5A_947/2023 09.01.2024
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
5A_947/2023  
 
 
Urteil vom 9. Januar 2024  
 
II. zivilrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Herrmann, Präsident, 
Bundesrichter Bovey, Hartmann, 
Gerichtsschreiber Möckli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
B.________, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Hinterlegung der Ausweispapiere; Pass- und Schriften- sowie Ausreisesperre, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern, 2. Abteilung, vom 7. November 2023 (3H 23 55). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Parteien sind die unverheirateten und getrennt lebenden Eltern von C.________ (geb. 2010), D.________ (geb. 2011) und E.________ (geb. 2013). Die Kinder stehen unter der alleinigen elterlichen Sorge der Mutter und es besteht je eine Erziehungs- und Besuchsrechtsbeistandschaft. Eine solche Massnahme besteht auch für den Halbbruder F.________. 
 
B.  
Nachdem die Mutter mit den Kindern 2021/2022 entgegen der von der Schule bewilligten Dispensation mehrere Monate später als erlaubt aus der Dominikanischen Republik zurückgekehrt war und sie ohne Abmeldung und Schuldispens von Oktober 2022 bis Ende April 2023 erneut mit den Kindern dorthin gereist war, wobei die Kinder dort weder beschult wurden noch einen strukturierten Alltag hatten, wies die KESB der Stadt Luzern die Mutter mit Entscheid vom 27. Juni 2023 gestützt auf Art. 307 Abs. 3 ZGB an, die Ausweispapiere von C.________, D.________ und E.________ auszuhändigen, und verfügte in Bezug auf die drei Kinder beim Passbüro eine Pass- und Schriftensperre sowie im Übrigen eine allgemeine Ausreisesperre, unter Beauftragung der Polizei, diese in den Fahndungssystemen RIPOL und SIS einzutragen. 
Obwohl die KESB einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung entzogen und das Kantonsgericht das Gesuch der Mutter um superprovisorische Genehmigung einer Ausreise nach Aegypten abgewiesen hatte, reiste die Mutter mit den Kindern nach Italien, wo sie von der Polizei aufgegriffen und in einem Heim untergebracht wurden. 
Mit Urteil vom 7. November 2023 modifizierte das Kantonsgericht Luzern die Anordnungen in teilweiser Gutheissung der Beschwerde dahingehend, dass es die Schriftensperre auf die Pässe beschränkte, der Mutter jedoch die Identitätskarten der Kinder überliess, und es bloss die Ausreise der Kinder aus dem Schengen-Raum untersagte. 
 
C.  
Mit Beschwerde vom 11. Dezember 2023 verlangt die Mutter die Aufhebung der Ausreise- sowie der Pass- und Schriftensperre. Mit Gesuch vom 29. Dezember 2023 verlangt sie ausserdem die unentgeltliche Rechtspflege. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Der von der Vorinstanz festgestellte Sachverhalt ist für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich (Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesbezüglich kann nur eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung gerügt werden, für welche das strenge Rügeprinzip gilt (Art. 97 Abs. 1 und Art. 106 Abs. 2 BGG), was bedeutet, dass das Bundesgericht nur klar und detailliert erhobene und belegte Verfassungsrügen prüft, während es auf ungenügend substanziierte Rügen und rein appellatorische Kritik am Sachverhalt nicht eintritt (BGE 142 III 364 E. 2.4; 149 III 81 E. 1.3). 
In rechtlicher Hinsicht hat die Beschwerde eine Begründung zu enthalten, in welcher in gedrängter Form dargelegt wird, inwiefern der angefochtene Entscheid Recht verletzt (Art. 42 Abs. 2 BGG), was eine sachbezogene Auseinandersetzung mit dessen Begründung erfordert (BGE 140 III 115 E. 2; 142 III 364 E. 2.4). 
 
