1B_203/2023 08.06.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_203/2023  
 
 
Urteil vom 8. Juni 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Müller, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Merz, Kölz, 
Gerichtsschreiberin Kern. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Brunner, 
 
gegen  
 
1. B.________, 
Beschwerdegegnerin, 
vertreten durch Advokat Markus Trottmann, 
2. C.________, 
Beschwerdegegner, 
vertreten durch Advokatin Dr. Monika Guth, 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, 4051 Basel. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Aktenherausgabe an den Sachverständigen, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, vom 10. Februar 2023 (BES.2021.117 / BES.2022.84 / BES.2022.159). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt führt ein Strafverfahren gegen Dr. med. A.________ und andere Personen wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassung und anderen Delikten. Dem Strafverfahren liegt eine Strafanzeige der Eltern von D.________, B.________ und C.________, zugrunde. Konkret wird Dr. med. A.________ vorgeworfen, als Oberarzt während der Geburt von D.________ trotz Kenntnis der Risikoschwangerschaft und des pathologischen Zustands des ungeborenen Kindes nicht die Verlängerung des CTG (Herzton-Wehen-Messung), sondern lediglich eine Kontrollmessung in zwei Stunden und gestützt darauf nur einen dringenden anstelle eines notfallmässigen Kaiserschnitts angeordnet zu haben, wodurch er den Tod D.________s verursacht habe. 
 
B.  
Mit Aktengutachten vom 4. Mai 2016 bzw. Corrigendum vom 10. Juni 2016 gelangten zwei Sachverständige des Instituts für Rechtsmedizin Basel Stadt (hiernach: IRM) zum Schluss, den für die Geburt von D.________ zuständigen Medizinalpersonen lasse sich kein fehlerhaftes Verhalten vorwerfen. Die Privatklägerschaft machte geltend, dieses Gutachten sei fachlich unzulänglich und die Gutachterstelle nicht objektiv. Daraufhin vergab die Staatsanwaltschaft einer neuen Sachverständigen einen Auftrag zur rechtsmedizinischen Begutachtung. Das Appellationsgericht Basel-Stadt hob diesen jedoch in der Folge wieder auf und stellte fest, dass die Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit diesem Gutachtensauftrag eine Rechtsverweigerung begangen habe. 
Mit Verfügung vom 6. Juli 2021 stellte die Staatsanwaltschaft den Parteien schliesslich einen neuen Entwurf des Auftrags zur rechtsmedizinischen Begutachtung zu. Die Privatklägerschaft beantragte hierauf, das Gutachten des IRM vom 4. Mai 2016 bzw. das Corrigendum vom 10. Juni 2016 nicht an den neuen Sachverständigen herauszugeben. Die Staatsanwaltschaft hiess diesen Antrag mit Verfügung vom 21. September 2021 gut, wobei sie festhielt, dass dem neuen Sachverständigen unter anderem das sog. "Roundtable-Protokoll" vom 12. Februar 2014 übermittelt werden soll. 
Mittels drei Beschwerden an das Appelationsgericht (BES.2021.117; BES.2022.84; BES.2022.159) wehrte sich Dr. med. A.________ unter anderem dagegen, dass dem neuen Sachverständigen das "Roundtable-Protokoll" vom 12. Februar 2014 zur Verfügung gestellt wird. Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt wies die Beschwerden mit Entscheid vom 10. Februar 2023 ab, soweit es auf diese eintrat und sie nicht gegenstandslos geworden waren. 
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 18. April 2023 beantragt Dr. med. A.________ vor Bundesgericht, der Entscheid des Appellationsgerichts sei aufzuheben und die Staatsanwaltschaft sei anzuweisen, dem von ihr zu beauftragenden Sachverständigen das "Roundtable-Protokoll" vom 12. Februar 2014 nicht zu übermitteln. 
B.________ und die Vorinstanz haben auf eine Vernehmlassung verzichtet, letztere unter Verweis auf das angefochtene Urteil und mit Antrag auf Abweisung der Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft hat mit Eingabe vom 21. April 2023 darum ersucht, "das Beschwerdeverfahren zu sistieren und nach Rechtskraft der geplanten Einstellungsverfügung abzuschreiben". Aufgrund der Verjährung der Vorwürfe per 1. Februar 2024 und "noch gänzlich fehlendem, verwertbaren Gutachten, geschweige denn die darauf folgend u.U. erforderlichen Untersuchungen sowie dem Verfahrensabschluss" sei "eine rechtzeitige erstinstanzliche Verhandlung mit vorgängiger Instruktion und Terminfindung offensichtlich nicht mehr vor dem Eintritt der Verjährung möglich". Sollte das Bundesgericht "ungeachtet der geplanten Einstellung gleichwohl eine materielle Beurteilung vorzunehmen wünschen", werde darum ersucht, der Staatsanwaltschaft erneut eine Frist zur Vernehmlassung anzusetzen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Ein Verfahren vor Bundesgericht kann aus Gründen der Zweckmässigkeit ausgesetzt werden (Art. 6 Abs. 1 BZP in Verbindung mit Art. 71 BGG). Weshalb das vorliegende Beschwerdeverfahren sistiert werden müsste, tut die Staatsanwaltschaft nicht nachvollziehbar dar und ist auch nicht ersichtlich. 
 
