9C_161/2023 06.06.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_161/2023  
 
 
Urteil vom 6. Juni 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Beusch, Bundesrichterin Scherrer Reber, 
Gerichtsschreiber Seiler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
1. A.A.________, 
2. B.A.________, 
beide vertreten durch Rechtsanwalt Hans Feldmann, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Steuerverwaltung des Kantons Thurgau, Schlossmühlestrasse 9, 8510 Frauenfeld Kant. Verwaltung, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Staats- und Gemeindesteuern des Kantons Thurgau und direkte Bundessteuer, Steuerperiode 2017, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 14. Dezember 2022 (VG.2022.72/E). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.A.________ erwarb Ende November 2015 die Liegenschaft bzw. die Hausteile an der Strasse xx und yy in U.________ (ehemaliges Bauernhaus aus dem Jahr 1935), die er seit März 2016 mit seiner Ehefrau, B.A.________, bewohnt. Im Jahr 2016 begannen die Eheleute A.________, den Hausteil an der Strasse yy zu sanieren, wobei Liegenschaftsunterhaltskosten von Fr. 163'098.- von der Steuerbehörde als abzugsfähig anerkannt wurden. In der Steuerperiode 2017 wurden die Fassade und das Dachgeschoss beider Hausteile saniert. Auf dem Hilfsblatt "Angaben zu Unterhalts- und Betriebskosten für Liegenschaften" zur Steuererklärung 2017 deklarierten die Eheleute A.________ Unterhalts- und Betriebskosten in Höhe von total Fr. 288'699.-. Im Zusammenhang mit der Sanierung der beiden Hausteile wurden Gesamtkosten von Fr. 345'250.- angegeben; davon zogen die Eheleute A.________ einen Mehrwertanteil von Fr. 61'680.- ab und errechneten abzugsfähige Unterhaltskosten in Höhe von Fr. 283'570.-. 
 
B.  
Mit Veranlagungsentscheiden vom 28. September 2021 betreffend die direkte Bundessteuer und die Staats- und Gemeindesteuern 2017 liess die Steuerverwaltung des Kantons Thurgau für den Hausteil Strasse yy Unterhaltskosten in der Höhe von Fr. 50'455.- zum Abzug zu. Für den Hausteil Strasse xx wurden keine Unterhaltskosten zum Abzug zugelassen. Die dagegen erhobene Einsprache hiess die Steuerverwaltung mit Entscheid vom 24. November 2021 teilweise gut und liess Unterhaltskosten in der Höhe von insgesamt Fr. 60'455.- zum Abzug zu. Rechtsmittel hiergegen hiess die Steuerrekurskommission mit Entscheid vom 16. Mai 2022 insoweit gut, als die Steuerverwaltung in Bezug auf Unterhaltskosten im Umfang von Fr. 5'129.- nicht begründet hatte, weshalb der Abzug verweigert wurde. In diesem Umfang wies sie die Sache an die Steuerverwaltung zurück. Im Übrigen wies sie die Rechtsmittel ab. Eine Beschwerde hiergegen wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 14. Dezember 2022 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 20. Februar 2023 beantragen A.A.________ und B.A.________, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 14. Dezember 2022 aufzuheben sei und die in der Steuererklärung 2017 geltend gemachten Aufwendungen für die Instandstellung der Liegenschaften Strasse xx/yy, U.________, im Umfang von Fr. 283'570.- einkommenssteuerlich zum Abzug zuzulassen seien. 
Das Verwaltungsgericht beantragt die Abweisung der Beschwerde. Die Steuerverwaltung des Kantons Thurgau lässt sich nicht vernehmen. Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) beantragt mit Hinweis auf das Urteil 9C_677/2021 vom 23. Februar 2023, zur Publikation vorgesehen, die Gutheissung der Beschwerde. 
 
 
Erwägungen:  
 
I. Prozessuales  
 
1.  
Die Beschwerde wurde unter Einhaltung der gesetzlichen Frist (Art. 100 Abs. 1 BGG) eingereicht und richtet sich gegen einen Endentscheid einer letzten, oberen kantonalen Instanz in einer öffentlich-rechtlichen Angelegenheit (Art. 82 lit. a BGG, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 BGG). Die Beschwerdeführer sind als Steuerpflichtige gemäss Art. 89 Abs. 1 sowie Abs. 2 lit. d BGG in Verbindung mit Art. 73 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (StHG; SR 642.14) zur Beschwerde legitimiert. 
Die Vorinstanz hat ein einziges Urteil für die Staats- und Gemeindesteuern sowie für die direkte Bundessteuer erlassen, was zulässig ist, soweit die zu entscheidenden Rechtsfragen im Bundesrecht und im harmonisierten kantonalen Recht gleich geregelt sind (BGE 135 II 260 E. 1.3.1). Unter diesen Umständen ist den Beschwerdeführern nicht vorzuwerfen, nicht zwei getrennte Beschwerden eingereicht zu haben; aus ihrer Eingabe geht deutlich hervor, dass sie beide Steuerarten betrifft (BGE 135 II 260 E. 1.3.2; Urteil 2C_839/2021 vom 27. Januar 2022 E. 1.2). 
 