2.  
Das Kantonsgericht hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, dass die Kinder anlässlich ihrer langen Auslandaufenthalte nie eine Schule besucht und auch kaum eine Tagesstruktur gehabt hätten. C.________ habe anlässlich ihrer Anhörung ausgesagt, sie habe in der Dominikanischen Republik kaum andere Kinder kennengelernt und sie habe dort kaum etwas Sinnvolles machen können. Sie sei viel mit dem Handy beschäftigt gewesen; früher sei sie eine Leseratte gewesen, aber dort hätten ihr kaum Bücher zur Verfügung gestanden. D.________ sagte bei der Anhörung aus, in der Dominikanischen Republik habe er Fussball gespielt und "Sachen gemacht". Sie hätten jeweils am Strand gegessen und manchmal sei er ins Fussball-Training oder sie seien auch einfach wieder nach Hause und hätten dort gespielt. In der Schweiz hätten die Kinder grosse schulische Lücken. Die Lehrerin von C.________ berichte, dass sie in den Fremdsprachen nur wenig verstehe und dem Unterricht nur schwer folgen könne; auch wenn auf Deutsch gewechselt werde, verstehe sie die Fragen oft nicht. Sie verfüge aber über ein hohes Allgemeinwissen und habe eine gute Lern- und Merkfähigkeit. Sie mache in fast allen Fächern einen demotivierten und überforderten Eindruck. Der Lehrer von D.________ berichte, dass die Situation ihn belaste und er lieber hier im Unterricht gewesen wäre. Dank schneller Auffassungsgabe sei es ihm gelungen, in den angegangenen Themen rasch wieder Fuss zu fassen. Es würden ihm aber in verschiedenen Fächern wesentliche Kompetenzen fehlen, namentlich in Deutsch und Französisch. Von E.________ werde berichtet, sie sei motiviert, brauche aber für das Nacharbeiten des verpassten Schulstoffes eine enge Begleitung. Die meisten 1x1-Aufgaben habe sie vergessen, auch die Rechtschreibregeln müsse sie wieder üben und im Englisch habe sie grosse Lücken. 
Davon ausgehend hat das Kantonsgericht befunden, allen drei Kindern habe es in den letzten Jahren an Stabilität gefehlt. Sie zeigten alle grosse schulische Defizite. C.________ wie auch E.________ zeigten in sozialer Hinsicht Schwierigkeiten, während D.________ gut integriert zu sein scheine. Auf der anderen Seite scheine er am meisten zwischen den zwei Welten hin- und hergerissen zu sein. Die Kinder hätten gemäss der Beiständin während des letzten Aufenthaltes immer wieder gefragt, wann sie in die Schweiz zurückreisen würden; die Mutter habe sie stets vertröstet und ihnen gegenüber kommuniziert, dass sie jeweils ein halbes Jahr in der Dominikanischen Republik und ein halbes Jahr in der Schweiz leben wolle. C.________ halte fest, dass es ihr in der Schweiz bedeutend besser gehe als in der Dominikanischen Republik und sie nicht mehr dorthin reisen wolle. Für D.________ gehe es jetzt darum, die Weichen Richtung Berufsausbildung zu stellen. Der Mutter fehle diesbezüglich jegliches Verständnis, sie wolle sich nichts vorschreiben lassen und sie nehme auch keine Rücksicht auf die Konsequenzen ihres Handelns (z.B. Unterbringung der Kinder in einem Heim für Minderjährige in Italien). Insgesamt liege für alle drei Kinder eine Kindeswohlgefährdung vor, der nur mit einer Ausreise- und Passsperre begegnet werden könne. Die Gefährdung sei so offensichtlich, dass es entgegen der Forderung der Mutter keiner weiteren Abklärungen bedürfe. Die Identitätskarten der Kinder seien der Mutter indes zu belassen, da nichts gegen Ferien innerhalb des Schengen-Raumes spreche. 
 
3.  
Die Beschwerde besteht zum grossen Teil aus eigenen Tatsachenbehauptungen, die im Widerspruch zu den Feststellungen des angefochtenen Entscheides stehen (in der Schule würden sich diverse Vorfälle ereignen, so sei ihrem Sohn ein Zahn ausgeschlagen worden; sie habe immer für ausreichende Beschulung der Kinder zuhause durch Homeschooling gesorgt; wenn im Ausland kein Homeschooling habe erfolgen können, sei dies allein darauf zurückzuführen, dass die KESB dies nicht akzeptiert habe; dass die Kinder kein Homeschooling erhalten hätten, entspreche bloss der Wahrnehmung ihrer Tochter und nicht der Realität; falls sie die Kinder nicht effektiv beschult hätte, müssten diese grössere Lücken aufweisen; die Noten seien nach wie vor durchschnittlich bis gut; die Kinder seien in der Dominikanischen Republik zur Schule gegangen und sie hätten dort viele Freunde und Patenonkel, es sei nicht bloss Urlaub; insbesondere die jüngeren Kinder würden sich dort zuhause fühlen und ihre Freunde vermissen; die Kinder hätten durch die Einschränkungen viel weniger Stabilität als früher). All diese Ausführungen bleiben appellatorisch; weder wird ein verfassungsmässiges Recht als verletzt angerufen noch macht die Beschwerdeführerin von der Sache her sinngemäss Verfassungsrügen geltend. Mithin können die Ausführungen zum Sachverhalt von vornherein nicht gehört werden (vgl. E. 1) und es hat bei den Feststellungen des angefochtenen Entscheides zu bleiben (Art. 105 Abs. 1 BGG). 
Ebenfalls die Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung betrifft das Vorbringen, die kantonalen Instanzen hätten die massiven Einschränkungen nicht ohne umfassende Abklärung durch eine Fachperson aus dem Bereich der Psychologie anordnen dürfen: Das Kantonsgericht hat in antizipierter Beweiswürdigung darauf verzichtet und die Beschwerdeführerin müsste deshalb unter Berufung auf Art. 9 BV in substanziierter Weise eine willkürliche (antizipierte) Beweiswürdigung dartun (BGE 138 III 374 E. 4.3.2; 146 III 73 E. 5.2.2). Die Ausführungen bleiben indes appellatorisch; es wird kein verfassungsmässiges Recht als verletzt angerufen. Ohnehin bliebe unerfindlich, was eine psychologische Abklärung an Erkenntnisgewinn bringen sollte, wenn die Kindeswohlgefährung durch die fehlende Beschulung und die fehlende Tagesstruktur bei den langen Aufenthalten in der Dominikanischen Republik bewirkt wird. 
 