2.  
 
2.1. Gegen den angefochtenen Entscheid steht gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG grundsätzlich die Beschwerde in Strafsachen offen, zumal das Appellationsgericht als letzte kantonale Instanz entschieden hat (Art. 80 BGG).  
 
2.2. Der Beschwerdeführer ist zudem als beschuldigte Person nach Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde befugt.  
 
2.3.  
 
2.3.1. Der angefochtene Entscheid schliesst die gegen den Beschwerdeführer laufende Strafuntersuchung nicht ab und betrifft weder die Zuständigkeit noch ein Ausstandsbegehren im Sinne von Art. 92 BGG. Demnach ist er gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG nur dann unmittelbar mit Beschwerde an das Bundesgericht anfechtbar, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann. Beim drohenden nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne dieser Bestimmung muss es sich um einen solchen rechtlicher Natur handeln. Nicht wieder gutzumachend bedeutet, dass er auch mit einem für die beschwerdeführende Person günstigen Endentscheid nicht oder nicht vollständig behoben werden kann. Ein lediglich tatsächlicher Nachteil wie die Verteuerung oder Verlängerung des Verfahrens genügt nicht (BGE 148 IV 155 E. 1.1; 144 IV 321 E. 2.3; je mit Hinweisen). Woraus sich der nicht wieder gutzumachende Nachteil ergeben soll, ist in der Beschwerdeschrift darzulegen, sofern dies nicht offensichtlich ist (BGE 141 IV 284 E. 2.3, 289 E. 1.3, je mit Hinweisen).  
 
2.3.2. Der Beschwerdeführer begründet den ihm drohenden nicht wieder gutzumachenden Nachteil mit der am 1. Februar 2024 eintretenden Verfolgungsverjährung. Er argumentiert, als praktizierender Gynäkologe habe er ein vitales Interesse an einer materiell begründeten Einstellungsverfügung oder an einem materiell begründeten Freispruch durch das Gericht. Eine Einstellungsverfügung zufolge Eintritts der Verfolgungsverjährung sei in rechtlicher Hinsicht nicht dasselbe wie die materiell begründete Feststellung seiner Unschuld. Als Arzt könne er selbst nach Eintritt der strafrechtlichen Verfolgungsverjährung noch disziplinarisch belangt werden; zudem könnte sein berufliches Fortkommen und seine Reputation als Arzt durch eine "Einstellung zweiter Klasse" beeinträchtigt werden.  
Werde auf die Beschwerde eingetreten und diese gutgeheissen - so der Beschwerdeführer - müsste die Staatsanwaltschaft unverzüglich und in rechtskonformer Weise einen Gutachtensauftrag erteilen. Die Chancen seien "sicher intakt", dass das Gutachten noch rechtzeitig erstellt werden und die Staatsanwaltschaft eine (materiell begründete) Einstellungsverfügung erlassen oder Anklage gegen ihn erheben könne. Falls jedoch auf die Beschwerde nicht eingetreten werde, bleibe es bei der "fehlerbehafteten Erteilung des Gutachtensauftrags". Dies könne zwar auch zum Erlass einer Einstellungsverfügung führen, im Falle einer Anklageerhebung käme es aber "mit jeglicher Wahrscheinlichkeit" nicht zu einem Sachurteil, sondern - wegen Mangelhaftigkeit des Gutachtens bzw. Gutachtensauftrags - zu weiteren prozessleitenden Schritten und damit zum Eintritt der Verfolgungsverjährung. 
 
2.3.3. Ob die Eintretensvoraussetzung von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bei dieser Sachlage bejaht werden kann, erscheint zweifelhaft, kann jedoch offenbleiben, da sich die Beschwerde ohnehin als unbegründet erweist.  
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz hat entschieden, dem neuen Sachverständigen sei das "Roundtable-Protokoll" auszuhändigen. Sie erwägt, nicht einmal der Beschwerdeführer selbst gehe von der Unverwertbarkeit dieses Protokolls aus. Es handle sich demnach nicht um ein Aktenstück, dem jeglicher Beweiswert abzusprechen wäre. Ihrer Auffassung nach wäre aber nur in diesem Fall auf eine Herausgabe an den Sachverständigen zu verzichten, um eine unzulässige Beeinflussung zu vermeiden. Wenn dagegen - wie im vorliegenden Fall - erst das Sachgericht über die definitive Verwertbarkeit eines bestimmten Aktenstücks zu befinden habe, sei dieses dem Sachverständigen zu übergeben. Das Sachgericht werde in der Folge zu entscheiden haben, ob auf das Gutachten abgestellt werden könne oder ob dieses zu korrigieren bzw. zu ergänzen sei.  
 
