die für die Hilfeleistungen benötigte Zeit. Davon abgezogen wird unter anderem die Zeit, welche der Hilflosenentschädigung entspricht (Art. 42sexies Abs. 1 lit. a IVG). In Anwendung von Art. 42sexies Abs. 4 lit. a IVG legt der Bundesrat die Bereiche und die minimale und maximale Anzahl Stunden, für die ein Assistenzbeitrag ausgerichtet wird, fest.  
 
5.3. Nach Art. 39c IVV kann in den folgenden Bereichen Hilfebedarf anerkannt werden:  
a. alltägliche Lebensverrichtungen; 
b. Haushaltsführung; 
c. gesellschaftliche Teilhabe und Freizeitgestaltung; 
d. Erziehung und Kinderbetreuung; 
e. Ausübung einer gemeinnützigen oder ehrenamtlichen Tätigkeit; 
f. berufliche Aus- und Weiterbildung; 
g. Ausübung einer Erwerbstätigkeit im ersten Arbeitsmarkt; 
h. Überwachung während des Tages; 
i. Nachtdienst. 
Dabei gelten nach Art. 39e IVV die folgenden monatlichen Höchstansätze: 
a. für Hilfeleistungen in den Bereichen nach Art. 39c lit. a-c IVV pro alltägliche Lebensverrichtung, die bei der Festsetzung der Hilflosenentschädigung festgehalten wurde: 
 
1. bei leichter Hilflosigkeit: 20 Stunden, 
2. bei mittlerer Hilflosigkeit: 30 Stunden, 
3. bei schwerer Hilflosigkeit: 40 Stunden; 
b. für Hilfeleistungen in den Bereichen nach Art. 39c lit. d-g IVV
insgesamt 60 Stunden; 
c. für die Überwachung nach Art. 39c lit. h: 120 Stunden. 
 
6.  
 
6.1. Im angefochtenen Urteil wird der Beschwerdeführerin ein Assistenzbeitrag in der Höhe von 54.73 Stunden pro Monat zugesprochen, wobei vom anerkannten Bedarf von 90.42 Stunden die durch die Hilflosenentschädigung mittleren Grades abgedeckten 35.69 Stunden abgezogen wurden. Der Gesamtbedarf von 90.42 Stunden setzt sich seinerseits zusammen aus dem tatsächlichen Bedarf für die Kinderbetreuung in der Höhe von 30.42 Stunden sowie aus dem jeweiligen maximal anrechenbaren Bedarf von je 30 Stunden für die alltäglichen Lebensverrichtungen "An-/Auskleiden" und "Körperpflege". Die Beschwerdeführerin macht im Wesentlichen geltend, daneben auch Hilfe in den Lebensverrichtungen "Aufstehen/Absitzen/Abliegen" und "Essen" zu benötigen.  
 
6.2. Die beiden von der Beschwerdeführerin zusätzlich geltend gemachten Lebensverrichtungen wurden im Rahmen der Zusprache der Hilflosenentschädigung geprüft und ein entsprechender Bedarf verneint. Auch wenn die Verfügung betreffend Hilflosenentschädigung unangefochten in Rechtskraft erwachsen ist, ist die Beschwerdeführerin befugt, im Rahmen des Assistenzbeitrages einen entsprechenden Bedarf geltend zu machen; dies gilt jedenfalls in Fällen wie dem vorliegenden, in denen die Anerkennung des Bedarfs in den geltend gemachten Lebensverrichtungen den Schweregrad der Hilflosigkeit nicht erhöht hätte (vgl. auch BGE 140 V 542 E. 3.4.4). Dies ändert aber nichts daran, dass ein Hilfebedarf im Sinne von Art. 39c lit. a IVV für den Assistenzbeitrag nur anerkannt werden kann, wenn er eine Intensität erreicht, welcher auch bei der Hilflosenentschädigung zur Anerkennung der entsprechenden Lebensverrichtung führen würde.  
 