2.  
 
2.1. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Eine Berichtigung oder Ergänzung der vorinstanzlichen Feststellungen ist von Amtes wegen (Art. 105 Abs. 2 BGG) oder auf Rüge hin (Art. 97 Abs. 1 BGG) möglich. Von den tatsächlichen Grundlagen des vorinstanzlichen Urteils weicht das Bundesgericht jedoch nur ab, wenn diese offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen und die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang zudem entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG; BGE 142 I 135 E. 1.6). "Offensichtlich unrichtig" bedeutet "willkürlich" (BGE 140 III 115 E. 2). Eine entsprechende Rüge ist hinreichend zu substanziieren (Art. 106 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 147 I 73 E. 2.2).  
 
2.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es prüft die Anwendung des harmonisierten kantonalen Steuerrechts gleich wie Bundesrecht mit freier Kognition, jene des nicht-harmonisierten, autonomen kantonalen Rechts hingegen bloss auf Verletzung des Willkürverbots und anderer verfassungsmässiger Rechte (BGE 143 II 459 E. 2.1; 134 II 207 E. 2). Mit freier Kognition ist zu prüfen, ob das kantonale Recht mit dem Bundesrecht, namentlich dem StHG, vereinbar ist (Urteil 2C_1081/2015 vom 12. Dezember 2016 E. 1.4, nicht publ. in: BGE 143 II 33). In Bezug auf die Verletzung der verfassungsmässigen Rechte gilt nach Art. 106 Abs. 2 BGG eine qualifizierte Rüge- und Substanziierungspflicht (BGE 147 I 73 E. 2.1; 143 II 283 E. 1.2.2; 139 I 229 E. 2.2; 138 I 274 E. 1.6).  
 
II. Direkte Bundessteuer  
 
3.  
Die Vorinstanz hat den Abzug von Unterhaltskosten für den Hausteil Strasse xx vollständig verweigert. Sie war der Ansicht, dass insoweit von einem "wirtschaftlichen Neubau" auszugehen sei, weshalb die Aufwendungen integral als wertvermehrend zu charakterisieren seien und der Abzug bei der Einkommenssteuer gesamthaft zu verweigern sei. 
Die Beschwerdeführer kritisieren einerseits die Rechtsfigur des "wirtschaftlichen Neubaus", wobei sie auf eine entsprechende Literaturmeinung verweisen (KOCHER/ANZANTE, Von "Dumont" zum wirtschaftlichen Neubau, StR 75/2020 S. 710, S. 722). Weiter machen sie geltend, dass die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz von Anhaltspunkten für einen "wirtschaftlichen Neubau" offensichtlich unrichtig seien. 
 
4.  
Die Vorinstanz stützte sich in ihrer Begründung auf mehrere, unpublizierte Urteile des Bundesgerichts (vgl. angefochtenes Urteil E. 3.2.4 mit Hinweisen auf Urteile 2C_582/2021 vom 29. November 2021 E. 2.2; 2C_242/2020 vom 23. September 2020 E. 2.3; 2C_153/2014 vom 9. September 2014 E. 2.3 f., in: StE 2014 B 25.6 Nr. 63; StR 70/2015 S. 157). Die in diesen Urteilen vertretene Auffassung hat das Bundesgericht kürzlich in einem Leiturteil aufgegeben. Es hielt dafür, dass eine "wirtschaftliche" Gesamtbetrachtung eines Totalsanierungs-, Renovierungs- oder Umbauprojekts auf einer neu erworbenen Liegenschaft, aufgrund derer der einkommenssteuerliche Kostenabzug schematisch komplett und damit auch für Kostenbestandteile verweigert wird, die bei individueller Betrachtung aufgrund ihrer objektiv-technischen Natur eigentlich werterhaltender Natur wären, weder mit dem Wortlaut noch mit der Entstehungsgeschichte von Art. 32 Abs. 2 DBG vereinbar ist (Urteil 9C_677/2021 vom 23. Februar 2023 E. 4.5, zur Publikation vorgesehen; seither bereits bestätigt in Urteil 9C_724/2022 vom 29. März 2023 E. 4 und 5). Nach dem Willen des Gesetzgebers ist für alle Arbeiten an einer neu erworbenen Liegenschaft - wie bei allen anderen Liegenschaftskosten - individuell aufgrund ihres objektiv-technischen Charakters - und unter Mitwirkung der steuerpflichtigen Person (Art. 126 Abs. 1 und 2 DBG) - abzuklären, ob sie dazu dienen, einen früheren Zustand der Liegenschaft wiederherzustellen, mithin werterhaltend wirken. Kann dies nicht festgestellt werden, ist im Bereich der Einkommenssteuer gemäss der Normentheorie (Art. 8 ZGB analog) zulasten der steuerpflichtigen Person davon auszugehen, dass die Kosten nicht der Instandstellung dienen und folglich nicht abgezogen werden können (Urteil 9C_677/2021 vom 23. Februar 2023 E. 4.5, zur Publikation vorgesehen, mit Hinweis auf KOCHER/ANZANTE, a.a.O., S. 723). 
 
