2D_13/2023 07.08.2023
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
2D_13/2023  
 
 
Verfügung vom 7. August 2023  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Aubry Girardin, Präsidentin, 
Gerichtsschreiberin Ivanov. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Gianni Rizzello und/oder Igor Kagan und/oder Sanjayan Saravanapavananthan, Rechtsanwälte, Klein Rechtsanwälte AG, 
 
gegen  
 
Amt für Migration des Kantons Luzern, 
Fruttstrasse 15, 6002 Luzern, 
Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Luzern, 
Bahnhofstrasse 15, 6003 Luzern. 
 
Gegenstand 
Ausreisefrist; superprovisorische Massnahmen, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Kantonsgerichts Luzern, 4. Abteilung, vom 27. Juni 2023 (7H 23 149). 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Mit Urteil vom 14. Oktober 2022 wies das Kantonsgericht Luzern eine Beschwerde von A.________ (geb. 1975), Staatsangehöriger von Belarus, seiner Ehefrau und der gemeinsamen Kinder betreffend die Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen wegen einem schwerwiegenden persönlichen Härtefalls (Art. 30 Abs. 1 lit. b AIG [SR. 142.20]) ab und wies A.________ an, die Schweiz nach Abschluss des gegen ihn laufenden Strafverfahrens in der Schweiz bzw. nach Beendigung einer allfällig zu verbüssenden Freiheitsstrafe zu verlassen. Auf eine dagegen erhobene subsidiäre Verfassungsbeschwerde trat das Bundesgericht mit Urteil 2D_32/2022 vom 25. November 2022 nicht ein.  
 
1.2. Nachdem A.________ aus dem Strafvollzug entlassen worden war, setzte ihm das Migrationsamt des Kantons Luzern mit Verfügung vom 5. April 2023 eine Frist bis spätestens 7. Juli 2023 an, um das Gebiet der Schweiz zu verlassen.  
Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Luzern mit Entscheid vom 13. Juni 2023 ab. Gegen diesen Entscheid erhob A.________ Beschwerde an das Kantonsgericht und stellte unter anderem einen Antrag auf Feststellung bzw. Wiedererteilung der aufschiebenden Wirkung, vorab superprovisorisch. 
Mit Schreiben des Einzelrichters vom 27. Juni 2023 wies das Kantonsgericht das Gesuch um (superprovisorische) Feststellung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ab. 
 
1.3. A.________ gelangte mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde vom 4. Juli 2023 an das Bundesgericht und beantragte, es sei der Entscheid vom 27. Juni 2023 aufzuheben und es sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen und diese zu verpflichten, Massnahmen zu treffen, um den Aufschub der Wegweisung bis zum Entscheid in der Hauptsache sicherzustellen. Prozessual beantragte er, es sei, vorab superprovisorisch, die Vollstreckung seiner Wegweisung aufzuschieben.  
Mit Verfügung vom 5. Juli 2023 hiess die Präsidentin der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts das Gesuch um Erlass vorsorglicher Massnahmen in dem Sinne gut, dass die Vollstreckung der Wegweisung während des bundesgerichtlichen Verfahrens zu unterbleiben habe. 
 
1.4. Innerhalb der angesetzten Vernehmlassungsfrist teilte der Einzelrichter am Kantonsgericht dem Bundesgericht mit, dass er seinen Entscheid vom 27. Juni 2023 in Wiedererwägung gezogen und die aufschiebende Wirkung der vor dem Kantonsgericht hängigen Beschwerde wiederhergestellt habe. Die entsprechende Verfügung vom 20. Juli 2023 wurde diesem Schreiben beigelegt. Zudem ersuchte der Einzelrichter um Abschreibung des bundesgerichtlichen Verfahrens wegen Gegenstandslosigkeit.  
Mit Schreiben vom 21. Juli 2023 setzte das Bundesgericht dem Beschwerdeführer eine am 31. Juli 2023 ablaufende Frist an, um eine allfällige Stellungnahme zur Gegenstandslosigkeit der Beschwerde einzureichen. 
In der Folge reichte der Beschwerdeführer am 31. Juli 2023 eine Eingabe ein, in welcher er im Wesentlichen vorbringt, dass er Zweifel daran habe, ob das bundesgerichtliche Verfahren wegen Gegenstandslosigkeit abzuschreiben sei. 
 