3.2. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1, Art. 184 und 185 StPO. Er macht geltend, e ntgegen der Auffassung der Vorinstanz seien dem neuen Sachverständigen nur diejenigen Akten zu übermitteln, die "einen rechtsgenüglichen Nachweis der Grundlagen erlauben, auf welche sich die gutachterlichen Feststellungen abzustützen haben". Da die Staatsanwaltschaft den massgebenden Sachverhalt nicht abgeklärt habe, würde die Herausgabe des "Roundtable-Protokolls " dazu führen, dass dieses zur massgebenden Grundlage des neuen Gutachtens würde. Das "Roundtable-Protokoll " sei jedoch von einem Mitbeschuldigten verfasst worden und habe keinerlei Beweiswert, da - wie der Beschwerdeführer bereits vor der Vorinstanz geltend machte - die darin kolportierten Aussagen nicht "justizförmig verwertbar" gemacht worden seien. Stütze sich das Gutachten nun (einzig) auf dieses von einem Mitbeschuldigten verfassten "Roundtable-Protokoll ", würden dadurch Prozess- und Parteirechte ausgehebelt, was das Fair-trial-Prinzip nach Art. 6 EMRK verbiete. Werde der Gutachtensauftrag in offenkundig rechtswidriger Weise gegeben und führe dies (wegen Unverwertbarkeit des Gutachtens) zu einem strafprozessualen Leerlauf, werde dadurch auch das Beschleunigungsgebot nach Art. 5 Abs. 1 StPO verletzt.  
 
3.3. Nach Art. 184 StPO ernennt die Verfahrensleitung die sachverständige Person (Abs. 1) und übergibt ihr zusammen mit dem Auftrag die zur Erstellung des Gutachtens notwendigen Akten und Gegenstände (Abs. 4). Der sachverständigen Person sind nicht die gesamten Verfahrensakten zu übergeben, sondern nur diejenigen, die für die Beantwortung der Gutachterfragen erforderlich sind (ANDREAS DONATSCH, in: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung StPO, 3. Aufl. 2020, N. 44 zu Art. 184 StPO; JOËLLE VUILLE, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 27 zu Art. 184 StPO; JEANNERET/KUHN, Précis de procédure pénale, 2. Aufl. 2018, N. 13008; SCHMID/JOSITSCH, Praxiskommentar StPO, 3. Aufl. 2018, N. 16 zu Art. 184 StPO; MOREILLON/PAREIN-REYMOND, Petit commentaire, Code de procédure pénale, 2. Aufl. 2016, N. 33 zu Art. 184 StPO; MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 30 zu Art. 184 StPO). Hält die sachverständige Person Ergänzungen der Akten für notwendig, so stellt sie der Verfahrensleitung einen entsprechenden Antrag (Art. 185 Abs. 3 StPO).  
Es obliegt somit der Verfahrensleitung, der sachverständigen Person die für die Erstellung des Gutachtens erforderlichen Unterlagen und Informationen zu übermitteln und die Verfahrensakten hierzu entsprechend zu triagieren. Sie verfügt dabei über einen grossen Ermessensspielraum (Urteil 1B_546/2020 vom 10. Dezember 2020 E. 3.1 und 3.2 mit Hinweisen). 
 
3.4. Die Vorinstanz verletzt kein Bundesrecht, indem sie der Argumentation des Beschwerdeführers nicht folgt: Die Staatsanwaltschaft kann zwar wie gesehen auch aus anderen Gründen als der Unverwertbarkeit eines Beweisstücks von dessen Übermittlung an die sachverständige Person absehen. Vorliegend legt der Beschwerdeführer aber nicht dar und es ist auch sonst nicht ersichtlich, dass die Staatsanwaltschaft ihr Ermessen über- bzw. unterschritten oder missbraucht hätte, indem sie entschied, dem neuen Sachverständigen das "Roundtable-Protokoll" zur Verfügung zu stellen. Inwieweit der neue Sachverständige bei seiner Begutachtung auf dieses Aktenstück abstellen wird, hängt im Übrigen auch von seiner Instruktion durch die Staatsanwaltschaft ab, worauf aber der Beschwerdeführer nicht weiter eingeht und dadurch seine Begründungsobliegenheit verfehlt (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG). Wie die Vorinstanz zutreffend festhält, wird die Würdigung des Gutachtens - einschliesslich der Auswahl der übermittelten Akten und der Instruktion des Sachverständigen durch die Staatsanwaltschaft - Aufgabe des Sachgerichts sein. Die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Rechtsverletzungen liegen nicht vor.  
 
4.  
Nach dem Vorangegangenen ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang des Verfahrens erübrigt es sich von vornherein, darüber zu entscheiden, ob der Staatsanwaltschaft, wie beantragt, erneut Frist zur Beantwortung der Beschwerde angesetzt werden könnte. Der Beschwerdeführer wird kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 8. Juni 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Müller 
 
Die Gerichtsschreiberin: Kern