5.  
Das Vorbringen der Beschwerdeführer erweist sich vor dem Hintergrund dieser Praxisänderung als begründet (vgl. zur Anwendbarkeit von Praxisänderungen auf alle hängigen Fälle BGE 142 V 551 E. 4.1; 132 II 153 E. 5.1; 122 I 57 E. 3c/bb). Die Beschwerdeführer haben im kantonalen Verfahren detailliert aufgezeigt, welche Aufwendungen ihrer Ansicht nach werterhaltenden Charakter hätten. Die Vorinstanz hat die vorgenommenen Arbeiten zwar analysiert, sie aber letztlich doch nur im Rahmen einer Gesamtbetrachtung gewürdigt, um daraus den Schluss zu ziehen, es liege ein wirtschaftlicher Neubau vor, weswegen der Abzug vollständig zu verweigern sei (vgl. angefochtener Entscheid E. 3.3-3.4). Aufgrund dieser im Lichte von E. 4 nunmehr rechtsfehlerhaften Auffassung hat sie die Darstellung der Beschwerdeführer hinsichtlich des objektiv-technischen Charakters der individuellen Arbeiten nicht geprüft. Da es nicht am Bundesgericht ist, die Sachverhaltsdarstellung und Beweismittel der Beschwerdeführer wie eine erste Gerichtsinstanz zu würdigen, ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zu Sachverhaltsergänzung und Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 107 Abs. 2 BGG). 
 
III. Staats- und Gemeindesteuern  
 
6.  
Die kantonale Regelung über den Abzug von Unterhalts- und insbesondere Instandstellungskosten für neu erworbene Liegenschaften entspricht der Regelung auf Bundesebene und ist im Übrigen durch das Harmonisierungsrecht vorgegeben (vgl. § 34 Abs. 1 Ziff. 1 des Gesetzes des Kantons Thurgau vom 14. September 1992 über die Staats- und Gemeindesteuern [StG/TG; RB 640.1] und Art. 32 Abs. 2 DBG sowie Art. 9 Abs. 3 StHG). Es kann daher auf die vorstehenden Erwägungen zur direkten Bundessteuer verwiesen werden. Auch betreffend die Staats- und Gemeindesteuern ist die Sache folglich zur Sachverhaltsergänzung und Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
IV. Verfahrensausgang und Kosten  
 
7.  
Die Beschwerde erweist sich sowohl betreffend die direkte Bundessteuer als auch betreffend die Staats- und Gemeindesteuern als begründet. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache ist an die Vorinstanz zur Sachverhaltsergänzung und Neubeurteilung zurückzuweisen. Die Gerichtskosten sind dem Kanton Thurgau aufzuerlegen, da er Vermögensinteressen verfolgt (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Thurgau hat den Beschwerdeführern überdies eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 BGG). Dass die kantonale Steuerverwaltung sich im bundesgerichtlichen Verfahren nicht hat vernehmen lassen, ändert hieran nichts (vgl. BGE 143 II 425 E. 7). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird betreffend die direkte Bundessteuer gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 14. Dezember 2022 wird aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zur Sachverhaltsergänzung und Neubeurteilung zurückgewiesen. 
 
2.  
Die Beschwerde wird betreffend die Staats- und Gemeindesteuern gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 14. Dezember 2022 wird aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zur Sachverhaltsergänzung und Neubeurteilung zurückgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 5'000.- werden dem Kanton Thurgau auferlegt. 
 
4.  
Der Kanton Thurgau hat die Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 4'000.- zu entschädigen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und der Eidgenössischen Steuerverwaltung mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 6. Juni 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Seiler