6.3. Vorliegend steht fest und ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin in den beiden zusätzlich geltend gemachten Lebensverrichtungen "Aufstehen/Absitzen/Abliegen" und "Essen" funktionell selbstständig ist, sie jedoch geweckt sowie an die Essens- und Schlafenszeiten erinnert werden muss. Da somit ein im Wesentlichen unbestrittener Sachverhalt vorliegt, stellt es entgegen den Vorbringen der Beschwerdeführerin keine - jedenfalls keine unheilbare - Verletzung des rechtlichen Gehörs dar, dass die IV-Stelle vor Erlass der angefochtenen Verfügung die Aktennotizen zu den beiden Telefonaten (mit dem Sanatorium C.________ und mit Dr. med. D.________) der Beschwerdeführerin nicht zur Stellungnahme unterbreitet hat. Dies gilt umso mehr, als sich die IV-Stelle zu keinem Zeitpunkt auf den Inhalt dieser Aktennotizen berufen hat und auch die Beschwerdeführerin nicht darlegt, welche Folgerungen aus diesen für den rechtlich relevanten Sachverhalt abgeleitet werden könnten. Wie die Vorinstanz im Weiteren zutreffend erwogen hat, erreicht der Hilfebedarf der Beschwerdeführerin in den Lebensverrichtungen "Aufstehen/Absitzen/Abliegen" und "Essen" nicht jene Intensität, welche sie als in diesen Verrichtungen hilflos erscheinen lassen. Der Bedarf, der daraus resultiert, dass die Beschwerdeführerin an die Vornahme dieser Verrichtungen erinnert werden und dass deren Durchführung kontrolliert werden muss, wird bei der Hilflosenentschädigung unter dem Titel "lebenspraktische Begleitung" (Art. 42 Abs. 3 IVG; Art. 38 IVV) abgegolten (vgl. Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV). Ist die Beschwerdeführerin somit in den zusätzlich geltend gemachten Lebensverrichtungen nicht als hilflos zu betrachten, so verstösst es nicht gegen Bundesrecht, dass das kantonale Gericht diese Lebensverrichtungen nicht als die Höchstansätze im Sinne von Art. 39 e lit. a IVV erhöhend anerkannt hat.  
 
6.4. Zusammenfassend verletzte das kantonale Gericht kein Recht im Sinne von Art. 95 BGG, als es die Verfügung der IV-Stelle bezüglich der Höhe des Assistenzbeitrages bestätigte. Somit ist die Beschwerde im Hauptpunkt abzuweisen.  
 
 
7.  
Die Beschwerdeführerin macht in ihrem Eventualstandpunkt geltend, das kantonale Gericht hätte ihr trotz Unterliegens eine Parteientschädigung zusprechen müssen. 
 
7.1. Das Bundesgericht prüft frei, ob die vorinstanzliche Festsetzung der Parteientschädigung den in Art. 61 lit. g ATSG statuierten bundesrechtlichen Anforderungen genügt, darüber hinaus nur, ob die Anwendung des kantonalen Rechts zu einer in der Beschwerde substanziiert gerügten (Art. 106 Abs. 2 BGG) Verfassungsverletzung geführt hat (Urteil 8C_304/2018 vom 6. Juli 2018 E. 4.3).  
 
7.2. Gemäss Art. 61 lit. g ATSG hat die obsiegende beschwerdeführende Partei Anspruch auf Ersatz der Parteikosten. Nach der Rechtsprechung gilt es unter dem Gesichtspunkt des Anspruchs auf eine Parteientschädigung als Obsiegen, wenn die Rechtsstellung der Partei durch den Entscheid im Vergleich zu derjenigen im Administrativverfahren verbessert wird. Die Versicherte hat im vorinstanzlichen Verfahren unbestrittenermassen nicht obsiegt. Insoweit hat sie grundsätzlich keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung. Trotz Unterliegens in der Sache kann einer Partei im Rahmen von Art. 61 lit. g ATSG aber eine Parteientschädigung zugesprochen werden, soweit die Gegenpartei die Kosten verursacht hat (Urteil 8C_304/2018 vom 6. Juli 2018 E. 4.3.1 und E. 4.3.2 mit weiteren Hinweisen). Massgebend für die Kostenfolgen ist, dass der Partei nicht Kosten entstehen, die ihr ohne die Gehörsverletzung nicht entstanden wären (Urteil 9C_363/2009 vom 18. März 2010 E. 3.3 mit weiteren Hinweisen).  
Vorliegend legt die Beschwerdeführerin nicht substanziiert dar, inwiefern ihr durch die geltend gemachte Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die IV-Stelle (vgl. E. 6.3 hiervor) ein zusätzlicher Aufwand entstanden wäre, so dass die Beschwerde auch in diesem Punkt abzuweisen ist. 
 
8.  
Obwohl die Beschwerdeführerin dem Verfahrensausgang entsprechend grundsätzlich kostenpflichtig würde, rechtfertigt es sich vorliegend, auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten. Soweit das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege durch diesen Kostenentscheid nicht gegenstandslos geworden ist, ist es abzuweisen, da die Beschwerde im vornherein aussichtslos war. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen, soweit es nicht gegenstandslos geworden ist. 
 
3.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 25. April 2024 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Nabold