2.  
Nach Art. 89 Abs. 1 lit. c BGG ist zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nur legitimiert, wer ein schutzwürdiges Interesse an der Beurteilung seiner Eingabe hat. Dieses muss nicht nur bei der Beschwerdeeinreichung, sondern auch noch im Zeitpunkt der Urteilsfällung aktuell und praktisch sein. Fällt das schutzwürdige Interesse im Laufe des Verfahrens dahin, wird die Sache als erledigt erklärt; fehlte es schon bei der Beschwerdeeinreichung, ist auf die Eingabe nicht einzutreten (BGE 142 I 135 E. 1.3.1; 139 I 206 E. 1.1; 137 I 23 E. 1.3.1). 
 
3.  
Die vorliegende Beschwerde richtet sich gegen den Entscheid des Einzelrichters vom 27. Juni 2023, mit welchem das Gesuch des Beschwerdeführers um (superprovisorische) Feststellung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abgewiesen wurde. Mit der Verfügung vom 20. Juli 2023 wurde dem Anliegen des Beschwerdeführers, den Ausgang des vorinstanzlichen Hauptverfahrens in der Schweiz abwarten zu dürfen, vollumfänglich entsprochen. 
 
3.1. Der Beschwerdeführer widersetzt sich nicht grundsätzlich der Abschreibung des Verfahrens zufolge Gegenstandslosigkeit; er äussert jedoch Zweifel daran, ob die vorinstanzliche Verfügung vom 20. Juli 2023 das bundesgerichtliche Verfahren tatsächlich gegenstandslos mache. Zur Begründung bringt er einerseits vor, ihm sei beim Verfassen der prozessualen Anträge im Rahmen seiner Beschwerde an die Vorinstanz ein logischer Fehler unterlaufen, indem er die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung beantragt habe, anstatt im Sinne einer vorsorglichen Massnahme um Aufschub der Vollstreckung der Wegweisungsverfügung zu ersuchen. Der Vorinstanz sei derselbe logische Fehler passiert, indem sie in ihrer Verfügung vom 20. Juli 2023 der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt habe. Daher sei gestützt auf eine grammatikalische Auslegung des Dispositivs der Verfügung unklar, ob die Vollstreckung der gegen ihn erlassenen Wegweisungsverfügung gehemmt sei. Andererseits befürchtet der Beschwerdeführer, dass sich die Verfügung des Kantonsgerichts vom 20. Juli 2023 aufgrund des Devolutiveffekts der subsidiären Verfassungsbeschwerde als nichtig erweisen könnte.  
 
3.2. Inhalt und Tragweite einer Verfügung ergeben sich in erster Linie aus dem Dispositiv. Ist das Verfügungsdispositiv unklar, unvollständig, zweideutig oder widersprüchlich, so muss die Unsicherheit durch Auslegung behoben werden. Zu diesem Zweck kann auf die Begründung der Verfügung zurückgegriffen werden (BGE 141 V 255 E. 1.2; 132 V 74 E. 2; Urteile 2C_70/2021 vom 14. April 2021 E. 5.1; 8C_652/2016 vom 21. Februar 2017 E. 4.3).  
Vorliegend ergibt sich aus der Verfügung vom 20. Juli 2023, die im Übrigen kein eigentliches Dispositiv enthält, unmissverständlich, dass das Kantonsgericht aufgrund eines möglichen Verstosses gegen das Non-Refoulement-Prinzip das Interesse des Beschwerdeführers, die Behandlung seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde in der Schweiz abzuwarten, nunmehr höher gewichtet hat als das (öffentliche) Interesse an der sofortigen Vollstreckbarkeit der Wegweisung. Dies kann nach Treu und Glauben nur in dem Sinne verstanden werden, dass das Kantonsgericht mit der Zuerkennung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung dem Beschwerdeführer gestatten wollte, den Ausgang des vorinstanzlichen Hauptverfahrens in der Schweiz abzuwarten. Folglich erweisen sich die Befürchtungen des Beschwerdeführers, dass er - trotz dieser Verfügung - während des Verfahrens vor dem Kantonsgericht ausgeschafft werden könnte, als unbegründet. Damit vermag er aus dem seiner Auffassung nach unklaren "Verfügungsdispositiv" kein aktuelles Rechtsschutzinteresse an der Behandlung der vorliegenden Beschwerde abzuleiten. 
 