4.  
Ausgehend von diesen Feststellungen legt die Beschwerdeführerin nicht dar, inwiefern das Kantonsgericht Recht verletzt, insbesondere Art. 307 Abs. 3 ZGB falsch angewandt haben soll. 
Primär beruft sie sich auf ihre persönliche Freiheit und macht eine Verletzung von Art. 10 BV geltend. Dabei übersieht sie, dass mit der elterlichen Verantwortung zwangsläufig eine Beschränkung eigener Grundrechte einhergeht und dass rechtsprechungsgemäss persönliche Bedürfnisse vor dem Kindeswohl zurückzutreten haben (BGE 131 III 209 E. 5; 142 III 612 E. 4.2). 
Soweit sie im Zusammenhang mit dem Besuchsrecht eine Verletzung von Art. 8 BV geltend macht, weil sich der Vater finanziell nicht am Kindesunterhalt beteilige, steht dies ausserhalb des möglichen Anfechtungsgegenstandes, der inhaltlich durch den angefochtenen Entscheid begrenzt wird (BGE 136 II 457 E. 4.2; 136 V 362 E. 3.4.2; 142 I 155 E. 4.4.2). 
Wenn sie geltend macht, das verfassungsmässig garantierte Recht auf Familie werde in Bezug auf ihren jüngsten Sohn F.________ (Halbbruder von C.________, D.________ und E.________) verletzt, wenn sie ihn nicht mehr in die Dominikanische Republik begleiten könne, weil er viel zu jung sei, um alleine zu reisen, so scheint es sich um ein neues und damit unzulässiges Vorbringen zu handeln (Art. 99 Abs. 1 BGG). Im angefochtenen Entscheid finden sich jedenfalls nirgends Feststellungen zu den familiären Beziehungen von F.________ in der Dominikanischen Republik und ob ein dortiger Vater ihn nicht auch in der Schweiz besuchen könnte. Ohnehin wäre aber das Vorbringen nicht geeignet, in Bezug auf die drei Kinder, um welche es vorliegend geht, eine Verletzung von Art. 307 Abs. 3 ZGB darzutun, indem nicht ihr Wohl die Leitmaxime hätte bilden dürfen, sondern stattdessen auf allfällige persönliche Bedürfnisse der Beschwerdeführerin oder des Halbbruders abzustellen gewesen wäre. 
An der Sache vorbei geht schliesslich, wenn die Beschwerdeführerin zum einen eine "Überbestrafung" wegen fehlender zeitlicher Beschränkung der Massnahme und zum anderen gewissermassen eine Verletzung des "Doppelbestrafungsverbotes" rügen will mit dem Vorbringen, wenn sie sich das Homeschooling nicht habe bewilligen lassen, so sehe das Gesetz hierfür eine Busse vor, die sie denn auch erhalten habe: Bei der in Bezug auf die Kinder verfügten Ausreise- und Passsperre geht es nicht um eine Strafe für die Beschwerdeführerin, sondern um eine Massnahme zum Schutz der Kinder, welche auf Art. 307 Abs. 3 ZGB und damit auf Zivilrecht basiert. 
 
5.  
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit auf sie eingetreten werden kann. Wie die vorstehenden Erwägungen zeigen, konnte ihr von Anfang an kein Erfolg beschieden sein, weshalb es an den materiellen Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege fehlt (Art. 64 Abs. 1 BGG) und das entsprechende Gesuch abzuweisen ist. Die Gerichtskosten sind der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie einzutreten ist. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Luzern, 2. Abteilung, mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 9. Januar 2024 
 
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Herrmann 
 
Der Gerichtsschreiber: Möckli