3.3. Sodann trifft es zu, wie der Beschwerdeführer zu Recht ausführt, dass aufgrund des Devolutiveffekts die Herrschaft über den Streitgegenstand mit der Erhebung der Beschwerde auf die Rechtsmittelinstanz übergeht. Dies hat unter anderem zur Folge, dass allfällige während Hängigkeit des bundesgerichtlichen Verfahrens neu ergangene Verfügungen der Vorinstanzen im Umfang des Verfahrensgegenstands grundsätzlich nichtig sind (vgl. Urteile 9C_481/2021 vom 9. Januar 2023 E. 1.4; 9C_749/2020 vom 9. Januar 2023 E. 1.3), wobei darauf hinzuweisen ist, dass das Bundesgericht diese Praxis nicht konsequent befolgt (vgl. z.B. Urteil 9C_348/2022 vom 20. Juli 2022 E. 2, wo das Verfahren als gegenstandslos abgeschrieben wurde, nachdem die erste Instanz ihre Verfügung in Wiedererwägung gezogen hatte).  
Bei Entscheiden über vorsorgliche Massnahmen, so insbesondere über die aufschiebende Wirkung, gestaltet sich die Frage nach den Rechtswirkungen einer während des bundesgerichtlichen Verfahrens erlassenen Wiedererwägungsverfügung als schwierig, dies nicht zuletzt deshalb, weil die Beschwerde an das Bundesgericht grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung hat (Art. 103 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht hat bereits Verfahren, welche die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zum Gegenstand hatten, als gegenstandslos geworden abgeschrieben, nachdem die Vorinstanz während Hängigkeit des bundesgerichtlichen Verfahrens ihre Verfügung in Wiedererwägung gezogen und die aufschiebende Wirkung wiederhergestellt hatte (vgl. z.B. Urteil 2C_261/2010 vom 14. Juni 2010). 
 
3.4. Mit Bezug auf den konkreten Fall ist zudem festzuhalten, dass die im vorliegenden Verfahren angefochtene Verfügung vom 27. Juni 2023 ihrem Titel nach einen "Antrag auf superprovisorische Massnahmen" zum Gegenstand hatte. Auch der Beschwerdeführer nimmt gemäss seiner Beschwerdeschrift an, dass es sich bei dieser Verfügung um einen Entscheid über superprovisorische Massnahmen handle. Folglich ist davon auszugehen, dass Gegenstand des vorliegenden bundesgerichtlichen Verfahrens die Frage bildet, ob die Vorinstanz den Antrag des Beschwerdeführers auf Anordnung superprovisorischer Massnahmen bzw. auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung mit superprovisorischer Wirkung zu Recht abgewiesen habe.  
In der Verfügung vom 20. Juli 2023 wird zwar festgehalten, dass es um eine "Wiedererwägung" der Verfügung vom 27. Juni 2023 gehe; allerdings lässt sich der Begründung nicht eindeutig entnehmen, ob es sich tatsächlich um eine Wiedererwägung des Entscheids über superprovisorische Massnahmen oder vielmehr um die Endverfügung über die beantragten vorsorglichen Massnahmen handle. Für Letzteres spricht namentlich der Umstand, dass der Einzelrichter in seiner Vernehmlassung an das Bundesgericht festhält, er habe "die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde [...] verfügt". Dass es der Vorinstanz verweht sei, während des Beschwerdeverfahrens über die Anordnung superprovisorischer vorsorglicher Massnahmen einen Endentscheid über die beantragten Massnahmen zu treffen, ist aber nicht ohne Weiteres ersichtlich, zumal die Devolutivwirkung nur in Bezug auf den Gegenstand des angefochtenen Entscheids gilt (vgl. BGE 136 V 2 E. 2.5). 
 
3.5. Im Ergebnis ist angesichts der konkreten Umständen zumindest nicht offensichtlich, dass die Vorinstanz ihre Zuständigkeit überschritten hätte, indem sie - entgegen ihrer ersten Einschätzung - die aufschiebende Wirkung der bei ihr hängigen Beschwerde wiederhergestellt bzw. die vom Beschwerdeführer beantragten vorsorglichen Massnahmen gewährt hat. Dies genügt, um die Nichtigkeit der Verfügung vom 20. Juli 2023 zu verneinen. Diese Verfügung entfaltet somit Rechtswirkungen und ermöglicht es dem Beschwerdeführer, während der Dauer des Verfahrens vor dem Kantonsgericht in der Schweiz zu bleiben.  
 
3.6. Mit Blick auf die vorangegangenen Erwägungen ist das Interesse des Beschwerdeführers an der Behandlung seiner subsidiären Verfassungsbeschwerde während Hängigkeit des bundesgerichtlichen Verfahrens dahingefallen. Das Verfahren kann deshalb durch die instruierende Abteilungspräsidentin als gegenstandslos abgeschrieben werden (Art. 32 Abs. 1 und 2 BGG).  
 
4.  
Über die Kosten- und Entschädigungsfrage ist gestützt auf eine summarische Prüfung aufgrund der Sachlage vor Eintritt des Erledigungsgrunds (Art. 71 BGG i.V.m. Art. 72 BZP) zu entscheiden. Bei der Beurteilung der Kosten- und Entschädigungsfolgen ist somit in erster Linie auf den mutmasslichen Ausgang des Prozesses abzustellen, soweit sich dieser ohne Weiteres feststellen lässt. Andernfalls ist auf allgemein zivilprozessrechtliche Kriterien zurückzugreifen. Danach wird jene Partei kosten- und entschädigungspflichtig, welche das gegenstandslos gewordene Verfahren veranlasst hat oder in welcher die Gründe eingetreten sind, die dazu geführt haben, dass der Prozess gegenstandslos geworden ist (BGE 118 Ia 488 E. 4a; Verfügung 2C_778/2021 vom 17. Dezember 2021 E. 3.1 mit Hinweisen). 
Vorliegend lässt sich aufgrund der Aktenlage und der Eingaben der Parteien bereits nicht ohne Weiteres beurteilen, ob die subsidiäre Verfassungsbeschwerde überhaupt zulässig gewesen wäre. Hingegen steht fest, dass die Gründe für die Gegenstandslosigkeit des Verfahrens bei der Vorinstanz und nicht beim Beschwerdeführer eingetreten sind. 
Dem Kanton Luzern werden keine Kosten auferlegt (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer hat Anspruch auf eine angemessene Parteientschädigung für das bundesgerichtliche Verfahren, die dem Kanton Luzern auferlegt wird (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach verfügt die Präsidentin:  
 
1.  
Das Verfahren wird infolge Gegenstandslosigkeit abgeschrieben. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Luzern hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- zu bezahlen. 
 
4.  
Diese Verfügung wird den Verfahrensbeteiligten, dem Kantonsgericht Luzern, 4. Abteilung, und dem Staatssekretariat für Migration mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 7. August 2023 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: F. Aubry Girardin 
 
Die Gerichtsschreiberin: D. Ivanov